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1968
Ingenieur-Schüler im Vorlesungsstreik

Vor 50 Jahren gingen nicht nur die Universitäts-Studenten auf die Straße: In Nordrhein-Westfalen demonstrierten auch Schüler der damaligen Ingenieurschulen für mehr Anerkennung - mit Erfolg. Inzwischen sind Fachhochschulen aus dem akademischen Bildungswesen nicht mehr wegzudenken.

Von Moritz Börner | 25.04.2018
    Ein Professor und seine Studenten bei einer Vorlesung an der FH RheinAhrCampus.
    Heute haben Fachhochschulen wie der RheinAhrCampus in Koblenz ein anderes Image als vor 50 Jahren. (imago)
    1968 in der Düsseldorfer Innenstadt: Ingenieurschüler demonstrieren auf der Königsallee, sie rollen ein ausgedientes altes Auto bis vor das Kultusministerium und zünden es an. Den Nordrhein-Westfälischen Kultusminister Fritz Holthoff schimpfen sie in ihren Sprechchören einen Holzkopf. Die Ingenieurschüler sind unzufrieden. Eben weil sie keine Studenten sind, sondern Schüler, erklärt einer der Organisatoren des Protests in einem Radiointerview:
    "Nach dem Schulverwaltungsgesetz werden wir als Schüler bezeichnet, dabei studieren an den Ingenieurschulen durchaus nur Erwachsene! Das Durchschnittsalter beträgt 23 Jahre, wir haben es mit Studenten zu tun, die freiwillig zur Ingenieurschule gekommen sind."
    Weniger Anerkennung, weniger Gehalt
    Der Status der Ingenieurschüler, die technische Ausbildungsgänge wie Bäckereiingenieur, Holztechnik oder Werkkunst absolvierten, war deutlich unter dem eines Universitätsstudenten. Ihre Gehälter lagen niedriger, ihre Abschlüsse wurden zudem in anderen Ländern der europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nicht anerkannt. Und das, obwohl sie für den Industriestandort Deutschland wichtige Schlüsselqualifikationen besaßen. Und so traten die Ingenieurschüler 1968 in den unbefristeten Vorlesungsstreik:
    "Wir fordern die Herausnahme der Ingenieurschulen aus dem Schulverwaltungsgesetz. Danach muss zweifellos ein neuer Status geschafft werden, ein eigener gesetzlicher Status der Ingenieurschulen, der in sich ein Modell der Freiheit ist. Wir haben hier im deutschen Bildungswesen die Akademie, diese Form der Schule würde sich anbieten."
    Die Ingenieurschüler hatten im Vergleich zu Universitätsstudenten den Ruf, brave Musterknaben zu sein. Doch mit ihrem breit angelegten Protest, der sich weit bis in das Jahr 1969 hinzog, forderten sie die Kultusminister der Bundesländer heraus, bis zu 65.000 Ingenieurschüler streikten, mit Erfolg. 1969 entstanden in Schleswig-Holstein die ersten Fachhochschulen, in Nordrhein-Westfalen wird ein Gesetz zur Gründung von 15 Fachhochschulen unter anderem in Düsseldorf, Köln und Bielefeld 1971 verabschiedet. Der damalige NRW-Wissenschaftsminister Johannes Rau:
    "Die Fachhochschulen sollen eine praxisbezogene Ausbildung sein, aber die soll nach dem Wortlaut des Gesetzes und nach unserer Intention auf wissenschaftlicher Grundlage geschehen."
    Fachhochschulen etablieren sich
    Die Fachhochschulen lösten die städtischen und staatlichen Fachschulen ab. Dazu zählten neben den Ingenieurschulen unter anderem auch Wirtschaftsfachschulen und Schulen für Sozialberufe. In Köln wurden elf dieser Schulen zu einer FH zusammengefasst. Eine chaotische Gründungsphase, die Hörsäle sind überfüllt, es gibt erneut Proteste.
    "Das sieht so aus, dass circa 17.000 Bewerber einer Aufnahmekapazität von 5.000 bis 6.000 gegenüber stehen. Das heißt, es wird nur ein Drittel aufgenommen werden, und dieses Drittel wird in die Schulen reingepropft, dass man jetzt nicht voraussehen kann, wie der Vorlesungsbestrieb am 1.10. anfangen sollen."
    Doch nach dem turbulenten Start konnte die FH sich als Hochschule etablieren, die ihre Studenten vor allem praxisorientiert ausbildet. Muriel Helbig ist Präsidentin der Fachhochschule Lübeck und bereitet die Feiern zum 50-jährigen Jubiläum im kommenden Jahr vor. Sie glaubt, dass die FHs in Zukunft noch eine weitaus größere Rolle spielen könnten als bisher. Insbesondere in Zeiten des Fachkräftemangels würde es Sinn machen, mehr Studenten an den Fachhochschulen auszubilden, sagt Muriel Helbig:
    "Da ist es meiner Meinung nach Zeit, sich zu überlegen, was für die Gesellschaft am hilfreichsten ist und sich zu überlegen, ob man die Fachhochschulen nicht zu der Regelhochschule in Deutschland macht, also dass man das Verhältnis von 1:2 Studierenden umdreht und die praxisnahe akademische Qualifizierung einfach noch mehr in die Breite trägt, als das derzeit der Fall ist."
    Zankapfel Promotionsrecht
    Ein ewiger Zankapfel zwischen Universitäten und FHs ist bis heute das Promotionsrecht. Bisher können Fachhochschulstudenten nur promovieren, wenn sie von einem Universitätsprofessor betreut werden. Muriel Helbig fordert, dass Fachhochschulen in Zukunft Promotionen auch selbstständig betreuen dürfen:
    "So wie das Promotionsrecht heute ausgestaltet ist, ist es nicht in Stein gemeißelt, und ich befürchte, dass wir das an Fachhochschulen genauso gut könnten und damit auch das Recht haben, an Fachhochschulen Promotionen durchzuführen."
    Wie auch immer es weiter geht, 50 Jahre nach Beginn des Vorlesungsstreiks der Ingenieurschüler steht fest: Die FH ist ein Erfolgsmodell, heute ist sie nicht mehr aus dem deutschen Bildungswesen wegzudenken.