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"Es kommt nicht nur auf die Gene an"

Gesundheit.- Die Gene eines Menschen könnten ihn zum Essen verleiten - und damit auch zum Zunehmen. So lautet eine weit verbreitete These. Doch diese Erklärung ist zu einfach, sagt Wissenschaftsjournalist Martin Winkelheide im Gespräch mit Uli Blumenthal.

17.04.2012
    Uli Blumenthal: Im europäischen Vergleich ist Deutschland eine der dicksten Nationen. Inzwischen bringe jeder Fünfte deutlich zu viel auf die Waage, warnten Experten auf dem 118. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin, der heute in Wiesbaden zu Ende geht. Warum aber sind so viele Menschen krankhaft übergewichtig? Nun, Essen ist immer und überall verfügbar. Noch nie zu zuvor waren Kalorien zu billig wie heute. Und: Viele Menschen bewegen sich schlicht zu wenig. Warum werden manche Menschen angesichts des Nahrungsangebots und -überangebots schnell schwach und warum andere nicht? Liegen die Ursachen dafür in den Genen oder ist alles eine Frage des Verhaltens und des Willens? Martin Winkelheide hier im Studio, "Krankheit, Gene und Umwelt", so lautete das Leitthema des Kongresses in Wiesbaden. Fangen wir bei den Genen an: Genetische Dispositionen - wie groß ist die Macht der Gene bei unserem Übergewicht?

    Martin Winkelheide: Die Macht der Gene wird eher überschätzt als unterschätzt. Und zwar sind in den letzten Jahren gut zwei Dutzend Risikogene gefunden worden, die das Risiko erhöhen, dass man stark übergewichtig wird. Aber der Einfluss jedes einzelnen Gens ist doch relativ gering. Und was man eben auch gesehen hat: Es kommt nicht nur auf die Gene an, sondern auch auf die Genaktivitätsmuster. Es gibt günstige und ungünstige. Und die wiederum kann man aber auch beeinflussen. Zum Beispiel durch Sport. Das heißt, der Macht der Gene kann man was entgegensetzen - durch Bewegung - und so den Einfluss der Gene fast halbieren.

    Blumenthal: Und welche sind es, die sozusagen bei fast Halbierung trotzdem noch die wichtigen Gene sind und was wissen wir über sie?

    Winkelheide: Was man eben gesehen hat und was man aber jetzt langsam erst zu begreifen beginnt, ist, dass diese Risikogene nicht einfach nur in den Stoffwechsel eingreifen. Sondern dass sie auch darauf Einfluss haben, wie wir denken. Also dass sie sich in den Strukturen des Gehirns niederschlagen und in der Funktionsweise des Gehirns. Aber wie genau das funktioniert, das hat man eben noch nicht verstanden. Man sieht nur: Das Belohnungssystem und wie es gesteuert wird im Gehirn - dem kommt eben auch eine ganz wichtige Rolle zu.

    Blumenthal: Es gibt ja so eine Gleichung: Dicke Eltern haben dicke Kinder. Welche Rolle spielt die genetische Disposition, die die Eltern ihren Kindern mit auf den Weg geben bei der Frage: Übergewicht, ja oder nein?

    Winkelheide: Das ist eine zu einfache Gleichung, sagen die Experten. Denn es stimmt zwar: Dicke Eltern haben eher dicke Kinder. Aber es liegt eben nicht an den Genen, sondern es liegt auch an Verhaltensweisen, die Kinder eben in der Familie lernen. Also wie ernähre ich mich, was esse ich zu den Mahlzeiten, was esse ich zwischendurch, esse ich überhaupt etwas zwischendurch? Und wie viel bewege ich mich? Das heißt: Diese Faktoren, die man in der kleinen Gruppe Familie lernt, sind eben ganz wichtig. Und man hat es eben auch gesehen: Menschen, die operiert worden sind, denen der Magen verkleinert worden ist - deren Kinder sind nicht dicker gewesen.

    Blumenthal: Sie haben es gerade angesprochen - medizinische Interventionen. Da gibt es zum einen Medikamente. Das ist ja immer ein recht schneller Weg und ein schneller Zugriff, um gegen Übergewicht anzusteuern und anzukommen. Gibt es dort irgendwelche Medikamente, wo man sagt, die helfen und sind noch nebenwirkungsfrei?

    Winkelheide: Also es gibt ein Medikament, das im Moment noch zugelassen ist, aber es ist sehr unangenehm, das zu nehmen. Es reduziert die Fettaufnahme im Darm, hat aber unangenehme Nebenwirkungen. Einige zunächst vielversprechend erscheinende Medikamente sind in den letzten Jahren vom Markt genommen worden, weil sie eben zu gravierende Nebenwirkungen haben. Und man sagt heute ganz klar: Medikamente - wenn, dann sowieso nur flankierend. Man kommt nicht darum herum, den steinigen Weg zu gehen. Das heißt, genau zu gucken, warum isst jemand zu viel? Also isst er, um Stress zu verarbeiten, isst er, weil er sich belohnen will? Isst er, weil er ein frühkindliches Trauma verarbeiten muss? Oder ist er ein Nascher, also der einfach sehr viel isst und gar nicht wahrnimmt, was er überhaupt zu sich nimmt? Das heißt, das wichtigste ist Ernährungsberatung - und das nicht nur einmal, sondern das Übergewicht wirklich als chronisches Problem zu sehen, was eben chronische Hilfe braucht.

    Blumenthal: Man muss den Übergewichtigen sozusagen wie einen Raucher behandeln, wenn ich das richtig verstanden habe. Das ist ein ganzer Komplex. Ich möchte zum Abschluss aber noch auf die Frage kommen: Operation. Magenverkleinerung haben Sie ganz kurz angesprochen - schein ja auf den ersten Blick eine Operation, aber ein einfacher Weg zu sein, gegen Übergewicht etwas zu tun. Ist das wirklich so?

    Winkelheide: Ein einfacher Weg, der sehr effektiv ist, aber ein riskanter Weg. Und im Moment gibt's eher den Trend, dass zu viel operiert wird. Die Mediziner warnen eben und sagen: Wenn man Menschen, deren einziger Belohnungsmechanismus es ist, eben zu essen, den Magen verkleinert und verhindert, dass sie essen können, dann sind sie hochgradig selbstmordgefährdet und das sollte man eben als letzte Option tatsächlich für sehr stark übergewichtige Menschen anpeilen. Und sie sagen, man muss auch davon wegkommen, Übergewicht nur als individuelles Problem zu sehen, man muss es globaler sehen, eine gesellschaftliche Lösung finden. Und da sind eben dann auch Lösungen in die Runde geworfen worden, dass man sagt: Vielleicht ist es sinnvoll, Strafsteuern auf Softdrinks zu erheben, wo eben viele Kalorien drin sind, die Städte so zu gestalten, dass die Menschen Lust haben, sich zu bewegen, die Parkplätze so teuer zu machen, dass die Menschen auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen und eben Bewegung in den Vordergrund zu spielen.