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Brexit-Verhandlungen
"Hand ausstrecken haben wir ja dauernd gemacht"

Der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn hat das britische Versprechen begrüßt, EU-Bürger nach dem Brexit nicht auszuweisen. "Alles andere wäre ja eine Kampfansage an die Europäische Union gewesen", sagte Asselborn im Dlf. Die knallharte europhobe Stimmung wie vor der britischen Parlamentswahl sei verflogen.

Jean Asselborn im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 23.06.2017
    Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn
    Luxemburgs Außenminister Jean Asselborn (AFP/Matthew Mirabelli)
    Tobias Armbrüster: Die Europäische Union erlebt gerade mal wieder abwechslungsreiche Zeiten. Zu spüren ist das seit gestern Nachmittag auch beim EU-Gipfel, beim Gipfel der Staats- und Regierungschefs. Da ist zum einen Aufbruchsstimmung, weil in vielen Ländern die Zustimmung zur Europäischen Union wieder wächst, und zum anderen sind da nach wie vor riesige Probleme, die immer noch ungelöst sind, die gemeinsame Flüchtlingspolitik zum Beispiel. Aber es gab gestern auch wieder ein ermutigendes Signal: Die britische Premierministerin Theresa May macht nämlich ein wichtiges Zugeständnis bei den Brexit-Verhandlungen.
    Mitgehört hat am Telefon Jean Asselborn, der Außenminister von Luxemburg. Schönen guten Morgen, Herr Asselborn.
    Jean Asselborn: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Asselborn, wir haben es gerade gehört: Optimistische Stimmung bei der EU herrscht vor, trotz aller Probleme. Hat die EU zurzeit einen Grund abzuheben?
    Asselborn: Der Mensch lebt von der Hoffnung - l'espoir fait vivre in Französisch. Ich glaube, es geht der EU wie den Menschen. Diese zwei Wörter, EU und Krise, müssen nicht in alle Ewigkeit, sagen wir mal, ein unzertrennliches Tandem bleiben. Es gibt Hoffnung. Sie wissen, in Frankreich wurde die Europhobie ausgekontert. Die Erholung der Wirtschaft ist angesagt. Beim Brexit sind wir auf der Schiene. Jedenfalls sind wir schon auf einer Schiene, es gibt gute Ansätze. Populismus glaube ich auch, dass der Populismus sich selbst ausgekontert hat mit Brexit und auch mit der Wahl von Trump. Es bleibt aber, wie Sie richtig sagen, diese Frage der Migration. Das ist ein Schattengewächs auf der anderen Seite der Medaille, ja.
    "Nicht noch tiefer in Krisenszenario hineinsetzen"
    Armbrüster: Ist diese Freude dann vielleicht ein bisschen voreilig? Diese Beispiele, die Sie da aufgezählt haben, das können ja alles nur sehr kurze Strohfeuer sein, und niemand hat wirklich genau festgestellt, dass die Populisten in Europa keinen Aufwind mehr haben.
    Asselborn: Herr Armbrüster, wir müssen ja früh am Morgen ein wenig optimistisch sein. Es gibt Ansätze, die das andeuten. Wir müssen aus diesem Krisenszenario, wo wir immer sind, uns nicht noch tiefer hineinsetzen. Es gibt Hoffnung und auf diese Hoffnung muss aufgebaut werden.
    "Diese Sätze sind abgedroschen"
    Armbrüster: Jetzt hat Theresa May, wir haben es gehört, die britische Premierministerin, diese Geste gemacht gestern Abend. EU-Bürger sollen auch nach dem Brexit im Land bleiben dürfen. Das ist ein erhebliches Zugeständnis, wenn man sich mal anschaut, zu welchen Zerwürfnissen das in den vergangenen Wochen und Monaten in Großbritannien geführt hat. Wenn jetzt Frau May diesen Schritt zugeht auf ihre Partner in der Union, zeichnet sich da eine einvernehmliche Scheidung ab?
    Asselborn: Ich glaube, es sind zwei Sachen. Das eine ist von gestern Abend, sagen wir mal: Alles andere wäre ja eine Kampfansage an die Europäische Union gewesen. Aber hier steckt der Teufel natürlich im Detail: 23.6.2016 Referendum, 29.3.2019 Abschluss des Artikel 50 Verfahrens. Wir müssen schauen: Barnier verhandelt. Wir verhandeln ja nicht im Europäischen Rat und auch nicht in einem Ministerrat. Barnier soll verhandeln. Es ist ein guter Ansatz, aber ich glaube, dass Wichtiger ist: In Großbritannien nach dieser Wahl, dieser Parlamentswahl, hört man ja nicht mehr Brexit ist Brexit und "no deal better than a bad deal". Diese Sätze sind abgedroschen, man hört sie nicht mehr. Das war ein Medikament, um jene zu beruhigen, die, glaube ich, nur auf einen harten Brexit gesetzt haben. Das britische Volk, das ist klar, will faire, transparente, verantwortungsvolle Verhandlungen nach den Regeln, die die EU-Diplomatie und auch die britische Diplomatie ja inne hat, und natürlich bleibt ein großes Problem in diesen Verhandlungen. Die Regierung in Großbritannien braucht eine parlamentarische Mehrheit. Das scheint mir eine Basis zu sein. Sonst kommen wir in den Verhandlungen nicht voran. Aber es ist schon richtig: Das größte Problem wird der Finanz-Impact sein. Das ist auch die Conditio sine qua non, wie wir die Beziehungen nach 2019 aufbauen können. Und vergessen wir nicht ...
    Armbrüster: Also der riesige Milliarden-Betrag, um den es da geht?
    Asselborn: Ja, richtig. Wir reden jetzt nicht über einen Betrag, sondern über das Prinzip. Ich will nur ein Wort sagen: Den Friedensprozess gibt es nicht nur im Nahen Osten. Es gibt das Good Friday Agreement. Da müssen wir aufpassen in Nordirland, dass da nichts zerstört wird, was irreparabel wäre.
    "Auch im Interesse Großbritanniens"
    Armbrüster: Wenn jetzt Frau May diesen großen Schritt da zugeht auf ihre Partner in der Europäischen Union, wenn sie dieses Zugeständnis gemacht hat, wäre das auch dann ein Moment für die übrigen Staats- und Regierungschefs zu sagen, wir können hier jetzt auch die Hand ausstrecken?
    Asselborn: Ich weiß nicht, ob das ein riesiger Schritt ist. Das ist ja im Interesse Großbritanniens, dass Bürger aus der Europäischen Union nicht ausgewiesen werden oder verjagt werden.
    Armbrüster: Aber es war ja in den Verhandlungen von Anfang an ein riesiges Faustpfand, das Großbritannien da hatte, und das haben sie jetzt sozusagen aus der Hand gegeben.
    Asselborn: Es gibt auch eine Million oder mehr als eine Million Briten in Europa. Ich glaube nicht, dass das jetzt ein großes Zugeständnis ist. Es ist ein richtiger, guter Schritt in eine gute Richtung, auch im Interesse Großbritanniens. Das muss man so sehen. Hand ausstrecken haben wir ja dauernd gemacht. Wir wollen die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Großbritannien nach 2019 auf einer guten Schiene haben, weil viel davon abhängt. Viele, viele, vielleicht hunderttausende Arbeitsplätze hängen davon ab. Wir wollen mit Großbritannien aber in Zukunft dieselben Beziehungen haben, wie wir sie mit Drittländern haben. Das heißt, wir wollen ein Free Trade Agreement, ein Handelsabkommen, auch eine Zollunion aushandeln, und das muss doch in einem fairen Geist geschehen. Natürlich: Großbritannien, muss man immer wiederholen, hat nicht vor einem Jahr am 23. Juni 2016 die Europäische Union verlassen. Es sind Engagements da und die müssen eingehalten werden, auch was das Geld angeht.
    "Solidarität hat auch eine materielle Grundlage"
    Armbrüster: Engagements gibt es nach wie vor auch in der Flüchtlingspolitik. Wir haben das auch gerade gehört. Die Regelung dazu ist nach wie vor höchst umstritten innerhalb der Europäischen Union. Vor allen Dingen die Staaten in Osteuropa wehren sich dagegen, Flüchtlinge nach bestimmten Quoten aufzunehmen. Wäre es da langsam an der Zeit, dass die übrigen EU-Mitgliedsländer, auch die großen Staaten, die einflussreichen Staaten sagen, auch da müssen wir zu einem Deal kommen, da können wir vielleicht nicht einfach so weitermachen, wie wir uns das mit unserem Vorhaben vor ein, zwei Jahren gedacht haben?
    Asselborn: Herr Armbrüster, es ist eine kapitale Frage hier der europäischen Solidarität. Und ohne Umschweife: Ich verstehe nicht und ich glaube, ich bin nicht der einzige in Europa, dass die Identität, die nationale Identität von Ländern, die Millionen Einwohner haben, zerstört werden soll durch die Aufnahme von hundert oder von ein paar tausend Flüchtlingen. Das ist für mich unverständlich und es ist eine ganz, ganz gefährliche Evolution, die da sich weiter entwickelt. Wir müssen auch aufpassen, selbstverständlich hüben wie drüben, dass wir in Sachen Solidarität, auch in Sachen Rechtsstaatlichkeit keinen Zwist bekommen zwischen Ost und West, keine Konfrontation bekommen zwischen Ost und West. Wir müssen das auf beiden Seiten selbstverständlich verhindern.
    Aber zur Flüchtlingsfrage: Sie wissen, im Herbst kommt jetzt das Urteil des Gerichtshofs über die Abstimmung im Innen- und Justizministerium. Dann ist Recht gesprochen. Und ich nehme an, dass wenn Recht gesprochen wird, auch Recht angewandt wird. Die Kommission ist die Hüterin der Verträge. Sie hat hier zu agieren, sie macht das auch. 2018, um das politisch zu sagen, fangen wir ganz im Ernst an, über den Finanzrahmen nach 2020 nachzudenken. Und wissen Sie, meines Erachtens: Solidarität hat selbstverständlich eine politische Grundlage, aber auch eine materielle, und beide sind keine Einbahnstraße. Das muss man wissen.
    Mit Ankara über "Normalisierung der Beziehungen reden"
    Armbrüster: Sie haben jetzt die Rechtsstaatlichkeit angesprochen, die innerhalb der Europäischen Union gelten sollte. Wenn es um die Flüchtlingspolitik geht, dann sprechen wir allerdings auch über ein Land, über die Türkei, in dem einige Leute so Zweifel haben mit der Rechtsstaatlichkeit, ein Land, auf das sich die EU bei ihrer Flüchtlingspolitik aber trotzdem sehr gerne stützt. Wie passt das denn eigentlich zusammen?
    Asselborn: Die Europäische Union ist nicht nur in der Flüchtlingsfrage mit der Türkei, sagen wir mal, interessiert, eine gute Zusammenarbeit zu haben. Die Türkei hat drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen und aus dem Irak. Das ist eine große Leistung und hier sollen wir helfen. Das machen wir ja auch. Es sind drei Milliarden engagiert für Schulkinder, dass sie in die Schule gehen können, für Gesundheitsfragen und so weiter. Das läuft gut.
    Was mit der Türkei ist, ist, dass wir von einer Normalisierung der Beziehungen reden, und vor allem in Ankara wird das gemacht. Ich sage ganz klar: Meine Meinung ist, die Türen der Gefängnisse, die müssen zuerst in der Türkei geöffnet werden, bevor wir die Türen öffnen zu Normalisierungsverhandlungen. Das hat jetzt nichts mit dem Beitritt zu tun, aber Tatsache ist, dass viele tausende Menschen ohne Prozess, ohne Achtung der Rechtsprozedur in den Kerker geworfen werden in der Türkei, zuletzt über 20 Menschenrechtler, sogar der Präsident von Amnesty International, ein sehr bedeutender Menschenrechtler, Taner Kilic, dem erging es so. Das muss aufhören! Die Türen der Gefängnisse müssen geöffnet werden, bevor wir über Normalisierung mit der Türkei reden. Wir können nicht über, sagen wir mal, Visa- und Zollunion reden mit der Türkei unter diesen Umständen. Das geht nicht! Es ist im Interesse der Türkei, und ich rede jetzt, ich sage es noch einmal, nicht über Beitrittsverhandlungen, sondern über Normalisierung, dass hier wirklich der Druck gemacht wird, der gemacht werden muss. Hier geht es um elementarste Menschlichkeit gegenüber denen, die in der Türkei viel leiden.
    Beitrittsverhandlungen sollten eingefroren bleiben
    Armbrüster: Herr Asselborn, das würde mich trotzdem zum Schluss gerne mit Bitte um eine kurze Antwort noch interessieren. Wie soll es dann weitergehen mit den Beitrittsverhandlungen zwischen EU und Türkei?
    Asselborn: Die sind eingefroren zurzeit. Da sollten wir am besten bei dem Eingefrorenen jetzt bleiben.
    Armbrüster: Jean Asselborn, der Außenminister von Luxemburg, live hier in den "Informationen am Morgen". Vielen Dank für das Gespräch!
    Asselborn: Bitte, Herr Armbrüster.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.