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Armut
Warum sich reiche Länder nur reich rechnen

Niger, Kongo und die Zentralafrikanische Republik sind laut UN die drei ärmsten Länder der Welt. Zu Unrecht, so der Sozialwissenschaftler Alexander Dill in seinem Buch "Die Welt neu bewerten". Diese Länder bleiben arm, weil das Bruttosozialprodukt als Maßstab dient - und nicht das Sozialkapital, wie Dill es vorschlägt.

Von Marc Engelhardt | 26.06.2017
    In der Seitenscheibe eines Autos klebt von innen ein Blatt Papier mit der Aufschrift "Die Reichen sind reich, weil die Armen arm sind".
    Die Maßstäbe, an denen Staaten heute gemessen werden, sind weder objektiv noch unveränderlich, erklärt Dill in seinem Buch. (picture alliance / dpa)
    Wie bewertet man die Welt und ihre knapp siebeneinhalb Milliarden Bewohner, wie die menschliche Entwicklung oder den sozialen Fortschritt? Das sind die Fragen, die Alexander Dill sich stellt. Und gleich zu Anfang seines Buchs "Die Welt neu bewerten" betont der Sozialwissenschaftler die Wichtigkeit seiner Unternehmung.
    "Weltbewertung wird bis heute als ein Expertenthema angesehen, eine wirkliche Relevanz wird ihr nicht beigemessen. Dabei hängen die großen internationalen Probleme weitgehend von der Bewertung ab: Wie soll etwa eine Energiewende finanziert werden, wenn nur wenige Staaten Kredite zu Nullzinsen aufnehmen dürfen? Wie soll Frieden herrschen, wenn die Vertriebenen und Besetzten nicht auf die Solidarität anderer Völker bauen können? Die viel geschmähte Weltbank verleiht pro Jahr gerade einmal 47 Milliarden Dollar – dies ist nicht einmal ein Viertel dessen, was alleine Deutschland jedes Jahr an neuen Krediten aufnimmt."
    Arme Länder bleiben arm
    Für Dill steht fest: Die Maßstäbe, an denen Staaten heute gemessen werden, sind weder objektiv noch unveränderlich. Im antiken Griechenland war es die Anzahl der Schiffe, die über den Stellenwert einer Nation entschied. Im Mittelalter galt die Höhe der Kirchtürme, in der Romantik die Zahl der Theateraufführungen als Gradmesser für Entwicklung. Und heute? Entscheidet vor allem anderen das Bruttosozialprodukt, die "Summe aller Güter und Dienstleistungen, die in einer Volkswirtschaft hergestellt werden", über Wohl oder Wehe in den Rankings. Genau das aber führt laut Dill dazu, dass im Wettbewerb der Staaten reiche Länder reich bleiben - und arme Länder arm.
    "Im Jahre 2010 stammten bereits 35 Prozent der in Deutschland vom Staat registrierten Einkommen aus 'Vermögen'. Zusammen mit den ständigen Erträgen, die der Staat seitdem aus der Veräußerung von Staatsanleihen direkt in seinem Haushalt verbuchen kann, bilden die 'magischen' Vermögenseinkommen auf einmal eine neue Wachstumsquelle für das Bruttosozialprodukt. Der wohlhabende Senior leistet sich mit 88 Jahren einen nagelneuen Mercedes der E-Klasse für 77.867 Euro. Er wird damit in 18 Monaten genau 5.678 Kilometer fahren. Die Erben verkaufen das Schmuckstück für 36.000 Euro. Wo ist der Differenzbetrag geblieben? Wurde das Bruttosozialprodukt um diesen Betrag korrigiert? Nein. Der Preis wurde voll als Wirtschaftsleistung verbucht."
    Deutschland profitiert als Kreditgeber
    Wenn Alexander Dill das Bruttosozialprodukt auf diese Weise auseinandernimmt, dann entlarvt sich dieses vermeintliche Fundament aller Wirtschaftskraft als durchzogen von Luftbuchungen. Das ist so unterhaltsam wie erhellend. Wenn Deutschland etwa Griechenland eine Milliarde Euro leiht, dann fließen laut Dill 900 Millionen davon als Provision, Zins oder Honorar zurück nach Deutschland. Diese werden als Einnahme im deutschen Bruttosozialprodukt verbucht - und festigen damit Deutschlands Platz auf der Bewertungsskala, obwohl doch eigentlich ein ungedecktes Kreditrisiko in Höhe von einer Milliarde Euro entstanden ist. Doch das können Deutschland und andere Top-20-Staaten durch Staatsanleihen ausgleichen, die die Deutsche oder Europäische Zentralbank herausgibt und im Zweifel selber kauft. Das Problem: Arme Länder können so etwas nicht, denn ihre Währungen sind auf dem Weltmarkt nichts wert - sie müssen mit hohen Renditen Devisen anwerben. Als Beispiel dafür nennt Dill das ostafrikanische Tansania.
    "Tatsächlich musste die tansanische Zentralbank noch 2014 für die Zeichnung einiger Staatsanleihen einen Zinssatz von 15,56 Prozent bieten. Es kann als ausgeschlossen gelten, dass mit derartigen Zinssätzen langfristige Investitionen wie Straßen, Eisenbahnen, Stromerzeugung, Wasser oder regionale Banken finanziert werden können, die ja dann alle traumhafte Jahresrenditen von 15,56 Prozent erwirtschaften müssten. Die Einstufung von Tansania als "niedrig entwickelt" hat also vor allem zur Folge, dass Tansania die nötigen Investitionen in seine öffentlichen Güter nicht selbst tätigen kann."
    Reichtum am sozialen Kapital messen
    Stattdessen werden ausländische Investoren angeworben, die mit ihren Einkünften wiederum das Bruttosozialprodukt in ihrem Zuhause ankurbeln. Es ist ein Teufelskreis, aus dem es für die Tansanias dieser Welt kein Entrinnen gibt. Außer, die Welt würde anders bewertet. Und das zu erreichen, ist die Mission, die Alexander Dill in der zweiten Hälfte seines Buchs beschreibt. Seine Ausgangsfrage: Sollte Tansania ganz hinten auf der Weltrangliste stehen - ein Land, das anders als höherbewertete Staaten keine Kriege, keinen Terror, keine Hungersnöte kennt? Dill glaubt: Nein - und will deshalb nicht das Bruttosozialprodukt, sondern das Sozialkapital eines Landes zum Maß des Messens machen. Was "Sozialkapital" ist, erläuterte Dill bereits 2009 auf dem Ökosozialforum in Erfurt.
    "Ehrenamtliche Arbeit, sogenannte Schwarzarbeit. Das heißt, wenn einer für den Nachbarn oder seine Familie arbeitet, dann müssen wir das als Teil des sozialen Kapitals sehen. Genauso ist es, wenn Menschen sich zum Fußballspielen, zum Beten oder zum Singen treffen, das sind alles Werte. Und diese Werte, die dort transportiert werden in so ein Gemeinwesen, machen seine Stärke aus."
    Spannendes Gedankenexperiment
    Soziales Kapital, so unterschiedlich es von Land zu Land begründet sein mag, soll nach Dill auch dazu beitragen, Risiken real einzuschätzen. Seine These: Entscheidend ist das Vertrauen in eine Nation. Und das lässt sich auch mit sozialen Faktoren gewinnen, und an Gemeingütern wie der Qualität des Trinkwassers oder dem Zustand der Natur messen. Bei einer solchen Bewertungsgrundlage hätten dann alle Staaten gleiche Chancen, reich zu werden. "Die Welt neu bewerten" ist ein spannendes Gedankenexperiment - auch und gerade weil viele Ökonomen den Argumentationen des Soziologen nicht folgen wollen, wie Dill selbst mehrfach betont. Besonders stark ist sein Buch in der Analyse, vor allem dort, wo er Beispiele ausarbeitet. Wer sie gelesen hat, der wird scheinbar objektive Messverfahren für arm und reich künftig kritisch hinterfragen.
    Alexander Dill: "Die Welt neu bewerten - Warum arme Länder arm bleiben und wie wir das ändern können"
    Oekom Verlag, 201 Seiten, 14,95 Euro.