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Bevölkerungsrückgang
Nicht unter 400 - Japans kleinstes Dorf will überleben

Okawa ist mit 403 Einwohnern das kleinste, selbstständige Dorf Japans. Seit Jahren schrumpft die Bevölkerung. Damit die winzige Gemeinde nicht untergeht, darf die Zahl der Bevölkerung nicht unter 400 sinken - doch das ist gar nicht so einfach.

Von Jürgen Hanefeld |
    Eine Schülerin in Japan schreibt Zahlen auf eine Tafel.
    Der Bürgermeister sagt, alle Kinder in Okawa sind Okawa-Kinder - ob hier geboren oder nicht. (imago stock&people)
    Hier kommt Herr Wada. Masayuki Wada, um genau zu sein, denn den Familiennamen Wada gibt es häufiger im Dorf. Masayuki Wada aber ist zugezogen aus der Gegend von Tokyo. "Einwanderer" nennt man ihn hier - mit durchaus positivem Unterton. Der 27-jährige ist das Faktotum der Gemeinde Okawa.
    "Ich mache alles mögliche: Ich gehe mit den Kindern zu den Bauern, verhandele über die Lebensmittel für die Dorfküche, helfe beim Kochen und Ausliefern, am Nachmittag betreue ich die ganz Alten."
    Dorfküche bereitet Mahlzeiten zu
    Und er hat gute Ideen. Zum Beispiel, dass ein sterbendes Dorf Synergieeffekte braucht. Die Dorfküche, chromblitzend und pieksauber, bereitet 60 bis 70 Mahlzeiten pro Tag für den Kindergarten, die Schule und die Rentner zu, die sich das Essen nach Hause bringen lassen. Der Clou: Mehr als 80 Prozent dessen, was die Dorfküche verarbeitet, stammt von den ortsansässigen Bauern. Ein Kreislauf also, in dem jeder dem anderen hilft und vertraut.
    Die meisten Mahlzeiten nimmt die Schule ab. 29 Kinder bekommen dort täglich ein warmes Mittagessen. Mehr als die Hälfte stammt gar nicht aus Okawa, erzählt Direktor Tsurui Katsutoshi, sondern besucht das Internat:
    "Es sind Kinder aus den großen Städten, die dort keinen Platz gefunden haben: Krach mit den Eltern, keine Freunde, zu viel Stress. Diese Kinder sind uns willkommen. Nur mit ihnen können wir eine halbwegs vernünftige Klassenstärke erreichen. Auch die Einheimischen freuen sich, weil die Schule nur so überleben kann."
    1960 waren es noch 4.000 Einwohner
    Der Bürgermeister sagt, alle Kinder in Okawa sind Okawa-Kinder - ob hier geboren oder nicht. Das ist die Politik des 58-Jährigen, der sein Rennrad hinterm Schreibtisch stehen hat. Auch er heißt Wada, ist aber ein Eingeborener.
    "1960 hatten wir in diesem schönen Tal 4000 Einwohner. Es gab ein Kohlebergwerk, aber keinen Staudamm. Dann wurde die Zeche geschlossen, der Ortskern versank im Stausee, die Leute zogen weg. 1985 waren wir noch 750 Bewohner, heute sind es 400. Wir haben erkannt: Weniger dürfen wir nicht werden. Und: Ohne Schule stirbt Okawa."
    Die Zahl "400" haben sie auf T-Shirts drucken lassen. Sie haben jüngere Menschen angeworben mit einem Programm namens "Ein Jahr auf dem Land." Der agile Masayuki Wada stieg darauf ein und ist bis heute geblieben.
    "Die Landschaft ist wunderschön, die Menschen sind herzlich, sie führen ein glückliches Leben in der Natur. Und ich habe hier meine Frau gefunden. Wir wollen ein Baby."
    Vier Babys in einem Jahr
    Das ist der Punkt, sagt der Bürgermeister:
    "In Okawa erwarten wir in diesem Jahr vier Geburten. Das ist gut, aber es reicht nicht."
    Ein Hoffnungszeichen sind ehemalige Internatszöglinge, die zurückgekehrt sind, weil es ihnen in Okawa gut gefallen hat. Einer von ihnen ist der 29-jährige Shingo Tani:
    "Ich bin zurückgekommen, weil ich mich revanchieren wollte für all das Gute, dass ich hier erfahren habe. Jetzt betreibe ich das Naturschutzzentrum, betreue Wanderer, die hier übernachten, und leite den Souvenirshop."
    Das Dorf braucht mehr Arbeitsplätze
    Das wird nicht reichen, meint der junge Herr Wada. Das Dorf brauche mehr Arbeitsplätze. Man könnte die sanfte Tourismusindustrie ausweiten auf den lang gestreckten Stausee. Angeln könnte man dort oder segeln. Da zuckt Bürgermeister Wada zusammen:
    "Wissen Sie, ich bin persönlich ein Opfer dieses Stausees. Wir waren die letzte Familie, die ihr Haus verließ. Wir saßen am Tisch beim Essen, als das Wasser kam. Für mich ist es schwer vorstellbar, diesen verhassten See, in dem mein Dorf untergegangen ist, als Einnahmequelle zu nutzen. Aber junge Leute sehen das natürlich anders. Und wenn es das Überleben von Okawa garantiert, nun ja."