Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Buch der Woche
Zeuge des laufenden Nichts

Die Erfahrung von Sinn-Leere, zu einem siebenbändigen Monumentalwerk aufgetürmt, das ist "Das Büro" des 2008 gestorbenen niederländischen Autors J.J.Voskuil. In seiner Heimat war "Het Bureau" ein Kultbuch. Auf Deutsch ist jetzt der dritte Band erschienen, "Plankton". Die Schilderung eines völlig sinnfreien Büroalltags ist faszinierend und manchmal geradezu subversiv.

Von Sabine Peters | 05.07.2015
    Drei Bleistifte liegen nebeneinander.
    Drei Bleistifte, ordentlich nebeneinander. Symbol eines sinnfreien Büroalltags. (picture alliance / dpa / Susannah V. Vergau)
    Amsterdam, Frühjahr 1972: Abteilungsleiter Maarten Koning öffnet morgens die Tür des Instituts für Volkskunde und schiebt sein Namensschild ein – den Beweis seiner Anwesenheit. Im Büro nimmt er die Hülle von der Schreibmaschine, mustert die eingegangene Post, bespricht sich mit den Mitarbeitern. Eine seiner Standardfragen an Stellenbewerber lautet zuverlässig: "Können Sie lang stillsitzen?" Spätnachmittags schiebt Maarten sein Namensschild aus, geht zu seiner Frau Nicolien. Sie streiten ein bisschen. Abends rührt er den Brei für das Frühstück an. Er weiß, was er anderntags im Institut als erstes machen wird: Sein Namensschild einschieben.
    Der Niederländer Johannes Jacobus Voskuil, der von 1926 bis 2008 lebte, hat ein siebenbändiges Monumentalwerk geschrieben, "Das Büro". Jeder einzelne Band hat das Format eines Backsteins, der soeben erschienene Teil 3 mit dem Untertitel "Plankton" spielt zwischen 1972 und 1974 und umfasst ganze 900 Seiten. Ein wiedererkennbarer, vorhersehbarer Büroalltag. Die Handlung tritt auf der Stelle, die Hauptfiguren entwickeln sich kaum - wer will lang stillsitzen, um das zu lesen?
    Maarten Koning ist kein chauvinistischer, lächerlicher Tyrann wie Stromberg aus der Fernseh-Comedy-Serie. Und Voskuil begreift sich keineswegs als beflissenen Unterhalter. Seinen Figuren gegenüber ist er weder Richter noch Kläger, sondern ein geduldiger Zeuge. Was bezeugt er? Das laufende Nichts. Und doch war "Das Büro" seit seiner Veröffentlichung, die 1996 begann, ein Kultbuch in den Niederlanden. Das darf man sich so vorstellen: In den Abendnachrichten wurde bekannt gegeben, dass ein weiteres Werk erschien. Die Leser warteten nachts geduldig vor den Buchhandlungen, um morgens ein Exemplar zu ergattern. Sie unternahmen Wallfahrten zum Institut für Volkskunde und besichtigten die Büroräume, um auf den Spuren der Protagonisten zu wandeln.
    Voskuil selbst arbeitete zunächst jahrzehntelang an diesem Institut, das die Verbreitung alter Bräuche und Gegenstände untersuchen sollte. Der spätere Romanautor Voskuil untersucht den früheren Arbeitsplatz jetzt selbst mit einem quasi ethnologischen, möglichst wertfreien Blick. Also: Recherche, Dokumentation und Kommentar. So staubtrocken wie eben möglich.
    Vorträge zu Speisefetten damals und danach
    Zu den Arbeitsschwerpunkten des Helden Maarten Koning gehören Kinderwiegen im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert. Es gab für Säuglinge Querschaukel- und Längsschaukelwiegen. Akribisch erforscht Maarten, wie die Verbreitung der Wiegen damals in Nordholland war, verglichen mit Südholland. Sein Institut ist auch an einem internationalen Großprojekt beteiligt, da geht es um die Erstellung europäischer Atlanten über traditionelle Gebrauchsgegenstände. Regelmäßig finden Kongresse statt, die wahre Forschungsschätze ans Licht bringen: Wissenswertes über die Schaukelwiege im Stadt-Land-Vergleich. Mitreißende Vorträge zu Themen wie: Die krummstielige und die geradestielige Sense; Speisefette damals und danach; der Trauring; das Frauenhemd.
    Maarten weiß: Im Büro arbeitet er in einer stetig wachsenden Gruppe gutbezahlter Beamter und Angestellter an Projekten, die man dem Steuerzahler besser verschweigen sollte. Die Arbeit ist sinnlos - bestenfalls schadet sie niemandem.
    Nun könnte man sagen: Zwischen den Siebzigerjahren und heute hat sich Einiges entwickelt, heute wird effizient und zielorientiert gearbeitet. Und doch beschert einem das Buch ein Déjà-vu-Erlebnis nach dem anderen. "Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot verdienen", dieser alttestamentarische Fluch gilt in immer neuen Variationen, ob für die Gegenwart oder für die jüngere Vergangenheit.
    Aber eine Hölle ist es trotzdem
    Maartens Büro mag zwar ein sauberer, trockener Ort sein, auch gibt es reichlich Buttermilch, Spekulatiusgebäck und gelegentlich Genever, aber eine Hölle ist es trotzdem. Einige Angestellte machen sich viel Mühe mit einem umfangreichen, pedantisch geführten Karteikartensystem, das ständig Schwierigkeiten aufwirft. Ein neuer Chef hat den alten Direktor Anton Beerta von seiner verantwortlichen Verwaltungsarbeit abgelöst. Jetzt kann sich Beerta ganz der Wissenschaft widmen, also etwa dem traditionellen Frauenhemd - das ist interessantes Neuland für einen Schwulen wie ihn. Seine diplomatischen Winkelzüge sind undurchschaubar - ist er Maartens Freund oder Feind? Maarten selbst möchte ein demokratischer Abteilungsleiter sein, aber Demokratie wird durchaus nicht von allen gewünscht. Die Hölle, das sind immer die anderen, und der Teufel steckt bekanntlich im Detail. Junge Hilfskräfte wie Manda machen Fehler beim korrekten Markieren der Karteikarten, und Mitarbeiter wie Bart oder Ad verhalten sich aus Prinzip renitent.
    "Maarten nahm den Ausschnitt und stand auf. Bei Ads Schreibtisch blieb er stehen. Er legte ihm den Ausschnitt hin. Ad sah ihn sich an und legte ihn, ohne etwas zu sagen, zur Seite. 'Manda beschäftigt sich mit der Karte des Traurings', sagte Maarten, 'aber man muss sie dabei eigentlich begleiten, denn sie hat das noch nie gemacht, und ich bin momentan zu beschäftigt mit diesem Vortrag über die Wiege. Könntest du das machen?' 'Kann der da das nicht machen?', fragte Ad mit einem leichten Nicken in Barts Richtung. Es hatte etwas Feindseliges. 'Du hast mehr Erfahrung mit dem Anlegen von Karten.' 'Aber ich mache es nicht.' 'Warum nicht?' 'Ich bin kein Anführer.' Er sah Maarten mit einem provozierenden Lächeln an. Maarten erwiderte seinen Blick ungerührt, nicht recht wissend, wie er darauf reagieren sollte. 'Gut', sagte er schließlich, 'dann mache ich es selbst.' Er zog den Stift aus der Tasche, den er auf Ads Schreibtisch gefunden hatte, und zeigte ihn. 'Ich hatte zwei solcher Stifte auf meinem Schreibtisch. Den hier habe ich bei dir wiedergefunden. Hast du den anderen vielleicht auch?' Ad kramte in der Seitentasche seines Jacketts und holte eine Handvoll Stifte heraus, die er achtlos auf seinem Schreibtisch verstreute. 'Na bitte', sagte Maarten zufrieden. 'Der Herr ist Sammler.' 'Schau mal, ob er dabei ist.' Sie ähnelten sich alle, doch die meisten waren am hinteren Ende angekaut. 'Das hier könnte er sein', sagte Maarten und zog einen noch unbeschädigten Stift dazwischen heraus. 'Dann nimm ihn ruhig.' 'Danke.' Er steckte ihn in die Tasche. 'Ich werde sie in Zukunft markieren.' ((Er wandte sich ab und verließ das Zimmer, um in den Kaffeeraum zu gehen Dort herrschte Betrieb Er holte sich eine Tasse Kaffee am Schalter und setzte sich auf einen gerade frei gewordenen Stuhl. Die Wärme des Sitzes weckte seinen Widerwillen und erinnerte ihn an den Ekel von Frans Veen vor warmen Stühlen. Er beugte sich vor, nahm eine Ansichtskarte vom Tisch und sah sich den Text an. Es war eine Karte von Kollege Flip de Fluiter aus dem Urlaub, adressiert an die Belegschaft.))"
    Der mächtige Geist des Büros
    Während man sich im Büro die Zeit vertreibt, schreitet draußen die Emanzipation der Frauen voran, die Ölkrise beschert der Bevölkerung die ersten autofreien Sonntage. Aber einen großen Geist ficht das nicht an, und der mächtige Geist des Büros hat sich in den Körpern der Menschen, in ihrem Bewusstsein verankert. Es gibt in diesem Roman im Grunde kein Außerhalb. Das Büro ist das Büro ist das Büro. Da kann einem der Schweizer Autor Kurt Marti in den Sinn kommen, der 1960 mit "Neapel sehen" einen mittlerweile klassisch gewordenen, gerade einmal 50 Zeilen umfassenden Text über einen Fabrikarbeiter schrieb. Der Mann hasste die Akkordarbeit, wurde krank daran - und dann wollte er vom Sterbebett aus einen freien Blick auf die Fabrik, er wollte sie sehen, im Sinne von erkennen. Er erkannte, dass sie in ihn eingedrungen war: Sie "war" er. Kurt Martis Miniatur und Voskuils Opus Magnum sind wesensverwandt. Die Arbeit, ob im Büro oder in der Fabrik, reduziert die Leute, macht sie klein und kleinlich, durchdringt sie ganz. Bei Voskuil wird diese Totalität formal deutlich an einigen grausam-schön gesetzten, stimmigen Schnitten und Leerstellen. Da schreitet Maarten eines Nachmittags durchs Institut, übergibt Schlüssel und Verantwortungen, um sich für fünf, für ganze fünf Wochen Urlaub zu entfernen – Ende des Kapitels. Zu Beginn des nächsten Kapitels sitzt er wieder im Büro und es ist so, als sei dazwischen nichts gewesen.
    Hier kann einen ein Schauer anwehen, oder man kann in leichten Zynismus verfallen, was den Begriff der "Reproduktion der Arbeitskraft" anlangt. Urlaub oder Schlaf haben keinen Eigenwert, sie haben eine klar umrissene Funktion. Und die Reproduktion im trauten Heim, an Seiten der treusorgenden Gattin Nicolien? Die Schilderungen des Ehelebens gehören zu den Glanzstücken des Romans, da entspringt aus dem Irrwitz der blanke Witz. Selbst wenn man mit Loriot zugeben kann: Frauen haben auch ihr Gutes – dieses Gute ist bei Nicolien nicht leicht zu finden. Sie hasst das Pflichtbewusstsein Maartens, gibt zu allem ihren Senf und beschwert sich, dass er sich nicht für seine Schwiegermutter interessiert. Die Alte wird wohl bald erblinden; einmal besteht die akute Gefahr, dass sie ihre Augentropfen mit Eau de Cologne verwechselt. Aber die Hilfe von Frau Peereboom verweigert sie.
    Permanenz und Penetranz
    "Nicolien sagte: 'Wenn Mutter Frau Peereboom nicht um sich haben will, denke ich nicht daran, diese Person dazuzuholen! Hörst du?' 'Wenn jemand dabei ist, dement zu werden, bist du verantwortlich', sagte er, jetzt ebenfalls wütend. 'Du kannst doch nicht zulassen, dass sie blind wird?' 'Und wer sagt, dass sie blind wird? Was weißt du denn? Du bist doch kein Arzt?' 'Dafür muss man kein Arzt sein.' 'Was mischst du dich denn ein, wenn du kein Arzt bist? Ich mische mich doch auch nicht in deine Arbeit ein? Ich sage doch auch nicht, was du in deinem Büro tun musst?' 'Jetzt mach aber mal einen Punkt!', sagte Maarten empört. 'Du tust den ganzen Tag nichts anderes, als dich in meine Arbeit einzumischen!' 'Ja, zu deinem Besten! Weil ich mir Sorgen mache! Ist das etwa nicht mehr gestattet? Darf ich mir keine Sorgen machen, wenn du hier den ganzen Tag sitzt und wie ein Idiot arbeitest?' 'Frau Peereboom ist zum Besten deiner Mutter!', sagte er etwas ruhiger, von der Kraft des Arguments überzeugt. 'Das ist überhaupt nicht zum Besten meiner Mutter! Das ist etwas ganz anderes! Ich mische mich doch auch nicht ein, wenn es um deine Karteikarten geht? Wie die angelegt werden müssen?' 'Du willst deine Mutter ja wohl nicht mit einer Karteikarte vergleichen?' 'Das ist doch nicht dein Ernst?' Sie stand drohend auf und beugte sich wütend zu ihm hinüber. 'Die Bemerkung nimmst du hoffentlich zurück! Du wirst doch nicht auch noch deinen Spott mit mir treiben? Mit meinen Sorgen? So weit wirst du es doch nicht treiben? Das tust du doch nicht? So hundsgemein wirst du doch nicht sein?' Er war unwillkürlich etwas zusamengesunken, aus Angst vor einem Überraschungsangriff. 'Ich nehme die Bemerkung zurück', sagte er, ohne sie anzusehen. 'Das will ich aber auch meinen! Das will ich dir auch geraten haben! Meine Mutter mit einer Karteikarte zu vergleichen! Wie kannst du es wagen? So etwas hast du noch nie gesagt! Hast du so hart gearbeitet, dass du sogar mir gegenüber nicht mehr weißt, was du sagen kannst? Dann arbeite nicht so hart! Sei bitte mal ein kleines bisschen normaler!' Sie wandte sich abrupt ab und lief wütend aus dem Zimmer in Richtung Küche."
    Permanenz und Penetranz. Insistieren, rituelles Wiederholen. Abstruse Logik, und immer wieder misslungene Kommunikation: Von diesen Elementen lebt dieser Roman, der über weite Strecken dialogisch aufgebaut ist. Nur eben: Das Sprechen so wie auch die spärliche Handlung transportieren im Grunde nichts. Gelegentlich schürt Voskuil Erwartungen – wird es zum Bruch mit einem belgischen Kollegen kommen? – um sie dann vorsätzlich zu unterlaufen und einen Spannungsbogen schlicht zusammensacken zu lassen.
    Oft wird die Zeit bis hart ans Unerträgliche gedehnt; dann wieder schnurrt sie zusammen – warum soll einer nicht zwölf Jahre an einem Aufsatz schreiben? Das Institut arbeitet schließlich für die Ewigkeit!
    Das heißt für den Leser: Neben der Fähigkeit, lang stillzusitzen, verlangt die Lektüre auch einen speziellen Humor; denn die meditative Versenkung in den Roman erhebt einen keinesfalls in höhere Sphären. Man fischt hier sozusagen im Trüben. Darauf verweist der Untertitel des Büroromans, "Plankton". Der Begriff erschließt sich erst am Ende, als Anton Beerta einen Schlaganfall erleidet und sein Lebensgefährte schockiert im Büro anruft, um mitzuteilen: Aus Anton ist Plankton geworden! Plankton, im Wasser schwebende, niedere Lebewesen – das sind sämtliche dahindümpelnde Romanfiguren. Sie gehen auf in ihren nichtsnutzigen Streitereien, pflegen Intrigen, sticheln und maulen, oder verschanzen sich im Schweigen.
    Der Fluch der Arbeit besteht vor allem im mangelnden Sinn
    ((Maarten geht mit einer Angestellten ihren Text durch, den er korrekturbedürftig findet.
    "Er sah angespannt auf das Papier.
    (Er zögerte. 'Ich finde den Text gut. Ich habe ein paar kleine Bemerkungen und einen etwas wichtigeren Punkt, aber das ist nicht wesentlich, scheint mir.' Sie erstarrte. 'Ja', sagte sie reserviert. 'In erster Linie betrifft das deine Wortwahl.' Vorsichtig suchte er nach den richtigen Worten. 'Du benutzt zu viel Jargon, Fremdwörter, bei denen die Bedeutung unklar ist. Das habe ich durchgestrichen. Ich hätte gern, dass du dafür niederländische Wörter suchst. Dann wird dein Text viel verständlicher.' 'Aber dann ist es keine Wissenschaft mehr.' 'Dann ist es erst recht Wissenschaft. Es ist Wissenschaft, wenn deine Mutter es verstehen kann.' 'Das sehe ich überhaupt nicht so! Ich habe es Henk lesen lassen, und er fand es echt wissenschaftlich!' 'Ich sage nicht, dass es nicht gut ist', sagte er, seine Irritation verbergend, 'aber mir liegt etwas daran, dass alles, was aus unserer Abteilung kommt, in klarem Niederländisch geschrieben ist.' Sie schwieg, sie war kreidebleich geworden. 'Du wirst sehen, dass es eine Kleinigkeit ist', sagte er versöhnlich, 'aber auch, dass es dann für dich selbst viel klarer wird, weil die Fremdwörter den Inhalt dessen, was du sagst, oft verwischen.' Sie gab darauf keine Antwort. An ihrem Gesicht war zu erkennen, dass sie vollkommen anderer Meinung war. 'Wollen wir den Text Seite für Seite durchgehen?', schlug er vor. 'Wenn du es für richtig hältst'.…)
    Er spürte, dass sie überhaupt nicht zuhören wollte. Sie akzeptierte alles, noch bevor er zu Ende gesprochen hatte…. Sie wollte weg. An ihrem Gesicht war zu erkennen, dass sie den Tränen näher war als dem Lachen. Unterwegs nach Hause fragte er sich, wie er es in Gottes Namen hätte anpacken sollen. Er hätte sie um eine Erklärung bitten, sie selbst ihre eigenen Denkfehler entdecken lassen sollen. Aber wie? Ich bin nicht für Menschen geschaffen, dachte er. Ich bin für ein Loch geschaffen, in dem ich allein hocke, mit einem Maschinengewehr. ))
    Maarten ist - und das kann man bedauern - die einzige der zahllosen Voskuil-Figuren, die ein Bewusstsein davon hat, in welcher Hölle er lebt und agiert. Wann immer er mit sich allein ist, friert das verbindliche, ironische oder sarkastische Lächeln, das er seinen Zeitgenossen eben noch zeigte, sofort ein. In solchen Augenblicken schlägt das Komische ins Tragische um. Der Fluch der Arbeit besteht vor allem im mangelnden Sinn. Camus schrieb, dass sich Sisyphos auf seinem Weg vom Berg hinuntergehend zu dem Stein, den er vergeblich wieder hochwälzen wird, in einer Art "Pause" befand. Ein tragischer Held, mit dem Bewusstsein der Absurdität seines Tuns. Aber gerade durch die Erkenntnis der Absurdität, verbunden mit der Verachtung der Götter und des Todes, im Einverständnis mit seinem Schicksal, das ihm allein gehörte, wurde der Camus´sche Sisyphos zum Helden, ja, zum glücklichen Menschen.
    Ein Roman mit subversivem Charakter
    Maarten wälzt zwar auch tagtäglich pflichtbewusst sein Pensum vor sich her. Aber ein tragischer "Heroismus" im Absurden ist ihm fremd – und das Korsett der protestantischen Arbeitsethik, in dem er steckt, hat kaum etwas mit antiken Heldenidealen gemeinsam. Es gibt zwar ein paar behutsam eingestreute, leicht zu überlesende, dabei herzergreifende "große", fast ans Pathetische reichende Momente von Todessehnsucht, von flüchtigstem Lebensglück oder von "Versöhnung". Aber Voskuil klatscht und kleistert alsbald wieder vorsätzlich neue banale oder lachhafte Details darüber. Der Mensch als schöpferischer Gestalter der Welt? Wörtlich heißt es einmal, Maarten entwickelt "überschäumende Kreativität" bei der Frage, ob man einen Durchschlag an einen anderen anklebt, anheftet oder antackert. - So viel zur freien Entfaltung schöpferischer Kräfte in Institutionen einst und immer. In Zeiten, in denen die Kultur als "weicher Standortfaktor" gepriesen und vom "Standortvorteil Kreativität" geschwärmt wird, hat Voskuils Roman durchaus subversiven Charakter.
    Das Büro ist das Büro ist das Büro. Routine, Tristesse, Sturm im Wasserglas. Ewig geschieht, was immer schon geschah. Der niederländische Verleger Voskuils behauptete vor Jahren, den Romanzyklus "Das Büro" könnten höchstens seine Landsleute genießen und angemessen würdigen. Einmal abgesehen davon, ob das nun für oder gegen die Mentalität der Niederländer spricht - wesensverwandte Seelen mit entsprechend trockenem Humor gibt es sicherlich auch hierzulande; selbst wenn das Buch vielleicht bei uns nicht zu einem derartigen Hype wird wie bei unseren Nachbarn.
    Voskuils Büroprojekt: Ist das die masochistische Fleißarbeit eines demütigen Gefangenen? Ist das die subtile, sadistische Rache eines Rebellen? Denn Hybris, dieser frevelhafter Hochmut gegenüber einer gottgleichen Instanz, Hybris hat beim Schreiben sicherlich auch eine Rolle gespielt, selbst wenn der Hochmut unterkühlt auftritt. Die Kühle und das "Nichts mal Nichts", das kann einen gelegentlich zur Weißglut treiben. Als Leser will man dieses Buch mitunter in die Ecke feuern. Maßvoll gefragt: Würde "Das Büro" etwas verlieren, wenn ein Lektor hier gelegentlich die Schere angesetzt hätte? Doch andererseits: Entfernt man eine Perle aus dem Rosenkranz, um schneller wieder aus der geistigen Versenkung aufzutauchen?
    Eine geistige Übung in existentieller Leere
    "Das Büro" ist eine geistige Übung, ein Exerzitium in profaner wie existentieller Leere. Arbeit und Wissenschaft sind sinnlos, die Liebe keine Rettung. Der späte Ernst Jandl hätte hinzugefügt: Nicht einmal Kunst und Dichtung schützen vor der Erfahrung dieser existentiellen Leere. In Jandls Sprechoper "Aus der Fremde" über den Alltag eines alten freischaffenden Dichters ist die lapidare Folgerung aus der Erkenntnis von Sinnlosigkeit: "da müsse man eben so weitermachen".
    Der Beamte Maarten Koning macht weiter. Die Übersetzungen der Voskuil-Bände 4 bis 7, jeweils um 800 Seiten stark, sind in Vorbereitung.
    Die Erfahrung von Sinn-Leere, zu einem Monumentalwerk aufgetürmt – das ist nicht gerade effizient, könnte man sagen. Doch das literarische Erkennen ist ein Prozess, der sich schwer messen lässt. Dieser Prozess kann sich im Gedicht ereignen und so wirken wie ein Blitz, der einschlägt. Das Erkennen kann sich auch in einer Prosaminiatur vollziehen, oder in einem ausufernden Romanprojekt.
    Wie schön, dass Literatur kein Wettlauf um die Bestzeit ist. Das Gelingen hängt nicht von der Stoppuhr ab.
    Gott der Herr zählte, sicherlich in Ruhe, alle seine Sterne, Wolken, Mücken, Fische.
    Voskuil zählt auf, wie viele Durchschläge von Protokollen angefertigt werden.
    Der Leser staunt über die Feinarbeit, die hier geleistet wird. Staunt über die Fülle der Leere.
    Der Leser sitzt lang still.
    Johannes Jacobus Voskuil: "Das Büro 3. Plankton", aus dem Niederländischen von Gerd Busse, mit einem Nachwort von Gerbrand Bakker, Verbrecher-Verlag, ca 900 Seiten, 29 Euro