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Edmond und Jules de Goncourt: "Manette Salomon"
Kluges und süffiges Lesevergnügen

Kaum zu begreifen: Erst jetzt, 150 Jahre nach seiner Veröffentlichung, erscheint der Roman "Manette Salomon" der Gebrüder Edmond und Jules Goncourt auf Deutsch. Ein staunens- und lesenswertes Buch - dem die Übersetzerin Caroline Vollmann zu Brillanz und heutiger Frische verholfen hat.

Von Jan Koneffke | 21.01.2018
    Buchcover: Edmond & Jules De Goncourt: “Manette Salomon”
    Den Prix Goncourts kennt jeder, der sich für Literatur interessiert - die Romane der Brüder Edmond und Jules Goncourt hingegen kaum jemand. Das könnte sich mit der Erscheinung der deutschen Übersetzung von “Manette Salomon” jetzt ändern. (Buchcover: Die Andere Bibliothek, Foto: dpa / picture alliance / bifab)
    Es ist sicher nicht falsch, von den Brüdern Edmond und Jules De Goncourt mit einem paradoxen Begriff als "anachronistischen Zeitgenossen" zu sprechen. Ihre utilitaristische Gegenwart, die sich mit Sentimentalität paarte, blieb ihnen fremd, hingegen galt beider Zuneigung dem 18. Jahrhundert und seinem aristokratischen Geist, was sie dazu befähigte, das literarische Rokoko als Kunstform zu entdecken. Die zunehmende Vereinzelung des Künstlers in der modernen Gesellschaft nahmen sie ebenso scharfsinnig wahr, wie sie im Einfluss der Académie Française auf die damalige Kunst das falsche Komplement dieser Entwicklung erkannten.
    Gegen-Akademie und Prix Goncourt
    Edmond de Goncourt, der seinen mit erst 39 Jahren verstorbenen Bruder Jules um 26 Jahre überlebte, versuchte daher, den Akademismus mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, indem er selbst eine Akademie gründete, deren Mitglied nur sein durfte, wer nicht der Académie Française angehörte. Aus Goncourts Gegen-Akademie sollte schon bald der wichtigste französische Literaturpreis, der berühmte Prix Goncourt hervorgehen, der dafür sorgte, dass die beiden Brüder nie gänzlich in Vergessenheit gerieten, auch wenn man über ihre Romane kaum noch sprach.
    Das war immer ungerecht. Ebenso ungerecht wie die Tatsache, dass sie von der Sensation um die erst 1956 vollständig erschienenen Tagebücher - mehr als 7.000 Seiten voller scharfsichtiger bis sezierender tagtäglicher Beobachtungen des Pariser Gesellschaftslebens, nicht zuletzt frivolem Klatsch um die bedeutendsten Schriftsteller und Künstler ihrer Zeit, Wissenschaftler, politische und wirtschaftliche Prominenz, Damen der Gesellschaft und der Halbwelt - die Romane umso stärker in den Hintergrund drängten.
    Literarischer Naturalismus
    Die Goncourts, diese anachronistischen Zeitgenossen, waren anachronistisch nicht nur in Bezug auf die Vergangenheit, sondern auch in Bezug auf die Zukunft - als deren Vorläufer. Besonders mit ihrem Buch um das Dienstmädchen "Germinie Lacerteux" von 1865 lieferten sie das erste Beispiel des literarischen Naturalismus, dessen Begründung man im Allgemeinen dem unendlich berühmteren Emile Zola zuschreibt, der wiederum ein großer Bewunderer des besagten Romans war. Das ästhetische Programm des Naturalismus definierte Emile Zola in den Jahren 1881/82, fast zwanzig Jahre nach Erscheinen der "Germenie Lacerteux", mit folgenden Worten:
    "Unser Held ist nicht der reine Geist, der abstrakte Mensch des 18. Jahrhunderts, sondern er ist das physiologische Objekt unserer jetzigen Wissenschaft, ein Wesen, das aus Organen zusammengesetzt ist und das von einem Milieu zeugt, von dem es jeden Moment durchdrungen wird. (…) Alle seine Sinne wirken auf seine Seele ein; in jeder ihrer Bewegungen wird diese vorangetrieben oder zurückgehalten durch das Sehen, das Riechen, Hören, den Geschmack, den Tastsinn (…). Der Naturalismus in der Literatur ist (…) die Rückkehr zur Natur des Menschen, die direkte Beobachtung, die genaue Anatomie, die Feststellung und Wiedergabe dessen, was ist."
    Rückkehr zur Natur des Menschen
    Bei der Lektüre des großen Künstlerromans der Goncourts, "Manette Salomon"von 1867, erinnert man sich automatisch an diese Zola‘sche Definition des Naturalismus, und das nicht nur bei der Stelle, die vom Maler namens Crescent und seiner Rückkehr zur Natur handelt:
    "Crescent war einer der großen Vertreter der modernen Landschaftsmalerei. Er hatte sich einen Namen und einen eigenen Platz geschaffen in der großen Bewegung der Rückkehr der Kunst und des Menschen des 19. Jahrhunderts zur natürlichen Natur. (…) Als einer der ersten hatte er mutig gebrochen mit der historischen Landschaft, der zusammengesetzten und traditionellen Gegend, der Petersilie des Laubwerks, dem monumentalen, dreihundert Jahre alten Zedern- oder Buchenbaum, der unausweichlich ein Verbrechen oder eine mythologische Liebe beschirmt. Er hatte das erste Feld, die erste Wiese, das erste Wasser aufgesucht; und dort war ihm die ganze Natur erschienen und hatte zu ihm gesprochen."
    Es liegt auf der Hand, dass die Begriffe "Natur", "Natur des Menschen"und "natürliche Natur" sowohl hier als auch bei Zola mit Vorsicht zu genießen sind. So erzählt der Naturalismus vom Menschen als gesellschaftlichem Wesen; längst ist ihm sein Milieu zur zweiten Natur geworden. Und auch Crescent muss als großer "Vertreter der modernen Landschaftsmalerei" in diesem sieben Jahre vor dem offiziellen Geburtsdatum des Impressionismus erschienenen Roman Feld, Wiese und Wasser ja erst wieder herstellen, damit sie erscheinen können - wie am ersten Tag. Dass das geheime Telos des Buches aber die Rückkehr zur Unmittelbarkeit ist, einer komplizierten und komplexen Unmittelbarkeit freilich, wie sie nicht dem Naturburschen, sondern dem Kulturmenschen vorschwebt, belegt sein letzter Satz:
    "Und im Licht des beginnenden Tages, in diesen leichten Stunden, in der Helligkeit, die den Tau trinkt (…), im Blau des frischgeborenen Himmels (…) in der Einsamkeit der besucherlosen Alleen (…), umgeben von diesem vertrauten und vertrauensvollen Tierreich, das an ein himmlisches Land erinnert, erlebt der frühere Bohemien bisweilen noch einmal die Freude des Paradieses, und in ihm steigt, beinahe überirdisch, so etwas wie die Glückseligkeit des ersten Menschen beim Anblick der jungfräulichen Natur auf."
    Mehr vom Künstlerleben angezogen als zur Kunst berufen
    Das den philosophischen Kern des Romans "Manette Salomon" umspielende Schlussbild stammt aus dem Pariser Jardin des Plantes, mithin einer Kulturlandschaft. Aber wie zentral seine Bedeutung ist, lässt sich auch daran erkennen, dass das Buch, ungefähr zwanzig Jahre früher, eben in diesem Jardin des Plantes anhebt. Bei dem "früheren Bohemien", von dem hier die Rede ist, handelt es sich um eine der vier Hauptfiguren des Buches - wenn man die titelgebende Gestalt, die Mätresse "Manette Salomon" außer Acht lässt, die sich zu den anderen vier männlichen Hauptfiguren einigermaßen exzentrisch verhält.
    Er heißt Anatole Bazoche und wird seine Rolle als Possenreißer, die er schon auf den ersten Seiten spielt, nie mehr ablegen. Es ist auch kein Zufall, dass dieser Anatole, der von Anfang an "mehr vom Künstlerleben angezogen als zur Kunst berufen" ist, ungefähr auf der Mitte der Romanstrecke den Eindruck hat, dass die Natur ihn als Maler ohnehin überträfe und der liebe Gott entschieden stärker sei als die Malerei, weshalb er es vorzieht, wie die Autoren in treffender und schöner Ironie formulieren, in der Natur "nach der Natur zu schlafen".
    Großartige Charaktere
    Großartig an diesem Buch sind zunächst seine Charaktere, die Ergebnis feinster literarischer Porträtkunst sind. Es handelt sich um vier Anti-Helden allesamt - ja, selbst wo sie erfolgreich sind, gescheiterte Künstler in diesem um 1840 in den Pariser Ateliers einsetzendem Künstlerroman. Da ist zunächst der bereits erwähnte Anatole, ein liebenswerter, meistens bettelarmer Antispießer und Taugenichts, dem es an Beharrlichkeit und Ausdauer für die Kunst mangelt. Dass er sich zum Maler ausbilden lässt, ist von Anfang an ein Missverständnis.
    "Er träumte vom Atelier. Er sehnte sich mit den Vorstellungen des Gymnasiums und den Begierden seiner Natur dorthin. Was er dort sah, waren die Horizonte des Lebens der Boheme, die, aus der Ferne betrachtet, bezaubern: der Roman der Armut, die Sprengung von Fesseln und Regeln, die Freiheit, die Ungebundenheit des Lebens, der Zufall, das Abenteuer, das Unvorhergesehene aller Tage (…), das Possenspiel mit dem Bürger, die unbekannte Wollust beim Anblick des Frauenmodells, die Arbeit, die nicht weh tut (…): Das waren für ihn die Bilder und Versuchungen, die für ihn die strenge und ernste Kunstkarriere ausmachten."
    Sein engster Freund, der vermögende, aufbrausende, elegante und bei Frauen erfolgreiche Naz de Coriolis, ist von anderem Kaliber: ein wahrer Künstler auf der Suche nach neuen malerischen Ausdrucksmöglichkeiten, der Skandale auslöst und zeitweilig Anerkennung findet, sich am Ende aber selbst im Weg steht. Ganz anders als der mittelmäßige, jedoch mit dem Prix de Rome ausgezeichnete, bald einflussreiche und angesehene akademische Maler Garnotelle.
    "Garnotelle war das Beispiel dessen, was der Wille ohne Begabung, die unfruchtbare Anstrengung, der Mut zur Mittelmäßigkeit, die Geduld in der Kunst vermögen (…). Von armen Arbeitern abstammend, hatte er das Glück gehabt, nicht in Paris auf die Welt zu kommen, und er hatte rund um seine elende Berufung jede Protektion gefunden, die in der Provinz den zukünftigen Ruhm einer Lokalgröße unterstützt und hätschelt."
    Der vierte im Bunde ist der rätselhafte Chassagnol, der als immer ekstatischer Theoretiker der Kunst gegen die Tradition wettert, die seit der Dampfmaschine und der Revolution von 1789 erledigt sei, die akademische Malerei, den Prix de Rome und ganz Rom samt der "erstickenden Atmosphäre seiner Kunstwerke" verabscheut und als Apologet des Fortschritts Zeitgenossenschaft und Originalität verlangt. Kein Zufall wiederum, dass Chassagnol, dieser Verfechter der Moderne, mit der Natur nichts anfangen kann und dass ihn nur interessiert , "was der Mensch gemacht hat": das Artefakt.
    Eine Prosa, die "sieht"
    "Manette Salomon" erzählt nicht nur auf lebendigste Weise von den Lebenswegen und Schicksalen seiner vier Anti-Helden. Der Roman entwirft darüber ein Sittenbild der Pariser Gesellschaft um die Mitte des vorvergangenen Jahrhunderts. Gelegentlich tritt der auktoriale Erzähler als Chronist auf, lässt sich über Beziehung und Netzwerke in der Kunstwelt aus oder im Allgemeinen über die Problematik des ästhetischen Urteils, und ergeht sich in kunstgeschichtlichen, geradezu essayistischen Ausschweifungen, die angesichts der umwälzenden Kunstentwicklungen dieser Zeit besondere Anziehungskraft besitzen - umso mehr, als die Goncourts dabei keineswegs auf die Nennung historischer, in der Ausgabe dankenswerterweise durch Fußnoten erklärter Gestalten, Maler und Malschulen verzichten.
    "Die große Parteigängerschaft Garnotelles bestand aus der ernsthaften, mächtigen und angesehenen Schule, hervorgegangen aus Professoren und Staatsmännern, die Kunstkritiker waren, der doktrinären und philosophischen Schule des Schönen, der Armee denkender Schriftsteller, die noch nie ein Gemälde gesehen haben, selbst während sie es anschauten, die niemals jene ergreifende Freude angesichts eines Farbtons empfunden haben, jene einmalige Empfindung, von der Chevreuil sagt, die sei für das Auge so stark wie die Empfindung angenehmer Süße für den Gaumen."
    Der Begeisterung für die Farbe folgend, zeichnet sich der Roman nicht nur durch seine intensiven Gemäldebeschreibungen aus. Den Goncourts gelingen in "Manette Salomon" selber überaus malerische Beschreibungen, sei es von Gesichtern, Tieren oder Landschaften, die dem Leser den Eindruck vermitteln, als könne diese Prosa "sehen". So heißt es über die Sommervergnügungen und Wasserfreuden in der Landschaft um Paris:
    "Der prächtige Tag goss die Milde seines samtigen Blaus über die Schattenhöhlen und das Grün der Bäume; Sonnennebel verhüllte den Mont-Valérien; südliches Licht warf einen Schimmer von Sorrent über Bas-Medon. Kleine Inseln aus roten Häusern mit grünen Läden breiteten ihre Obstgärten voll blitzender Wäsche aus. Das Weiß der Villen strahlte auf den abfallenden Hängen und dem ansteigenden langgezogenen Garten von Bellevue."
    Wer hätte bei sinnlichen Passagen dieser Art nicht gleich ein impressionistisches Bild vor Augen?
    Titelgebende Hauptfigur erst nach der Hälfte des Romans
    Es dauert freilich lange und geschieht erst ungefähr auf der Hälfte der Romanstrecke, bis die titelgebende und einzige weibliche Hauptfigur die Bühne des Buches betritt. Anfangs scheint es sich bei Coriolis' Modell, der Jüdin Manette Salomon, auch wirklich um eine Heldin zu handeln, eine naive, vielleicht ungebildete, aber auch vornehme und schöne junge Frau, die auf ihre Unabhängigkeit Wert legt.

    "Vor allem hatte sie die Idee, sich zu gehören und ihren Freiheitsraum zu bewahren. Für sie bedeutete Leben Unabhängigkeit, das Recht, alles tun zu können, was gefällt, ja selbst Dinge zuzulassen, zu denen man keine Lust hat. Sie war eine jener kleinen empfindlichen Naturen, die sich einen hübschen eigensinnigen Charakter bewahren (…). Coriolis sah keine Möglichkeit, Manettes Freiheitswillen zu besiegen. Er stellte fest, dass er keinerlei Handhabe gegen diesen eigenartigen Frauencharakter hatte. Sie schien nicht gierig zu sein. Das Mittel, das der reiche Liebhaber in Paris einsetzt, um seine Mätresse an sich zu binden, das Mittel, sie mit Vergnügungen und Luxus zu berauschen (…), verfing bei ihr nicht."
    Coriolis, der von einer Mätresse verlangt, an seiner Seite eine "bequeme, vertraute, häusliche und immer bereite Liebe" zu sein, bricht in rasende Eifersucht aus, als er feststellen muss, dass sich Manette nicht davon abhalten lässt, auch bei seinen Kollegen Modell zu stehen. "Uninteressiert an Schmuck, Seide, Samt und allem, was der Frau Luxus verleiht", liebt die junge Frau einfach nur sich selbst, ihre nackte Schönheit, und ist damit zunächst dem geheimen Telos des Romans, der Unmittelbarkeit, näher als alle anderen Figuren dieses Buches. Auch wenn Manette Coriolis erst wahrhaft zu lieben beginnt, als er Erfolg hat, ist die Triebfeder dieser Liebe nicht etwa materielles Interesse, sondern ihre geschmeichelte Eitelkeit und sinnliche Selbstliebe, die in der öffentlichen Anerkennung seiner Malerei die Wertschätzung ihres Körpers erfährt.
    Jähes Ende einer Freundschaft
    Besagter Unmittelbarkeit begegnet der Leser, sicher nicht zufällig, in einem zweiten weiblichen Charakter, der nicht zu den Hauptfiguren des Romans gehört, aber durch seine gelungene Zeichnung einen überaus starken Eindruck hinterlässt, in Madame Crescent, der Gattin des Landschaftsmalers, einer einfachen und herzlichen, in kraftvollen Bildern sprechenden Frau der französischen Provinz.
    "Madame Crescent war eine dicke und untersetzte kleine Frau, eine rundliche Erscheinung, die etwas Drolliges, Lächerliches, Komisches an sich hatte (…). Sie lachte immerzu und schimpfte immerzu. Eine Mischung aus guter Laune und Ungeduld, aus Quengelei ohne Bitterkeit ließ ihr lebhaftes Blut in ihr aufsteigen (…). Aber das Merkwürdigste an diesem Geschöpf war, dass sie ihre Gedanken nicht zurückhalten konnte (…). Sie unterhielt sich mit allem, was sie in die Hand nahm: Sie warnte eine Kartoffel, dass sie sie gleich kochen werde. Sie sprach die Kohle, den Kamin, die Töpfe an (…). Eine einzige Liebe, eine einzige Leidenschaft erfüllte Madame Crescents Leben: Sie vergötterte Tiere. Die Tiere waren ihr Glück und waren wie Kinder für sie."
    Dass die Figuren der jungen Mätresse und der einfachen Landfrau, diese beiden Heldinnen der Unmittelbarkeit, durch eine innige Zuneigung miteinander verbunden sind, ist ein besonders schöner Einfall der Autoren. Und in einem Buch, das an Schicksalswendungen beileibe nicht arm ist, ist der "jähe und tödliche Schlag", der dieser Frauenfreundschaft versetzt wird, vielleicht die dramatischste, sicher aber eine der verstörendsten Stellen, die den heutigen Leser, wie Alain Claude Sulzer in seinem Nachwort zum Roman schreibt, "möglicherweise noch stärker trifft als Goncourts Zeitgenossen". Denn mit der Zuneigung, die Crescents Frau für die Mätresse empfindet, ist es schlagartig vorbei, als sie erfährt, dass Manette Jüdin ist.
    "In der guten Frau lebte der ganze Aberglaube des Volks (…). Mit ihrem Land teilte sie die erbitterten Vorurteile, den Argwohn, den Hass, die Verachtung gegenüber dieser Rasse parasitärer Hexenmeister, die nichts produzieren, nicht säen, nicht anbauen und immer und überall aus dem Nichts auftauchen, wo es eine Kuh zu kaufen, einen Handel abzuschließen gibt (…). Es hatte sich in ihr der jähe, hartnäckige Gedanke festgesetzt, dass alles, was jüdisch war, schlecht und dazu bestimmt sei zu schaden (…). Obwohl sie nichts bei Manette sah, das diese Befürchtungen rechtfertigte (…), konnte Madame Crescent die Lehren der Kindheit und die Antipathien ihres alten lothringischen Bluts nicht besiegen."
    Antisemitisch und misogyn
    Verstörend an diesem Ende einer Freundschaft ist nicht nur das antisemitische Vorurteil, dem es blind gehorcht. Sondern auch der Umstand, dass sich eine Figur der Unmittelbarkeit wie Madame Crescent plötzlich den schlechten gesellschaftlichen Vermittlungen, altem Aberglauben und neuem Ressentiment ohne Anlass unterwirft. Doch die Goncourts sind nicht nur die neutralen Erzähler dieses niederschmetternden Bruchs. Bald nämlich geben sie sich selbst als Opfer eines uralten Antisemitismus zu erkennen, den sie an Madame Crescent beobachtet hatten. An der anfangs wunderbaren Figur der Manette Salomon lassen beide Autoren am Schluss kein gutes Haar. Aus der selbstverliebten jungen Frau, die "an Schmuck, Seide, Samt und allem, was der Frau Luxus verleiht" kein Interesse hatte und mitnichten begierig war, wird mit der Zeit eine Mutter, Ehefrau und garstige Jüdin, die "den Wert und das Talent eines Mannes nur anhand des schnöden materiellen Maßstabs: dem Käuferinteresse und dem Verkaufspreis" beurteilt.
    So verzerren die nicht nur antisemitischen, sondern zudem noch misogynen Goncourts, dramaturgisch wenig glaubwürdig, ihre Figur der Unmittelbarkeit und sinnlichen Unschuld geradezu zur Karikatur. Und das offenbar nur, um das Scheitern des Malers Coriolis, der am Ende im Spinnennetz der Ehe zappelt und von den jüdischen Verwandten ausgesaugt für die Kunst keine Kraft mehr aufbringt, zu beglaubigen.
    "Die Judenschaft schlich sich auf leisen Sohlen und unauffällig durch die Hintertür ins Haus, nahm es ganz ein, verbreitete dort den Dunst ihrer Gewohnheiten und das Gift ihres Aberglaubens. Die beiden Cousinen, die in der Provinz ihrem Kult und ihrem Ursprung näher geblieben waren (…), stießen Manette zurück in die Praktiken und die Gedankenwelt des Judentums, indem sie in der alternden Jüdin den ewigen Bestand der Rasse aufrührten, wiederfanden und wiederbelebten, das, was für alle Zeiten an Jüdischem im Blut erhalten bleibt, auch wenn dies überhaupt nicht mehr jüdisch zu sein scheint. (…) Die Frauen des Hauses, die in seinen vier Wänden herrschten, hatten keine Hemmungen mehr, Coriolis der Tyrannei von Gebräuchen zu unterwerfen, die ihm widerstrebten."
    Lesenswerter Roman - frisch wie am ersten Tag
    Während Coriolis künstlerisch Schiffbruch erleidet und menschlich zugrunde geht, der Akademiemaler Garnotelle in seiner hohlen Bedeutsamkeit erstarrt und Chassagnol noch immer auf der ekstatischen Suche nach der Idee des Schönen ist, bleibt das Glück der Unmittelbarkeit dem Taugenichts Anatole vorbehalten, der durch den Dreck der Armut waten musste, um zuletzt, dank Madame Crescent, sein Auskommen als "Hilfspräparator am Jardin des Plantes" zu finden. Denn so wie Proust wenige Jahrzehnte später durch alle gesellschaftlichen Vermittlungen hindurch auf der "Suche nach der verlorenen Zeit" war, so sind auch die "anachronistischen Zeitgenossen", die sich in der Gesellschaft tummelnden Edmond und Jules de Goncourt, in ihrem Buch auf der Suche nach der verlorenen Unmittelbarkeit. Da sie aber ihre eigene schöne Figur der Manette ohne Not preisgeben, kann es nur der tierliebende Bohemien Anatole sein, der die "Glückseligkeit des ersten Menschen beim Anblick der jungfräulichen Natur" empfindet.
    Der großartige, selbst wo er misslingt staunens- und lesenswerte Roman der Goncourts jedenfalls klingt in der Übersetzung von Caroline Vollmann so frisch wie am ersten Tag.