Weltweit wachsen in der Coronapandemie die Schuldenberge - auch in Europa. 60 Prozent Staatsverschuldung sind laut Stabilitätskriterien für Mitgliedstaaten der Europäische Währungsunion erlaubt. Frankreich aber kam 2020 auf etwa 116 Prozent Staatsverschuldung, Deutschland immerhin auf rund 70 Prozent.
Besonders gravierend ist die Entwicklung im Süden Europas. Griechenland beispielsweise kam 2020 auf 207 Prozent Schulden des Bruttoinlandsprodukts, Italien auf rund 160 Prozent.
Momentan kaufe die Europäische Zentralbank so viele Anleihen dieser Länder auf, dass die Schulden nicht steigen würden, sagte der Wirtschafts- und Finanzwissenschaftler Thomas Mayer im Dlf. "Wenn man sich das anschaut: Die Zinsen auf italienische Anleihen sind niedriger als die auf amerikanische Anleihen. Obwohl Italien wieder eine Regierungskrise hat, interessiert das den Markt wenig, weil er weiß, die EZB kauft." Die alten Schulden würden von der EZB garantiert, so Mayer.
Doch irgendwann komme die Rechnung für die Zeche: "Die kommt dadurch, dass, wenn Sie die Zinsen immer niedrig halten, die Schulden immer weiter erhöhen, irgendwann die Inflation steigen muss. Und wenn die Inflation steigt, müsste dann die Zentralbank die Zinsen erhöhen, kann es aber nicht mehr, weil dann die Staaten bankrottgehen würden. Aufgrund der hohen Schulden werden die Zinszahlungen zu hoch, dass sie sie nicht mehr leisten könnten. Also müssen die Zinsen unten bleiben, obwohl die Inflation steigt, und dann sinkt das Vertrauen in das Geld, das die Zentralbanken emittieren. Das ist leider die Richtung, in die wir gehen."
Am Ende würden dann diejenigen bezahlen müssen, die ihr Spargeld auf Bankkonten halten oder Anleihen hoch verschuldeter Staaten haben: "Es gibt eine Art versteckte Steuer auf die Geldsparer", meint. Mayer.
Dirk Müller: Herr Mayer, neue Rekordschulden. Kann das immer so weitergehen?
Thomas Mayer: Es wird nicht immer so weitergehen können. Die Zahlen, die Sie genannt haben, sind ja inzwischen sogar schon überholt, denn die kommen aus Prognosen, die letzten Herbst abgegeben wurden. Da hatte man noch gedacht, man käme ohne eine zweite Welle durch.
Inzwischen sieht es aber so aus, als ob das vierte Quartal letzten Jahres, das erste Quartal diesen Jahres schwächer geworden ist, die Wirtschaftsaktivität noch mal zurückgegangen ist, was diese Schulden noch weiter nach oben treiben wird, denn jetzt gibt es neue Hilfen und Steuereinnahmen fallen aus. Das heißt, es wird noch etwas schlimmer werden als das. Aber, um auf Ihre Frage zurückzukommen: Ewig kann das so nicht weitergehen.
"Irgendwann kommt mal die Rechnung für die Zeche"
Müller: Wir haben die Zahlen von Eurostat jetzt ganz aktuell übernommen. Aber Sie sagen ja zurecht, die Entwicklung ist weitergegangen. Sie sagen, es kann nicht ewig so weitergehen, weil auch eine Null-Zins-Politik nicht gleichzusetzen ist mit immer mehr Schulden machen?
Mayer: Wenn Sie null Zinsen haben und wenn Sie dann noch die Laufzeiten aufs Unendliche verlängern, können Sie theoretisch natürlich unbegrenzt Schulden machen, und in diese Richtung scheint diese Entwicklung zu gehen. Allerdings gibt es kein freies Essen - "there is no lunch", sagte der berühmte Ökonom Milton Friedman.
Irgendwann kommt mal die Rechnung für die Zeche und die kommt dadurch, dass, wenn Sie die Zinsen immer niedrig halten, die Schulden immer weiter erhöhen, irgendwann ja mal die Inflation steigen muss. Und wenn die Inflation steigt, müsste dann die Zentralbank die Zinsen erhöhen, kann es aber nicht mehr, weil dann die Staaten bankrottgehen würden.
Aufgrund der hohen Schulden werden die Zinszahlungen zu hoch, dass sie sie nicht mehr leisten könnten. Also müssen die Zinsen unten bleiben, obwohl die Inflation steigt, und dann sinkt das Vertrauen in das Geld, das die Zentralbanken emittieren. Das ist leider die Richtung, in die wir gehen.
"Die alten Schulden werden von der EZB garantiert"
Müller: Ist das so, wenn die Rechnung zum Beispiel in Griechenland kommt – da ist es am schlimmsten; wir haben gesagt, 200 Prozent Staatsverschuldung inzwischen oder noch mehr, wie Sie sagen -, wenn diese Rechnung dann einmal aufgemacht wird in Athen, dann hat Europa sie wieder zu zahlen?
Mayer: Ja, es geht in diese Richtung, denn wir hatten ja schon in der Finanzkrise einen enormen Schuldenberg aufgebaut. Trotz Schuldenschnitt in Griechenland ist die Verschuldung so hoch oder wird sogar noch höher sein, wie Sie gerade sagen. Der nächste Schritt war, da einzelne Länder gewaltige Verschuldungsquoten schon haben und die höher werden, diese Schulden indirekt auf der Bilanz der EZB zu vergemeinschaften.
Das heißt, die EZB kauft einfach so viele Anleihen dieser Länder auf, dass die Schulden nicht steigen. Wenn man sich das anschaut: Die Zinsen auf italienische Anleihen sind niedriger als die auf amerikanische Anleihen. Obwohl Italien wieder eine Regierungskrise hat, interessiert das den Markt wenig, weil er weiß, die EZB kauft. Die alten Schulden werden von der EZB garantiert.
Dann ist man dazu übergegangen, neue Verschuldung zu vergemeinschaften auf der Ebene der Europäischen Union durch den EU-Wiederaufbaufonds. Das ist der nächste Schritt, den man jetzt macht, um diese Schuldentreppe, die man hinaufgeht, weiter gehen zu können. Aber wie gesagt, "there is no free lunch" - irgendwann kommt die Rechnung.
"Letztendlich führt das zur Inflation"
Müller: Und der ist ja auch nicht unendlich, dieser Rettungsfonds. Das heißt, er ist begrenzt. Und wenn wir noch einmal auf die Zahlen schauen – ich hatte die wichtigsten schon genannt -, Italien 150 Prozent, Spanien 114, Portugal 130 [Anm. d. Red: Zahlen aus dem Herbst 2020], aber auch Frankreich viel zu hoch, liegt viel zu weit und zu hoch über dem Kriterium. Wer kann und soll das bezahlen?
Mayer: Letztendlich denke ich, dass das tatsächlich zur Inflation führt, und dann bezahlen es diejenigen, die ihr Spargeld auf Bankkonten halten, diejenigen, die aus freien Stücken oder weil sie in entsprechende Finanzinstrumente investieren Anleihen dieser Staaten haben. Die Zinsen dieser Anleihen werden nicht steigen, die Inflationsrate steigt. Das heißt, die Realwerte dieser Anlagen schmilzen ab. Es gibt eine Art versteckte Steuer auf die Geldsparer.
Müller: Das wird für alle problematisch?
Mayer: Das, denke ich, ist vermutlich der Weg, den wir gehen werden. Man müsste sich natürlich überlegen, ob man das nicht besser machen könnte, indem man jetzt schon sich überlegt, wie man wieder einsparen kann, wie man möglicherweise auch diese Staaten entschulden kann. Aber die Politik agiert ja nicht vorausschauend. Das haben wir ja auch in der Pandemie-Krise gesehen. Sondern sie reagiert ja auf Entwicklungen.
"Einen harten Schuldenschnitt könnte das Finanzsystem nicht verkraften"
Müller: Weil Sie das Stichwort genannt haben, möchte ich mal kurz reingehen. Schuldenschnitt, das ist für Sie auch diskutabel, obwohl die Banken ja dann sagen, dann gehen wir bankrott?
Mayer: Das mit dem Schuldenschnitt ist so eine Sache. Ein harter Schuldenschnitt, wie wir den aus Entwicklungsländern kennen, das könnte das Finanzsystem nicht verkraften. Man könnte sich aber vorstellen, dass man einen Schuldenschnitt mit einer Geldreform verbindet. Das ist jetzt, wenn Sie so wollen, experimentelle Medizin, über die wir reden. Das ist keine Schulmedizin. Aber da gibt es Überlegungen, die kennt man schon aus der Vergangenheit.
1933 hatten namhafte amerikanische Ökonomen damals dem Staat unter Präsident Roosevelt zu einer solchen Geldreform geraten. Da wurde das Geldsystem umgestellt. Indem ein Teil der Staatsschuld auf die Bilanz der Zentralbank eingefroren wird, als Deckungsstock für das ausgegebene Geld verwendet wird, könnte man theoretisch bei uns verbinden mit der Digitalisierung des Euro. Solche Pläne sind vorstellbar, aber ich denke nicht, dass die Politik diesen Weg gehen wird, sondern man wird einfach weitergehen, bis tatsächlich die Inflation steigt und das Vertrauen in das Geld verloren geht.
Müller: Viele wundern sich: Warum können sich diese Staaten, über die wir gesprochen haben in erster Linie, Griechenland, Italien, Frankreich, Portugal, Zypern und so weiter, immer noch so teure Rentensysteme leisten?
Mayer: Das hängt natürlich auch davon ab, dass sie darauf vertrauen, dass sie durch die Gemeinschaft und insbesondere jetzt durch die Europäische Zentralbank gestützt werden. Wäre das nicht der Fall, müssten sie da Einschnitte vornehmen. Das hat Italien übrigens gemacht unter der Regierung Monti. Da war die EZB noch nicht so vollständig bereit, italienische Schulden zu stützen. Das ist jetzt vorbei.
Alle gehen davon aus, dass die EZB hinter den Staaten steht. Der Druck zum Sparen wird kleiner. Und dann kommt das, was die Ökonomen die Tragik der Allmende nennt zum Zug. Das heißt: Allmende, das ist die Gemeinschaftswiese der Bauern früher, wo die das Vieh drübertrieben und sich wenig darum kümmerten, dass die Wiese intakt blieb. Jetzt, wenn jeder Schulden machen kann und die EZB kauft die auf, achtet natürlich keiner mehr richtig darauf, dass diese Schulden wieder zurückgezahlt werden müssen.
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