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César Aira: "Die Wunderheilungen des Doktor Aira"
Schmunzelnder Kafka

Wunder gibt es nicht - es sei denn, man inszeniert sie so wie César Aira. Der argentinische Großmeister des Kurzromans wandelt in seinem aktuellen Buch zwischen Illusion und Wirklichkeit. So geheimnisvoll wie komisch erzählt er von den Erlebnissen des "Doktor Aira" in Buenos Aires.

Von Dirk Fuhrig |
Blick nach Norden über die Avenida 9 de Julio, die Hauptverkehrsachse von Buenos Aires (Aufnahme vom November 2005). Sie misst mit ihren zehn Fahrspuren 125 Meter in der Breite. An der Kreuzung Avenida Corrientes steht als Wahrzeichen der Stadt ein 67,5 Meter hoher Obelisk, der am 25.05.1938 zum 400. Gründungstag aufgestellt wurde.
César Airas Hauptfigur flaniert durch die Straßen von Buenos Aires (dpa / Horst Brix)
Der Wunderheiler ist ein Schlafwandler. Sein Unterbewusstsein ertastet sich die Wirklichkeit im schachbrettartigen Koordinatensystem der argentinischen Hauptstadt.
"Eines Tages fand sich Doktor Aira bei Morgengrauen flanierend auf einer von Bäumen gesäumten Straße eines Viertels von Buenos Aires wieder. Er litt unter einer Art Somnambulismus, und es geschah nicht selten, dass er in fremden Nebenstraßen wieder zu Bewusstsein kam, die er in Wirklichkeit gut kannte, da sie allesamt gleich aussahen."
Argentinischer Don Quijote
Diesen "Doktor Aira" muss man sich als eine Art Ritter von der traurigen Gestalt vorstellen. Er mäandert so ziellos durch Buenos Aires wie einst sein berühmter Vorgänger durch die windmühlenbestückte Mancha:
"Sein Leben war das eines halb zerstreuten, halb aufmerksamen (halb ab- und halb anwesenden) Spaziergängers, der sich in diesem Wechselspiel seine Kontinuität erschuf, will sagen, seinen Stil oder, mit anderen Worten und um den Kreis zu schließen, sein Leben."
Mit traumwandlerischer Sicherheit also kommt dieser knapp 50-jährige Flaneur durchs Leben - und durch diese Geschichte, die von Fantasie und Wirklichkeit, der Macht der Einbildung und dem Wirken geheimer Mächte berichtet. Es bleibt völlig offen, wie die Umwelt darauf kommt, dass "Doktor Aira" ein Arzt mit magischen Kräften ist.
"Tatsächlich hätte sich Doktor Aira mit dem Hinweis aus der Affäre ziehen können, es läge ein Irrtum vor, ein Missverständnis, er sei doch Theoretiker, fast könne man sagen 'ein Schriftsteller', und dass alles, was ihn mit den Wunderheilungen verband, eine Art Metapher sei … Gleichzeitig war es aber auch keine Metapher, sondern real, und in diesem Realitätscharakter lag ihre Wahrheit."
Meister des Kurzromans
In César Airas Texten wimmelt es von Männern, die neben sich stehen. Argentiniens am ungewöhnlichsten schreibender Gegenwartsautor äußert sich fast ausschließlich in knapper, höchst kondensierter Form. Dutzende "Kurzromane" hat er veröffentlicht, bei uns wurde er durch "Der kleine buddhistische Mönch" und "Wie ich Nonne wurde" bekannt.
Aira wird vielfach mit Franz Kafka verglichen. Die Rätselhaftigkeit und das Ausgeliefertsein, das Gefühl, überwacht und verfolgt zu werden, oder einfach nur Ratlosigkeit gegenüber den Zumutungen der Existenz - all das kommt in Airas umfangreichem Werk vor. Wenn der Vergleich zutrifft, dann ist er ein verschmitzt lachender, ein schmunzelnder, ein hochkomischer Kafka. Seine Sprache ist geprägt von einem leicht altertümelnden, karikierenden Unterton, den Christian Hansen in seiner Übersetzung sehr gut getroffen hat.
Philosophisches Räsonnement
Dass der Schriftsteller für seine Wunderheiler-Figur den eigenen Namen gewählt hat, ist nicht ungewöhnlich, Herr Aira stolperte schon häufiger durch das Werk des Autors. Der Kaffeehaus-Literat César Aira, der im Stadtviertel "Flores" lebt, durch das auch Doktor Aira irrt, liebt das philosophische Räsonnement ebenso wie sein somnambuler Held.
"Ein Wunder würde im Fall seines Eintretens die möglichen Welten in Bewegung setzen, da ja eine Unterbrechung der Kausalkette in der Wirklichkeit nicht eintreten konnte, ohne dass sich eine andere Kette herausbildete und mit ihr eine andere, andersartige Totalität. (…) De facto war die Welt bloß eine, und daher rührte der unanfechtbare Einspruch gegen das Wunder."
So denkt der Wunderdoktor Aira vor sich hin bei seinem rastlosen Umherstreifen durch die Stadt. Ob er seine philosophischen oder pseudophilosophischen Schlussfolgerungen selbst begreift, bleibt in diesem surrealen Szenario offen.
"Und tatsächlich, es gab keine Wunder, das konnte jeder, der ein bisschen gesunden Menschenverstand besaß, bestätigen. Wer wie Doktor Aira nicht einmal an Gott glaubte, konnte diesbezüglich nicht den geringsten Zweifel hegen. Dass es keine bereits geschehenen Wunder gab, hieß aber wohlgemerkt nicht, dass sie nicht geschehen könnten; der Aberglaube, die Unwissenheit, die Leichtgläubigkeit bestanden darin, zu denken, Wunder könnten sich einfach so ereignen, in der Natur. Sie zu erzeugen, herzustellen, als Artefakte oder, noch besser, als Kunstwerke, war allerdings möglich."
Wahrheit und Lüge
Dem Künstler sind die Gesetze der Natur einerlei. Er schafft sich eine eigene Welt mit Hilfe seiner schöpferischen Kraft. Den Text, der jetzt auf Deutsch erscheint, hat Cesar Aira bereits 1998 geschrieben. Damals sprach man noch lange nicht von "Fake News". Aber genau darum geht es hier, um Wahrheit und Lüge und darum, wie sich die Wirklichkeit von ihrer Inszenierung unterscheiden lässt.
Doktor Aira lebt in der realen Welt, die durch die Straßen und Häuser von Buenos Aires definiert ist. Doch was sich innerhalb dieser Kulisse abspielt, könnte eine Illusion sein, ein Krimi oder eine Reality-Show. Der Protagonist wird in einen Krankenwagen gezerrt und in ein Hospital verschleppt, damit er Wunderheilungen vollbringe. Bei einem Superreichen, der im Endstadium an Krebs erkrankt ist, soll er seine Künste ebenfalls anwenden. In dessen Krankenzimmer ist jedoch alles hergerichtet wie an einem Filmset:
"Es gab Stühle, Sessel, Tische, Bücherregale und eine beträchtliche Anzahl elektronischer Geräte. Obwohl sie das Auffälligste waren, dauerte es eine Weile, bis er zwei hochmoderne, auf Stative gepflanzte Fernsehkameras entdeckte, eine auf jeder Seite des Bettes, mit den entsprechenden Kameramännern, zwei jungen Leuten mit drahtlosen Kopfhörern. Zum selben Ensemble gehörten offensichtlich die eingeschalteten Scheinwerfer, an strategischen Punkten positionierte Mikrofone in großen, fellbezogenen Windkörben, schallschluckende Paneele und ein Toningenieur, der an der Wand vor einem Pult mit unzähligen Knöpfen saß."
Heillose Verwirrung
Ist das "Versteckte Kamera", macht man sich lustig über den verzweifelten Helden? Ist alles eine billige Farce? - Doktor Aira wird es selbst nie ergründen, aber der Leser kann sich amüsieren über die heillose Verwirrung des armen Mannes, der es nicht schafft, die Wahrheit zu sagen: dass er nämlich gar kein Heiler ist. Und daher seine Rolle spielt, so verrückt es auch sein mag. Das Finale wirkt wie das einer Boulevardkomödie:
"Äußerlich betrachtet, wenn man nicht wusste, worum es ging, ähnelte die angewandte Heilung einem Tanz ohne Musik und Rhythmus, einer Art Tanzakrobatik, dazu bestimmt, wie man meinen könnte, einem ungeborenen Versuchsexemplar des Menschlichen Form zu verleihen. Man musste zugeben, dass es reichlich schwachsinnig aussah. Er ähnelte einem Quijote, der unsichtbare Feinde mit Hieben traktierte, nur dass sein Schwert ein Bündel metaphysischer Wandschirme war und sein Kontrahent das Universum. Paff! Er krachte gegen einen Stuhl und ging kopfüber und mit zappelnden Beinen zu Boden; sein Scheitel hinterließ auf dem Teppich einen feuchten runden Fleck."
Nach dieser Zirkusnummer ist der Mann mit den vermeintlichen Zauberkräften auf dem harten Boden der Realität angekommen.
Um César Airas Literatur zu erfassen, muss man sich auf sein groteskes, mitunter albernes Spiel einlassen. Illusion und Wirklichkeit, die Weiten des Universums und die Fallstricke der Alltagsexistenz liegen dicht beieinander. Aira ist ein herrlich verschrobener Sprachkünstler, ein Wunderdoktor der humoristischen Literatur.
César Aira: "Die Wunderheilungen des Doktor Aira"
aus dem argentinischen Spanisch von Christian Hansen
Verlag Matthes & Seitz Berlin, Berlin. 110 Seiten, 16 Euro.