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EU-Kommissar Oettinger
"Wir sind in der letzten Phase einer Euroskepsis"

EU-Haushaltskommissar Günther Oettinger (CDU) hat das Weißbuch zur Zukunft der EU gegen Kritik verteidigt. Die Vorschläge darin seien lediglich Anregungen für eine Debatte, sagte Oettinger im DLF. Er selbst glaube, in 10 bis 20 Jahren werde die EU mehr Mitglieder haben und eine weitere Generation werde "europäisch ticken".

Günther Oettinger im Gespräch mit Dirk-Oliver Heckmann | 02.03.2017
    EU-Kommissar Günther Oettinger
    EU-Kommissar Günther Oettinger (AFP / Emmanuel Dunand )
    Dirk-Oliver Heckmann: Wie soll die Zukunft Europas aussehen, wenn der Brexit erst einmal vollzogen ist? Jean-Claude Juncker stellt fünf Szenarien vor, legt sich selbst aber nicht fest. Macht er sich da nicht einen schlanken Fuß? Das habe ich vor wenigen Minuten Günther Oettinger gefragt von der CDU, den EU-Haushaltskommissar.
    Günther Oettinger: Nein, im Gegenteil. Europa, die Mitgliedsstaaten, wir haben hier einige Probleme im Inneren und einige Sorgen, die von außerhalb herrühren. Im Inneren: Noch immer haben wir eine zu hohe Arbeitslosigkeit in manchen Ländern im Süden Europas, nicht genügend Wachstum in vielen Ländern Europas. Wir haben zunehmend Populismus und Euroskepsis von rechts, aber auch von links. Und im Äußeren mit der Flüchtlingsaufgabe, mit instabilen Nachbarregionen, mit Terrorgefahren, mit Autokraten, die unsere Werteordnung in Frage stellen, egal ob sie in Ankara, in Moskau oder in Teilen von Washington D.C. arbeiten. Deswegen ist es notwendig, dass wir in diesem Jahr nicht nur 60 Jahre Römische Verträge, das heißt Geburt der europäischen Idee in Rom feiern, sondern dass wir über die Verbesserung unserer Arbeitsweise und über die Kompetenzordnung zwischen Europa und den Mitgliedsstaaten nachdenken.
    Heckmann: Aber, Herr Oettinger, ist es nicht die Aufgabe der Kommission, da auch mal eine Linie vorzugeben? Denn welche Möglichkeiten bestehen, das ist ja längst bekannt. Wozu tendieren denn Sie? Trauen Sie sich da, sich festzulegen?
    Oettinger: Die Linie wird nach dem Zeitplan, den wir gestern auch veröffentlicht haben, im Laufe des Jahres vorgeschlagen: im Mai/Juni und ganz stark dann im September vom Europäischen Parlament in Straßburg. Aber würden wir jetzt per ordre de Mufti sagen, wie es laufen soll, würden die einen sagen, das ist zu wenig, die anderen würden sagen, viel zu viel, die Eurokraten in Brüssel regieren, wir wollen mitreden. Das heißt, diese fünf Optionen sind ein Angebot an nationale Parlamente, an die Regierungen der Mitgliedsstaaten, an das Europäische Parlament, aber auch an NGOs, an die Öffentlichkeit, jetzt mal in den nächsten Wochen über die Optionen zu debattieren. Und dann können wir sehen, mit welchem Vorschlag wir im Laufe des Jahres kommen.
    "Man kann auch zwischen Optionen eine Mischung machen"
    Heckmann: Aber ich kann mir vorstellen, Sie selbst haben eine Präferenz.
    Oettinger: Natürlich! Ich halte von Vorschlag eins, nämlich einfach weiterzumachen wie bisher, nicht viel. Von Vorschlag zwei, nur einen Binnenmarkt zu ordnen, ansonsten alles andere aufzugeben, nur eine Freihandelszone zu sein, relativ wenig. Ich glaube, irgendwo zwischen den Optionen fünf, drei und vier werden wir einen Mix machen. Es geht ja darum, dass man auch zwischen Optionen eine Mischung machen kann. Ich bin mir sicher, genau in diese Richtung wird auch die Mehrzahl der Regierungschefs, die Mehrzahl der Parlamente in den Mitgliedsstaaten uns raten. Und dann hätten wir Autorität, dies auch vorzuschlagen.
    Heckmann: Herr Oettinger, Finanzminister Wolfgang Schäuble und der CDU-Europapolitiker Karl Lamers, die hatten schon im Jahr 1994 ein Kerneuropa vorgeschlagen. Jetzt kommt Jean-Claude Juncker mit dem Vorschlag eines Europa der konzentrischen Kreise. Weshalb ist jetzt gut, was vor Jahren verworfen wurde?
    Oettinger: Wir haben ja schon ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten. Die Geschwindigkeit, die nationale Währung in den Euro einzubringen, haben bisher 19 mitgemacht und werden weitere mitmachen, aber nicht alle mitmachen. Zum Beispiel Dänemark hat sich dazu nie verschrieben. Oder das Thema keine inneren Grenzkontrollen, das Schengen-Abkommen, die ganzen Regelungen der Freizügigkeit sind auch nicht mit allen bisher vereinbart. Wir haben eine Fülle von anderen Regeln, die für einige, aber nicht für alle gelten, und dies kann man ausbauen. Das ist keine neue Idee. Die haben wir von Schäuble und Lamers aus den 90ern auch in die Praxis umgesetzt. Aber es könnte auch zu komplex werden. Wichtige Aufgaben müssen gemeinsam angegangen werden. Ein Beispiel: Wenn in diesem Jahr die Roaming-Gebühren wegfallen und wir damit in ganz Europa zu gleichen Kosten ohne überraschende Aufschläge mobil telefonieren können, dann kann es ja nicht sein, dass die Regelungen in Frankreich für einen Deutschen gelten, aber in Polen oder Österreich nicht. Das wäre verwirrend. Das heißt, wir müssen schon wichtige Regeln in der gesamten Europäischen Union als Standard für alle Bürger und die Wirtschaft haben.
    "Wenn 15 Mitgliedstaaten Erfolg haben, werden andere nachfolgen"
    Heckmann: Wenn wir auf so ein Modell zulaufen, Europa der konzentrischen Kreise, der verstärkten Zusammenarbeit in bestimmten Gebieten, durch unterschiedliche Mitgliedsländer möglicherweise auch, besteht die Gefahr nicht, Herr Oettinger, dass die Zentrifugalkräfte noch verstärkt werden, dass immer mehr Länder sagen, bei jenen Punkten bleiben wir draußen, das bringt uns nichts, wir machen nur da mit, wo es dem eigenen Land nützt? Bekommen wir dann jetzt doch ein Europa à la Card?
    Oettinger: Wir haben ja einen geltenden Vertrag, den man nur einstimmig ändern könnte. Und die dort verankerten Rechte, Kompetenzen und Pflichten gelten für die meisten Mitgliedsstaaten, in vielen Themen für alle Mitgliedsstaaten. Das bleibt so. Nehmen wir aber mal neue Aufgaben an und wir haben ja neue Aufgaben. Es könnte sein, dass für die Terrorbekämpfung einige Mitgliedsstaaten sagen, die Polizeien arbeiten enger zusammen, Datenaustausch wird vereinbart, die Geheimdienste arbeiten noch besser als bisher an dem gemeinsamen Ziel der Terrorbekämpfung. Und wenn dann andere sehen, wir haben Erfolg mit 15, 20 Mitgliedsstaaten, dann werden sie vielleicht nachfolgen.
    "Alle Regierungschefs sehen zuerst die Interessen ihres Landes"
    Heckmann: Es könnte auch der gegenteilige Effekt eintreten.
    Oettinger: Aber ich bin mir sicher, dass die Zusammenarbeit der Polizeien ein Erfolg werden wird, denn der Terror und die Verbrechen kennen keine nationalen Grenzen. Also dürfen wir auch hier nicht mehr unsere Daten national verwahren, sondern müssen frühzeitig uns über Gefahren europäisch informieren.
    Heckmann: Wir müssen ja eine ziemlich stark gewachsene EU-Müdigkeit feststellen in vielen Mitgliedsländern Europas. Hängt das auch damit zusammen, Herr Oettinger, dass Europa repräsentiert wird von Politikern und Personen wie Jean-Claude Juncker, die sich vorhalten lassen müssen, jahrzehntelang beispielsweise ein System der Steuervermeidung betrieben zu haben?
    Oettinger: Jean-Claude war der frühere Regierungschef Luxemburgs, viele Jahre, und Minister in Luxemburg.
    Heckmann: Und Finanzminister.
    Oettinger: Und er hat einen Amtseid auf Luxemburg geschworen, die Interessen Luxemburgs zu vertreten, zu allererst, und er hat deswegen versucht, Wirtschaft, Arbeitsplätze, Industrie dort anzusiedeln. Man muss ihm dies, glaube ich, zugutehalten. Er ist jetzt im Vollberuf Europäer, hat jetzt die Gesamtdimension und nimmt sie auch wahr. Ich kenne eigentlich nur Regierungschefs in den Mitgliedsstaaten, die zu allererst die Interessen ihrer Bürger ihres Landes sehen und dann nur sekundär, wenn überhaupt, die europäischen Interessen wahrnehmen.
    "Wir müssen in Brüssel einen Mehrwert erarbeiten"
    Heckmann: Aber da schütteln doch viele Leute den Kopf, dass es wahr sein kann, dass in Europa auf diese Art und Weise eigene nationale Interessen in den Vordergrund geschoben werden können, zu Lasten der anderen Mitgliedsländer.
    Oettinger: Das haben wir ja in Deutschland ähnlich. Ein Regierungschef eines Bundeslandes achtet auf sein Land - Baden-Württemberg, Hamburg, Bayern, Nordrhein-Westfalen -, auch wenn dies zum Beispiel bei der Standortansiedlung zu Lasten eines anderen Bundeslandes geht. Das ist bei Bürgermeistern zum Nachbarbürgermeister der gleiche Fall. Deswegen müssen wir in Brüssel einen Mehrwert erarbeiten. Wir werden nur dort die Regierungen der Mitgliedsstaaten gewinnen, nur dort Einstimmigkeit oder Mehrheiten erzielen, wo wir Projekte vorlegen, die europäisch kostengünstiger, effizienter, besser, wirksamer erfüllt werden können.
    "Bei jungen Menschen spielen Grenzen kaum eine Rolle mehr"
    Heckmann: Kurze Frage zum Abschluss, Günther Oettinger. Wie wird Europa in 10, 20 Jahren aussehen?
    Oettinger: In 10 bis 20 Jahren werden wir mehr Mitgliedsstaaten haben, denn noch immer ist die Attraktivität, Europa beizutreten, sehr hoch. In 10 bis 20 Jahren werden wir eine junge Generation, die Erasmus-Generation, in Verantwortung haben. Unsere Kinder, auch mein Sohn, werden europäisch groß. Studium, Schule, Ausbildung, Freizeit, Urlaub, da spielen bei den jungen Menschen, die auch perfekt kommunizieren, nationale Gebietsgrenzen kaum eine Rolle mehr. Gehen Sie mal in Köln mit jungen Menschen ins Gespräch: Die kennen Eupen, die kennen Antwerpen, die kennen Maastricht, die kennen Lüttich, die kennen Rotterdam und die kennen auch Madrid und Barcelona.
    Heckmann: Aber sie halten es auch für selbstverständlich.
    Oettinger: Ja! Aber wenn sie merken, dass es in Gefahr gerät, Freizügigkeit, die eine Währung, die Möglichkeit, einen europäischen Arbeitsmarkt für die Karriere zu nutzen, ohne Probleme Waren zu beziehen, Online-Shopping, digitale Inhalte herunterzuladen in einem europäischen Binnenmarkt, dann werden sie auch dafür, egal ob in Wirtschaft, Gewerkschaft, Medien, Politik, in ihrem Amt, in ihrem Beruf eintreten und kämpfen. Ich glaube, wir sind in der letzten Phase einer Euroskepsis. In 10 bis 20 Jahren wird eine weitere Generation ganz klar europäisch ticken.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.