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Zwischen Fiktion und Realität
Ein literarisches Spiel mit Identitäten

Drei Hafenstädte, eine amouröse Dreiecksbeziehung und eine verhinderte Schriftstellerin: Das sind die Handlungselemente in Julia Decks Roman "Winterdreieck". Dabei geht es vor allem um die Suche einer jungen Frau nach einem neuen Leben und ihr verwirrendes Spiel mit Identitäten.

Von Cornelius Wüllenkemper | 01.08.2016
    Frau im Gegenlicht
    Die Figur der 'Mademoiselle' in "Winterdreieck" beschließt, aus ihrem Leben auszubrechen, sich neu zu erfinden und eine neue Identität anzunehmen. (picture alliance / dpa / Frank Leonhardt)
    "Mademoiselle" hat keine Lust mehr zu arbeiten. Es ist immer das Gleiche mit den Jobs: Ein paar Wochen lang gibt man sich Mühe, man ist freundlich zum Chef und versöhnlich mit den Kollegen. Und dann, früher oder später, setzt eine tödliche Routine ein. Ihren jüngsten Job als Verkäuferin in einer Ladenkette für Haushaltsgeräte im nordfranzösischen Le Havre beendet "Mademoiselle" ebenso spontan wie radikal:
    "Sie bewältigte erfolgreich die Probezeit, dann stellte sich die Frage nach dem Urlaub. [...] Als sie dem Abteilungsleiter ihre Pläne eröffnete, hatte Monsieur Baridou Nein gesagt. Nein, Mademoiselle, es ist ausgeschlossen, dass sie im Sommer Urlaub nehmen. Nun hatte Mademoiselle soeben einer beleibten Kundin, die nach einem Handrührgerät suchte, es aber am Ende doch nicht kaufte, ein solches vorgeführt. Sie hatte also dieses Gerät noch in der Hand und es sogleich drohend gegen den Abteilungsleiter erhoben. Sie hatte es auf die höchste Umdrehungszahl eingestellt und geschrien Sind Sie sicher, Monsieur Baridou? Sind Sie sicher, dass ich im Sommer nicht verreisen kann?"
    Zeit für eine Flucht ins Ungewisse
    "Mademoiselle" wird gekündigt, Geld hat sie auch keins mehr und bald droht sie aus ihrer Wohnung zu fliegen. Höchste Zeit für ein neues Leben, für eine Flucht ins Ungewisse:
    "Die Entscheidung meiner Hauptfigur, eine andere Identität anzunehmen, ist eine politische Entscheidung. Nachdem diese begabte junge Frau in einigen Jobs gearbeitet hat, wird ihr klar, dass sie keinerlei berufliche Zukunftsaussichten hat. Der wirtschaftliche Druck auf den Einzelnen und die Brutalität in der Arbeitswelt wachsen zusehends, und nicht jeder ist in der Lage, damit umzugehen. Meine 'Mademoiselle' beschließt also, aus diesem Leben auszubrechen, sich neu zu erfinden, von heute auf morgen eine neue Identität anzunehmen. Für sie ist das der einzige Weg zu einer einigermaßen zufriedenstellenden Existenz."
    "Mademoiselle" beschließt also, ab sofort Autorin zu sein, freilich ohne ein Wort geschrieben zu haben. Sie nimmt den Namen Bérénice Beaurivage an, einer Schriftstellerin aus einem Film von Eric Rohmer. Als frischgebackene Bérénice flaniert sie nun durch die Straßen von Le Havre, lässt sich versonnen am Hafen vorbei durch den Tag treiben. In einer Bar gabelt sie einen Schiffssteward auf, verbringt nach ein paar Drinks die Nacht mit ihm und erleichtert ihn dann um sein Geld.
    "Mich interessieren Figuren, die rebellieren"
    "Diese junge Frau trifft anfangs eine radikale Entscheidung, doch dann verheddert sie sich selbst in ihrem eigenen Spiel. Sie will ihr Leben radikal ändern, aber wird schon bald mit materiellen Zwängen konfrontiert. Also beginnt sie, hier und da etwas zu stehlen, verkauft ihren Körper und wird ein bisschen kriminell. Dabei stellt sie sich keinen Augenblick lang die Frage, ob sie moralisch handelt oder nicht. Und das finde ich eigentlich eher sympathisch. Mich interessieren Figuren, die rebellieren und Widerstand leisten."
    Je mehr sich die junge Frau in ihrer neuen Identität als Schriftstellerin "Bérénice Beaurivage" einrichtet, je schräger die kleinen Abenteuer in ihrer neuen Haut werden, um so mehr scheint sie den Kontakt zur Realität zu verlieren. Die Außenwelt erlebt sie zunehmend wie eine Kulisse, ihre Mitmenschen werden ihr zu Statisten.
    Scheinbar ziellos fährt Bérénice von Le Havre in die bretonische Hafenstadt Saint-Nazaire. Auch hier irrt sie zwischen gesichtslosen Betonbauten der Nachkriegsarchitektur umher, versucht anhand von objektiven Informationen über die Stadt und ihre Geschichte etwas Halt zu finden in ihrer neuen Rolle. Eher zufällig beginnt Bérénice schließlich eine Liebesaffäre mit einem Schiffsinspekteur, der sie zumindest fürs Erste aushält. Verschnaufpausen von ihrer Maskerade gönnt sie sich einzig im Hotel.
    Die Rolle wird zur Obsession
    "Am Morgen kommen einem die guten Ideen, da muss man Pläne machen. (Sie nimmt ein kleines Stück Brot aus dem Korb.) Damit man alles hinter sich lassen kann, ganz von vorne anfangen. (Streicht die Minibutter aus der goldschimmernden Verpackung darauf.) Das volle Programm eben mit ihrem neuen Namen. (Bestreicht das Brot mit einer Portion Marmelade.) In jeder Hinsicht zu der Frau werden, die man sich beim Klang der sechs Silben vorstellt."
    Die Rolle der Schriftstellerin "Bérénice Beaurivage" wird zur Obsession von "Mademoiselle". Julia Deck übersetzt dieses Spiel mit Identitäten mithilfe filmischer Mittel in die Literatur. Der Leser folgt dem Geschehen zunehmend wie durch die Linse einer Kamera:
    "Zwischen Kino und Literatur existiert eine natürliche Verwandtschaft. In beiden Fällen geht es um dieselben Fragen: Wann beginnt eine Szene? Wann hört sie auf? Wie werden die Szenen bei der Montage zusammengestellt? Filmische Einflüsse waren für mein Buch ebenso wichtig wie literarische, vor allem die Filme von Eric Rohmer. Seine Figuren wissen, dass sie spielen, dass sie auf einer Bühne stehen. Ich mag es, wenn man sich nicht voll und ganz von der Fiktion einlullen lässt. Immerhin geht es doch ums Spielen!"
    "Mein Roman funktioniert wie ein Puzzle"
    Und genau das tut Julia Deck mit ihren Figuren und natürlich auch mit dem Leser: Sie spielt mit Fiktion und Realität. Die Autorin, die eigentlich als Journalistin beim Branchenmagazin "Livres-Hebdo" arbeitet, arrangiert Versatzstücke objektiver Information über die Schauplätze ihrer Geschichte zu einem Mosaik radikal subjektiver Wahrnehmung. So wie Decks "Mademoiselle" mehr und mehr durch ihre Leben taumelt, irrt auch der Leser durch ein Labyrinth von Handlungselementen, verschiedenen Erzählperspektiven, Vor- und Rückblenden.
    Wer ist die geheimnisvolle Journalistin Blandine, die Bérénices erfundene Identität als Schriftstellerin zu enttarnen droht? Ist sie womöglich nur eine weitere Facette von Bérénices eigener, zerfallender Persönlichkeit? Nichts ist sicher in diesem kunstvoll komponierten Roman.
    "Mein Roman funktioniert wie ein Puzzle. Zwar ist jedes Kapitel in sich kohärent, die Figuren und Szenen haben ihren Platz. Aber in der Anordnung der fünf Kapitel treten immer wieder Ungereimtheiten auf. Es bleibt unklar, in welcher chronologischen Reihenfolge sie stehen. Am Ende des Buches sind mehrere Versionen der Geschichte denkbar. Ein Buch, das mir alles vorkaut, die Figuren, den Plot, den Sinn des Ganzen, gibt mir das Gefühl zu ersticken. Ich brauche Platz, um mit den Figuren und der Geschichte weiterzuleben, wenn ich das Buch zugeschlagen habe."
    "Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern."
    Nicht umsonst erscheinen Julia Decks Romane beim französischen Verlagshaus "Les Editions de Minuit", Heimat der großen Autoren des "nouveau roman" aus den 1950er-Jahren, die das Spiel mit der Narration in formalistische Höhen trieben. "Winterdreieck", der Titel von Decks Roman, bezeichnet nicht nur eine Konstellation von drei Sternen am Nordhimmel, sondern ist auch das Gravitationsfeld, in dem sich die Handlungselemente umeinander drehen: drei Hafenstädte, eine amouröse Dreiecksbeziehung und eine verhinderte Schriftstellerin, die wie schwerelos durch ihr eigenes Universum gleitet. Am Ende droht ihre Flucht in die Identität der Schriftstellerin Bérénice Beaurivage zu scheitern. Doch da hat "Mademoiselle" sich längst wieder neu erfunden:
    "Am Ende scheint es so, als wenn die junge Frau mit ihrem Ausbruchsversuch gescheitert ist. Oder ist sie ein Stück weiter gekommen in ihrer Suche nach einer neuen Identität? Das ist nicht so eindeutig zu sagen. So ist das Leben: Man will sich verändern, etwas Neues probieren, und scheitert in den meistens Fällen damit. Dann fängt man wieder von vorne an. Ganz im Sinne von Samuel Beckett: 'Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.'"

    Julia Deck: "Winterdreieck"
    Aus dem Französischen von Antje Peter,
    Wagenbach Verlag, Berlin.