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Antisemitismus-Film
"Er hat eine sehr klare propagandistische Linie"

Der von WDR und arte in Auftrag gegebene, aber nicht ausgestrahlte Antisemitismus-Film, zeige die Problematik des Nahost-Konflikts sehr einseitig, sagte die Journalistin Gemma Pörzgen im Dlf. Er lenke damit vom dem eigentlichen Thema ab, "mit dem wir uns auch vor allem in Europa beschäftigen sollten".

Gemma Pörzgen im Gespräch mit Peter Kapern | 15.06.2017
    Peter Kapern: Skandal – dieses Label war schnell zur Hand, als die Sache bekannt wurde. Da hatten der WDR und Arte eine Dokumentation in Auftrag gegeben, das Thema: der Antisemitismus in Europa. Ausgestrahlt wurde diese Dokumentation aber nie, so lange, bis die "BILD"-Zeitung den 90-minütigen Film jetzt online stellte. "Auserwählt und ausgegrenzt", so lautete der Titel des Films, der, so der Auftrag der Rundfunkanstalten an die beiden Dokumentarfilmer Joachim Schröder und Sophie Haffner, den Antisemitismus in Europa dokumentieren sollte.
    Arte-Programmdirektor Alain de Diberder verweist nun darauf, dass der Film, anders als abgesprochen, im Grunde vorrangig den Nahostkonflikt und den Antisemitismus im Nahen Osten darstellt. Also Thema verfehlt. Das Stück wird bei Arte nicht ausgestrahlt. Aber wie gesagt, im Internet kann man es sich anschauen, und das hat auch Gemma Pörzgen getan, freie Journalistin und früher Nahostkorrespondentin, unter anderem für die "Frankfurter Rundschau". Guten Morgen, Frau Pörzgen!
    Gemma Pörzgen: Schönen guten Morgen!
    Kapern: Was fällt einer erfahrenen Journalistin und früheren Nahostkorrespondentin ganz besonders an diesem Film auf?
    Pörzgen: Ich habe mir natürlich auch neugierig diesen Film angeguckt nach der ganzen Debatte und war dann doch sehr erschreckt, dass er noch viel schlechter ist, als ich es ursprünglich gedacht hatte. Er hat einfach eine sehr klare propagandistische Linie und zeigt aus meiner Sicht eben diese ganze Thematik sehr einseitig, indem er sehr gezielt bestimmte Gesprächspartner auswählt, andere weglässt und eben eine ganz klare Zielrichtung hat. Wenn man mit Kollegen spricht, die vor Ort ein bisschen mitbekommen haben, wie diese Dreharbeiten gelaufen sind, bestätigt sich dieser Eindruck. Da kamen Leute, die hatten ganz Festes vor, und das haben sie eben umgesetzt.
    Kapern: Was hatten sie denn vor?
    Pörzgen: Sie hatten meiner Ansicht nach vor, Dinge sehr stark zu vermischen. Der Auftrag war ja eigentlich gewesen, die Arte-Redaktion hatte ihnen aufgetragen, dass sie eben sich in Europa umsehen sollten in verschiedenen Ländern und der wichtigen Frage nachgehen, warum gibt es dort Antisemitismus, wie zeigt der sich? Und stattdessen sind sie eben mitten hinein in den Nahostkonflikt gefahren, irgendwie auch noch nach Gaza, wo natürlich der Hass hochkocht und wo man natürlich sich sehr leichttut als Journalist, Antisemitismus zu finden, weil er ist natürlich da, er ist Teil sozusagen auch des palästinensischen Narrativs in diesem sehr aufgeheizten Konflikt. Aber wenn man auf der israelischen Seite gefragt hätte, hätte man auch dort sehr viel Hass gegen Palästinenser geerntet. Und aus meiner Sicht lenkt das eben sehr ab von dem eigentlichen Thema, mit dem wir uns auch vor allem in Europa beschäftigen sollten.
    Kapern: Nun haben ja, wenn ich es richtig erinnere, 200.000 Leute diesen Film sich im Internet angeschaut, aber eben bei Weitem nicht alle, auch nicht alle, die uns heute Morgen zuhören. Wenn Sie also jetzt hergehen und den Autoren sozusagen eine Agenda und eine Einseitigkeit vorhalten, schwebt Ihnen eine besondere Szene vor Augen, die Sie mal schildern könnten, damit das klar wird, was Sie da meinen?
    Pörzgen: Es gibt zum Beispiel eine Szene, wo die Autoren nach Gaza einreisen, das ist ein Gebiet, in dem ich auch gewesen bin während meiner Tätigkeit im Nahostkonflikt. Ich bin noch nie so einfach da reingekommen, wie die das schildern. Sie zeigen dann eben Hotels, die es natürlich gibt, weil das ist eine sehr widersprüchliche Wirklichkeit dort. Man hat natürlich Luxushotels, es gibt Sushi-Bars, aber es gibt eben auch sehr viel Elend. Und dieses Elend zeigen die überhaupt nicht. Es wird auch gar nicht erklärt, dass es ein Gebiet ist, in dem die Leute nicht selbst ausreisen können, sondern eingesperrt sind, dass die palästinensische Autonomiebehörde überhaupt keine Möglichkeiten mehr hat zum Zugriff auf dieses Gebiet. Es ist sozusagen umgeben auch von einem Zaun, es ist völlig unter israelischer Kontrolle und natürlich unter der Kontrolle der Hamas, die in dem Film auch vorkommt, aber eben eigentlich nur dazu dient, dieses Narrativ zu bedienen, dass eben bei den Palästinensern der Antisemitismus eigentlich das Ausschlaggebende ist. Und ich finde, das lässt eben völlig weg die ganze Problematik der Besatzung. Das Wort fällt nicht. Es gibt keine israelischen Siedler, es gibt sehr einseitige Vorwürfe an die Hilfsorganisationen, die dort sehr engagiert arbeiten und zum Teil natürlich die Arbeit machen, die eigentlich die israelische Besatzungsmacht übernehmen müsste, die ja in der Verantwortung steht immer noch für dieses Gebiet.
    Kapern: Es fällt auf, dass alle Protagonisten, die in diesem Film vorkommen oder die sich die Autoren vornehmen, weil sie sich entweder gegen die israelische Besatzung des Westjordanlands oder für die Palästinenser im Gazastreifen engagieren, allen diesen Protagonisten wird vorgeworfen, seien es kirchliche Organisationen oder gar die Vereinten Nationen, sie seien letztlich antisemitisch. Was ist dran an dieser Argumentation?
    Pörzgen: Aus meiner Sicht ist da nicht viel dran, weil es eben vor allem ausblendet, dass diese Leute wichtige Arbeit machen vor Ort. Das wird sozusagen in einen ideologischen Kontext gestellt der Diskreditierung. Wir haben ja erst kürzlich erlebt, dass unser Außenminister Sigmar Gabriel in Israel war, einige dieser kritischen Organisationen treffen wollte, und das zu einem ganz massiven Konflikt mit der israelischen Regierung geführt hat. Es gibt – das ist ja eigentlich ein hohes Gut in Israel und ein Zeichen für die demokratische Verfasstheit immer noch dieser Gesellschaft, dass man eben solche Organisationen hat wie B'tselem zum Beispiel, die sehr vorgeführt werden in diesem Film und diskreditiert, die in Wahrheit eine wirklich großartige Arbeit machen, indem sie eben Menschenrechtsverletzungen auf beiden Seiten dokumentieren und für uns als Journalisten ja auch eine wichtige Quelle sind.
    Kapern: "Nur ein kleiner Teil der 1,36 Milliarden Hilfsgelder kommt bei den Menschen an, das haben wir im Gazastreifen gesehen." Dieser Satz fällt wörtlich im Kommentar dieser Dokumentation. Wenn Reporter für ein paar Tage in den Gazastreifen gehen und dann diese These aufstellen, wie würden Sie das beurteilen?
    Pörzgen: Ich finde das eine sehr steile These. Die hätte natürlich sozusagen eines eigenen Films bedurft. Ich verstehe eben nicht ganz, warum das sozusagen in diesem Film auftaucht, der sich ja um Antisemitismus dreht, und damit eigentlich lauter Nebenschauplätze aufmacht, die sich nicht um die eigentliche Thematik kümmern. Natürlich gibt es Korruption im Gazastreifen, auch unter der Herrschaft der Hamas, und das verdient natürlich eine ausführliche Recherche. Solche Filme gibt es auch, es gibt solche Artikel, es gibt eine Fülle von Kollegen, die zu diesen Themen arbeiten. Aber in diesem Film werden eben lauter Probleme in einem sehr aufgeregten Stil verrührt, und ich bedaure einfach, dass dadurch der Zuschauer weniger erfährt eigentlich über die eigentlichen Probleme sowohl in der Region wie auch über den Antisemitismus in Europa, sondern es eben vor allem in Form eines Aufregerthemas präsentiert wird, und das spiegelt sich ja auch in der Debatte im Moment wider.
    Kapern: Nun hat die "Bild"-Zeitung, die diesen Film online gestellt hat, wie auch immer sie daran gekommen ist, zu diesem Film ein Statement des Historikers Michael Wolffsohn gestellt, und der zählt zu den Verdiensten dieses Films, dass er, Zitat, "deutlich macht, dass die Trennung von Antisemitismus und Antizionismus und Israel-Kritik künstlich ist. Ist also doch alles dasselbe?
    Pörzgen: Ich persönlich finde eben ganz im Gegenteil, dass man viel stärker herausarbeiten müsste, dass es natürlich Unterschiede gibt zwischen Antisemitismus, das ist eine klare rassistische und menschenfeindliche Grundhaltung gegenüber Juden, auf der anderen Seite eben Antizionismus, den man auch bei vielen Juden antreffen kann, die eben einfach diese nationalistische Ideologie oder nationalreligiöse Ideologie ablehnen, und dann der Israel-Kritik, die sich gegen die israelische Regierung richtet, vor allem gegen ihren Umgang mit den Palästinensern und eben ihrer Besatzungspolitik. Und indem man versucht, diese Dinge alle zu vermengen, wird man, glaube ich, allen drei Problemen nicht gerecht, was nicht bedeutet, dass es natürlich unter vielen Israel-Kritikern auch Leute gibt, die antisemitische Töne anschlagen. Ich habe das selbst erlebt als Journalistin, als ich zurück kam aus Israel, auch so in den Ferien, wenn man dann über seine Eindrücke gesprochen hat, dass man irgendwie merkt, plötzlich kippt irgendwas um, wo es eine berechtigte Kritik gab und man durchaus darstellt, was für Probleme in Israel und auch in den Palästinensergebieten vorhanden sind, plötzlich kriegt das so einen Ton. Und ich finde, die Aufgabe des Filmes wäre gewesen, genau dieses darzustellen: Wann beginnt eigentlich Antisemitismus, wann ist es sozusagen eine rassistische, menschenverachtende Grundhaltung. Und ich finde, das muss man eben eher abgrenzen, statt es alles zu verrühren.
    Kapern: Frau Pörzgen, ganz kurz zum Schluss noch, weil uns die Nachrichten näher rücken: Wenn Arte diesen Film nicht zeigt, ist das Zensur?
    Pörzgen: Aus meiner Sicht nicht. Aus meiner Sicht war das eine unabhängige redaktionelle Entscheidung. Das muss möglich sein. Ich finde bedenklich, dass das im Moment vermischt wird. Zensur ist eben ganz etwas anderes. Das ist, wenn der Staat eingreift, das kennen wir in vielen Ländern, und tatsächlich Dinge verbietet. Dieser Film ist ja nicht verboten. Es ist traurig, dass ausgerechnet die "Bild"-Zeitung diesen Film jetzt in dieser Breite so lanciert.
    Kapern: Gemma Pörzgen, die frühere Nahostkorrespondentin der "Frankfurter Rundschau". Danke für die Expertise. Einen schönen Tag!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.