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Abschiebungen nach Afghanistan
"Es ist auch eine Art Suizidprogramm"

Der Anwalt Gunter Christ ist spezialisiert auf Verfahren afghanischer Asylbewerber - und erhebt schwere Vorwürfe gegen die Bundesregierung. Mit den Abschiebungen nach Afghanistan nehme die Suizid-Gefahr dramatisch zu. Christ beklagte, die deutsche Flüchtlingspolitik sei nicht humanitär - und sei es nie gewesen.

Von Martin Gerner | 22.02.2017
    Demonstranten halten am Flughafen in Frankfurt am Main Transparente, auf einem steht "Afghanistan is not safe", also "Afghanistan ist nicht sicher".
    Gegen die Abschiebungen nach Afghanistan gibt es immer wieder Protest, hier etwa am Flughafen Frankfurt. (AFP / Daniel Roland)
    "Wir sprechen nicht davon, dass ganz Afghanistan ein sicheres Land ist. Aber es gibt sichere Orte im Norden und auch in Kabul. Bundesinnenminister de Maizière bekräftigt, gegen alle Kritik, sein Votum. Gunter Christ hält dem entgegen:
    "Das sind politische Behauptungen. Man kann Herrn de Maizière natürlich nicht das Wort verbieten, er wird es weiter machen. Aber wir können natürlich gegenhalten und versuchen, die Fakten auf den Tisch legen."
    Christ ist Rechtsanwalt in Köln, spezialisiert auf Verfahren afghanischer Asylbewerber. Seit 30 Jahren vertritt er ihre Fälle. Rund 60 seiner Kollegen, so Christ, seien auf Verfahren für Afghanen spezialisiert. Zu wenige. Denn angesichts des aktuellen Drucks auf Ausreisepflichtige, sprich Geduldete, drohe eine neue Rekordzahl an Abschiebungen. Für seine Mandanten bedeute dies:
    "Ich denke, dass die Suizid-Gefahr dramatisch zugenommen hat. Es gibt immer mehr, die in die Kliniken eingewiesen werden. Insofern ist es auch ein Art Suizidprogramm. Andere bringen sich nicht um, aber drehen völlig durch. Und landen in der Psychiatrie."
    "Es findet dort eine große Brutalisierung statt"
    De Maizière nennt die Sicherheitslage in Afghanistan komplex. Eigenwillig ist seine Terrorfolgen-Definition: "Der Terrorismus der Taliban unterscheidet sich von dem, der jetzt in Europa viele Opfer hat dadurch, dass das Ziel in irgendeiner Weise staatliche Repräsentanten sind: Polizisten, Botschaften, westliche Hotels. Normale zivile Bevölkerung ist zwar Opfer, aber sie ist nicht Ziel der Anschläge von Taliban. Das ist ein großer Unterschied."
    Attentäter und Bomben explodieren in der Regel vor den Schutzmauern von Hotels und Behörden. Sie treffen regelmäßig das einfache Volk. Gunter Christ fürchtet, de Maizières Argumentation könne bald auch deutsche Gerichte erreichen:
    "Nach meiner Erfahrung findet dort eine große Brutalisierung statt. Und damit eine höhere Ablehnung. Ein beliebtes neues Argument ist: das kann keine Verfolgung sein, weil es Kriminalität sei. Also wenn Taliban jemand töten wollen, sagt man, dass ist Kriminalität und das ist kein Grund für eine Anerkennung als Flüchtling."
    Offen scheint auch, ob und welche Kriterien für die Abschiebungen es gibt. Einige Fälle verwundern jedenfalls.
    "Einer, der in Baden-Württemberg aus der Maschine rausgeholt worden ist, das war ein Konvertit, der also zum Christentum übergetreten ist, und damit selbst nach den Gesetzen Afghanistans der Todesstrafe unterlag."
    Unterstützung für Bundesregierung von der EU
    Rückenwind, so befürchtet der Kölner Anwalt, bekommt die Bundesregierung durch die neue Erklärung, die die EU mit der Kabuler Regierung unterzeichnet hat.
    "Es ist psychologisch relevant. Vor Gericht haben wir natürlich jetzt eine schlechtere Startposition. Wenn uns ein Richter fragt: 'Warum wollen denn alle einhellig abschieben? Was spricht denn dagegen?' Als wenn nur ein Land abschiebt und die anderen sagen nein, das ist zu gefährlich."
    Christ hofft daher, dass sich das Bundeserfassungsgericht demnächst einmischt: "Ob das Bundesverfassungsgericht diese ganz strengen Maßstäbe wieder runter bricht, das werden wir sehen. Das wird jetzt bald irgendwann entschieden werden müssen."
    Erleben wir also das Ende der Willkommenskultur? Gunter Christ meint, die hätte es ohnehin nie gegeben.

    "Ich sehe die deutsche Politik nicht als humanitär an. Frau Merkel hat ja nie wirklich gesagt, warum sie die Grenze geöffnet hat. Ich denke es war eine Art Kurzschluss- Reaktion. Wir haben ja wenige Tage nach der Grenzöffnung schon einen über 100-seitigen Entwurf von Herrn de Maizière als Bundesinnenminister gehabt, der sofort das Asylrecht wesentlich verschärfte. Und das wenige Tage nach der Grenzöffnung. Die können das gar nicht in der Zeit ausgearbeitet haben. Es lag schon vorher in den Schubladen und man hat nur auf eine Situation gewartet, um das Asylrecht hier dramatisch zu verschärfen."