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"Es gibt eine allgemeine Stimmung der Ängstlichkeit"

Was bewegt die Bürger in Deutschland? Um das zu erfahren, ist der Journalist und Schriftsteller Thomas Medicus quer durchs Land gereist: vom Tegernsee nach Flensburg und von Görlitz nach Aachen. Viele seien verunsichert, sagte Medicus im Dlf. Hinzu käme die Angst vor dem sozialen Abstieg.

Thomas Medicus im Gespräch mit Britta Fecke | 24.09.2017
    Blick auf ein idylisches Örtchen im Sonnenschein mit Kirche
    In unsicheren Zeiten sehnten sich die Menschen nach Idylle, sagt der Journalist und Schriftsteller Thomas Medicus im Dlf (imago / Rüdiger Wölk)
    Britta Fecke: Wer - das ist an diesem Wahltag wohl die spannendste Frage - wird die drittstärkste Kraft? Und mit wem wird der oder die Gewinnerin koalieren? Die Umfragen, die aber schon bei Trump und dem Brexit falsch lagen, die Umfragen also prognostizieren Angela Merkel ihre vierte Amtszeit. Spricht das dann für Stabilität? Ist es das, was die meisten deutsche Wähler fürchten? Eine Veränderung in einer Welt, in der nichts mehr sicher scheint? In der junge Männer in religiösem Wahn den Terror in europäische Großstädte bringen und zwei undiplomatische Egomanen (einer in Washington, der andere in Pjöngjang) die Welt an die Gefahr eines Atomkrieges erinnern?
    Der Journalist und Schriftsteller Thomas Medicus ist quer durch Deutschland gereist: vom Tegernsee nach Flensburg und von Görlitz nach Aachen, um zu erfahren, was die deutschen Bürger bewegt. Welche Hoffnungen die Pastorin und welche Sorgen die Putzfrau hat? Was den Hartz-vier-Empfänger freut und den Doktoranten ärgert. Seit zwei Tagen liegt seine Recherche in den Buchhandlungen. Titel: "Nach der Idylle - Reportage aus einem verunsicherten Land". Von Thomas Medicus wollte ich wissen, woher sein Eindruck kommt, dass wir alle verunsichert sein sollen.
    Thomas Medicus: Ja, ich denke, man muss zwei Faktoren berücksichtigen. Einmal die Außenperspektive - ich muss nur nennen den Brexit, Trump, Erdogan, die Krise der Europäischen Union, die Nordkorea-Krise und so weiter. Das beeindruckt uns ja im Inneren auch, sind allerdings in meinem Buch eher die Hintergrundgeräusche.
    Was jetzt Deutschland im Inneren angeht, da hat sich dann irgendwann einmal der Abgasskandal aufgedrängt, und von dem sind wir alle affiziert und der beeindruckt uns alle, insbesondere auch diejenigen, die mit dem Auto pendeln und Angst haben, dass sie ihren Diesel nicht mehr benutzen können.
    Aber es gibt auch andere Dinge wie der Rechtsradikalismus, der sehr stark bei uns geworden ist, wie wir alle wissen. Es gibt aber auch Phänomene wie Landflucht, die niedrige Geburtenrate, und die sogenannte Flüchtlingskrise ist ein ganz, ganz wichtiges Ereignis.
    Fecke: Aber es gab doch immer Krisen. Es gab die Krise, als das Land zusammengewachsen ist oder zusammenwachsen sollte, als die Mauer fiel. Es gab doch immer Krisen. Warum ist das Land jetzt verunsichert?
    Medicus: Ich glaube, es gibt eine allgemeine Stimmung der Ängstlichkeit, der Unsicherheit, der zunehmenden Unübersichtlichkeit. Das halte ich für ganz wichtig. Man hat schon immer von Unübersichtlichkeit gesprochen, aber ich würde die These vertreten, dass Deutschland eigentlich jetzt erst fast, vielleicht immer noch nicht ganz, aus dem Schatten der alten Blockwelt herausgetreten ist, aus der Welt des Kalten Krieges, wo die Welt ja sehr geordnet war in einen westlichen und einen östlichen Block.
    Wir sagen immer, die deutsche Einheit, die ist ja jetzt schon 27 Jahre her. Aber ich würde sagen, sie ist erst 27 Jahre her und 27 Jahre hat es vielleicht tatsächlich gedauert, bis diese alte Blockwelt fast völlig zerfallen ist, aber es immer noch eine gewisse Sehnsucht unter Umständen danach gibt. Ja, da war alles geordneter. Wir neigen ja alle dazu, das was früher war dann etwas idyllischer zu sehen, als es tatsächlich gewesen ist.
    Ich glaube schon, dass die Unübersichtlichkeit in den letzten Jahren sehr stark zugenommen hat. Und wir wissen alle, dass die Weltkarte dabei ist, sich neu zu ordnen. Welche Rolle wird China, welche Rolle werden die USA spielen, und der Brexit ist eigentlich nur ein Ausdruck dafür.
    "Wir Deutschen leben nicht isoliert"
    Fecke: Aber das klingt mir eigentlich nicht nach einer deutschen Verunsicherung, sondern nach einer europäischen.
    Medicus: Wir leben ja auch nicht isoliert als ein Deutschland, oder wir Deutschen leben nicht isoliert. Es dringt ja viel über unsere Grenzen, was ich im Übrigen in meinem Buch auch berücksichtigt habe. Es gibt auch zum Beispiel die Biografie einer Putzfrau, die in Berlin lebt, aber aus Polen kommt, eigentlich jetzt Deutsche ist, mit einem deutschen Pass schon 1988 ausgestattet wurde, aber immer noch nach Polen fährt. Das ist sozusagen ein Ausdruck dafür. Da ist natürlich nichts abgeschottet, sondern da dringt ganz viel herein und Europa ist für uns alle wichtig.
    Fecke: Das zweifele ich auch nicht an.
    Medicus: Okay.
    "Da merkt man doch, dass Lebensläufe auch plötzlich mal abbrechen können"
    Fecke: Ich wollte nur kurz darauf zu sprechen kommen, dass es eigentlich kein deutsches Phänomen ist. Die IS-Bedrohung gibt es natürlich genauso in London, wie Sie wissen, und in Paris als auch in Berlin. Die Frage von schwankenden Finanzkonstrukten und all das, das betrifft ja auch Griechenland, viel mehr noch als uns.
    Ich verstehe was Sie meinen mit Verunsicherung. Ich frage mich nur, ob das ein deutsches Phänomen ist, oder ob das nicht eigentlich fast jeden in Europa betrifft.
    Medicus: Na ja. Meine Idee war, wir leben in einem großen ökonomischen Wohlstand in Deutschland. Uns geht es besser als vielen anderen, auch als unseren Nachbarn. Und ich wollte mal ein bisschen an der Oberfläche kratzen. Da merkt man doch, dass Lebensläufe auch plötzlich mal abbrechen können, dass sie nicht mehr so geordnet verlaufen, wie wir das vielleicht noch von unseren Eltern kennen. Und da gibt es so eine gewisse soziale Statusangst oft, dass man vielleicht doch abstürzen könnte, und ich glaube, das hat zugenommen.
    Fecke: Glauben Sie nicht, dass das eher eine Angst ist, die die Generation noch betrifft, die das wirklich kannte: Man ist irgendwo angestellt, man wird auch sehr schnell angestellt, und man kann, wenn man möchte, da ein Leben lang bleiben. Und dass die Generation, die jetzt ins Berufsleben geht, das gar nicht so gekannt hat und deswegen auch gar nicht so verunsichert ist?
    Medicus: Da bin ich mit mir im Zweifel. Es kommt immer darauf an, mit wem man dann spricht. Die Pastorin in Neumünster zum Beispiel, die hat mir von Jugendlichen berichtet, bei denen das schon der Fall ist. Da gibt es eine gewisse Orientierungslosigkeit. Die beklagte sich darüber, oder es war vielleicht weniger eine Klage als eine fast schon soziologische Beschreibung von Verhältnissen in einem kleinen Ort am Rande von Neumünster, wo es den Leuten ökonomisch ganz gut geht.
    Es gibt dann aber das Faktum: Die haben keine Zeit mehr füreinander und auch nicht richtig für ihre Kinder. Nicht, dass die das nicht haben wollen, aber die müssen pendeln, die haben sich ein Haus angeschafft, die haben zwei Autos, die man vielleicht auch braucht, um zu seinem Arbeitsplatz zu kommen, und da bleiben dann die Kinder ein bisschen auf der Strecke. Das äußert sich darin, dass die Eltern nicht in der Lage sind, wiewohl sie das vielleicht auch möchten, den Kindern Werte zu vermitteln. Das ist das, was mir die Pastorin erzählt hat, und da springt sie dann als Pastorin oder als Repräsentantin in dem Fall der Evangelischen Kirche ein, macht Freizeitwochenenden für 14-, 15-, 16-Jährige, und da kommen dann oftmals ganz überraschende, auch deprimierende Äußerungen zustande.
    Fecke: Zum Beispiel?
    Medicus: Na ja. Da gibt es dann Jugendliche, die sich dann anfangen zu ritzen, oder sich mitten nachts auf die Straße stellen, mitten auf die Straße, und mal gucken, was da so passiert, wenn sie jetzt stehenbleiben. Das sind ein paar Symptome und Phänomene, wo man dann sieht, wie das hinter dieser Wohlstandsfassade doch ganz anders und sehr bedenklich aussieht.
    Fecke: Herr Medicus, Sie haben viel zugehört in Ihrer Recherchezeit.
    Medicus: Ja, das war meine Hauptsache.
    "Das sind Unterschiede, wo man merkt, die Geografie hat auch eine ganz große Bedeutung"
    Fecke: Gab es Unterschiede, die Sie ausmachen können, zwischen Ost und West?
    Medicus: Ja. Ich bin ja von Görlitz nach Aachen gefahren. Görlitz ist eine problematische Stadt.
    Fecke: Dabei ist sie sehr hübsch.
    Medicus: Sehr, sehr schön. Ich kann nur jedem empfehlen, dort hinzufahren. Eine wunderschöne Stadt, die mich sehr begeistert hat. Es stimmt einen etwas melancholisch – deshalb, wiewohl die Stadt zwar in den Sommermonaten sehr viele Touristen anzieht, dass der Bevölkerungsschwund jetzt allmählich gestoppt ist und die Talsohle erreicht ist. Aber der war immens in den letzten Jahren seit der Wende. Neue Arbeitsplätze entstehen kaum.
    Görlitz liegt in einer Randlage, nämlich in einem deutsch-polnisch-tschechischen Dreiländereck. Wenn man das mit Aachen vergleicht, auf der ganz anderen Seite Deutschlands, so liegt die Stadt auch in einem Dreiländereck, nämlich Deutschland, Niederlande und Belgien. Aachen geht es ökonomisch noch nicht mal so wahnsinnig gut. Da gibt es auch Arbeitslosenzahlen, die geringfügig unter denen von Görlitz liegen. Aber Aachen hat den immensen Vorteil, trotz Randlage mitten in einem europäischen Gebiet zu liegen, das ökonomisch sehr, sehr gut dasteht: Der Anschluss an die Niederlande, Hauptverkehrswege, seien es Flüsse, seien es Autobahnen etc. etc., Eisenbahnen.
    Fecke: Sie haben auch eine Universität.
    Medicus: Die Universität, genau. Die habe ich in meinem Buch auch erwähnt. Ganz, ganz wichtiger Faktor. Das sind 30.000 Leute, die dort arbeiten. So was schafft auch Arbeitsplätze. Die gehen auch dann nicht so schnell verloren. Die Universität gibt es schon ganz, ganz lange.
    Das alles haben wir in Görlitz nicht. Görlitz lag zwar auch mal an Handelswegen, aber die existieren schon lange nicht mehr.
    Das sind Unterschiede, wo man merkt, die Geografie hat auch eine ganz große Bedeutung. Wenn da mal Handelswege erloschen sind, dann bleibt man in dieser wunderschönen Ecke, in der Görlitz liegt, mehr oder weniger für sich und muss ordentlich strampeln.
    Fecke: Sie sagen ja "nach der Idylle" in Ihrem Titel, rein von der Landschaft her, am Fluss gelegen, und auch von den Gebäuden, auch vom Renovierungsgrat ist Görlitz ja wirklich sehr idyllisch.
    Medicus: Ja.
    Fecke: Sie meinen natürlich nicht die landschaftliche Idylle.
    Medicus: Nein.
    Fecke: Sondern Sie meinen was für eine?
    Medicus: Wie ich gerade schon gesagt habe. Rückblickend erscheint es einem so, als ob doch in dieser alten Welt, die bis 1989 und noch darüber hinaus Bestand hatte, vieles einfacher war. Die alte Bundesrepublik war außenpolitisch für sich selbst nicht wirklich verantwortlich. Da gab es die Siegerstaaten, die die Verantwortung übernahmen. Wir waren ökonomisch äußerst erfolgreich, mussten aber politisch keine Verantwortung übernehmen. Das hat sich ja alles geändert.
    Fecke: Oft zeigt sich ja so eine Verunsicherung auch in den Wahlergebnissen.
    Medicus: Ja.
    Fecke: Was wünschen Sie sich denn für diese Wahl?
    Medicus: Für diese Wahl wünsche ich mir vor allem, dass es der AfD nicht gelingt, auf den dritten Platz zu kommen. Das fände ich doch ein ganz, ganz fatales Zeichen.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Thomas Medicus: "Nach der Idylle. Reportage aus einem verunsicherten Land"
    Rowohlt Berlin 2017, 19,95 Euro.