Dienstag, 19. März 2024

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40 Jahre Mitbestimmungsgesetz
Die Schattenseiten der Mitbestimmung

Seit 40 Jahren dürfen Arbeitnehmer in Großkonzernen über die Unternehmensstrategie mitbestimmen. Der Sozialwissenschaftler Stefan Sell zieht eine gemischte Bilanz. Einerseits seien die Unternehmen dadurch tatsächlich demokratischer geworden, andererseits seien Arbeitnehmervertreter an der Konzernspitze anfälliger für Kungeleien, sagte Sell im Deutschlandfunk.

Stefan Sell im Gespräch mit Birgid Becker | 30.06.2016
    Demonstrationszug durch Hamburg mit Plakaten, auf dem vordersten steht "Für sichere Arbeitsplätze und Mitbestimmung - DGB"
    Mehr als 100.000 Menschen folgten am 6. November 1982 dem Aufruf des DGB zu einer Großdemonstration in Hamburg gegen Arbeitslosigkeit und Sozialabbau und für Mitbestimmung. (dpa / Klaus Rose)
    Birgid Becker: Heute Abend veranstaltet der Deutsche Gewerkschaftsbund eine Feierstunde, dabei Prominenz bis herauf zum Bundespräsidenten. Der Anlass: der 40. Geburtstag des Mitbestimmungsgesetzes. 14 Jahre lang hatte es zuvor erbitterte Kontroversen um dieses Gesetz gegeben, das regeln sollte, dass Arbeitgeber und Arbeitnehmer gemeinsam in Aufsichtsräten entscheiden, in Aufsichtsräten von Unternehmen mit mehr als 2000 Beschäftigten. Haben sich die Hoffnungen von damals erfüllt? Ist die Wirtschaft demokratischer geworden? Den Beitrag dazu mitgehört hat der Koblenzer Sozialwissenschaftler Stefan Sell. Guten Tag!
    Stefan Sell: Guten Tag, Frau Becker.
    Becker: 14 Jahre lang Kontroversen um dieses Gesetz, ein Spruch des Bundesverfassungsgerichts war nötig. Hat sich das gelohnt? Hat die Mitbestimmung in Aufsichtsräten bei nicht so ganz kleinen Kapitalgesellschaften erbracht, was sie sollte, mehr Demokratie in Unternehmen?
    Sell: Wie immer im Leben hat eine Medaille zwei Seiten und die positive ist tatsächlich, dass die Unternehmen, die unter diese Form der Mitbestimmung fallen - das sind ja die großen Unternehmen -, dass die tatsächlich demokratischer geworden sind, wenn man das daran misst, dass es Beteiligungsmöglichkeiten und auch Rechte gibt, die man in normalen Unternehmen nicht hat. Zum positiven Saldo muss man sicherlich auch zählen, dass sich diese spezifisch deutsche Form der Mitbestimmung durchaus gerade in Krisenzeiten bewährt hat. Denken wir an 2009 zurück bei der Finanz- und Wirtschaftskrise, wo doch durch die enge Verzahnung der Arbeitnehmerseite mit der Arbeitgeberseite durch den Einsatz zum Beispiel von Kurzarbeit doch große Beschäftigungsverluste verhindert werden konnten. Insofern muss man das sicherlich positiv werten. Aber es gibt auch eine negative Seite, denn man wird natürlich auch ein Stück weit inkorporiert als Arbeitnehmerseite in die Unternehmensinteressen, und je nachdem, wie weit dann die Arbeitnehmervertreter weg sind von der Basis, kann es natürlich auch dort zu entsprechenden Kungelstrukturen kommen.
    "Ein strukturelles Problem"
    Becker: Wann hört konstruktives Miteinander auf und die Kungelei fängt an? Der Aufsichtsrat von VW zum Beispiel steht ja nicht gerade an der Spitze der Dieselgate-Aufklärer.
    Sell: Ja, das wäre so ein Beispiel, und gar nicht mal als Vorwurf an einzelne Personen, sondern ich glaube, das ist ein strukturelles Problem. Denn die Arbeitnehmervertreter, die sind ja mittlerweile in diesen großen Unternehmen, wohl gemerkt, selber professionalisiert. Das heißt, die haben sich auch über Jahre abgelöst und sind in dieser Rolle gefangen. Und die Nähe in den Aufsichtsräten mit der Kapitalseite, natürlich auch das, was man dann durchsetzen kann durch die partnerschaftliche Ausrichtung, führt natürlich dazu, dass eine eher konfliktbeladene Strategie, die vielleicht manchmal notwendig wäre, von vornherein zum Scheitern verurteilt wird. Das ist ja auch in zynischer Weise etwas, was die Arbeitgeberseite zumindest offiziell nicht zugibt, dass sie davon sehr stark profitiert, dass diese Co-Management-Funktionen, die da ausgeübt werden von der Arbeitnehmerseite, auch dann eigentlich zu ihren Gunsten sind. Denn das zeigen die betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, dass diese mitbestimmten Unternehmen durchaus sehr gut abschneiden.
    Becker: Und trotzdem, wir haben das eben im Beitrag gehört: So wasserdicht ist das Mitbestimmungsgesetz ja nicht. Man kann es umgehen durch Gesellschaften nach europäischem Recht zum Beispiel und durch eine Reihe anderer Strategien. Wie löchrig ist denn dieser Käse?
    Sell: Der ist ziemlich löchrig geworden. Man muss ja auch darauf hinweisen: Das Gesetz ist '76 in Kraft getreten, als wir doch von dieser europäischen Heterogenität noch gar keine Vorstellung hatten, bezogen auf deutsche Unternehmen. Was wir wissen aus der Forschung ist, dass mittlerweile mehr als 800.000 Beschäftigte in Deutschland von Großkonzernen durch diese juristischen Tricks um ihre paritätische Mitbestimmung gebracht werden in Großkonzernen. Vor allem als Beispiel nehmen Sie mal im Einzelhandel, der ja auch immer heftig umstritten ist aufgrund der Arbeitsbedingungen. 400.000 Arbeitnehmerinnen vor allem, die ausgeschlossen werden durch das Stiftungsmodell im Einzelhandel, das ist natürlich ein großes Problem. Andere Umgehungsformen wurden bereits genannt, und das zeigt natürlich auch, dass der Zahn der Zeit an diesem Gesetz nagt. Und wenn man sich jetzt da nicht aufrafft, was zu ändern, dann wird die Abwanderung aus dieser Form der Mitbestimmung weiter Fahrt gewinnen.
    Becker: Danke! - Stefan Sell war das. Er lehrt Sozialwissenschaften am RheinAhrCampus in Koblenz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.