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Europäische Verteidigungsunion
"EU wird auf absehbare Zeit keine Aufgaben der NATO übernehmen"

Eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion, vergleichbar mit der Wirtschafts- und Währungsunion, hält Verteidigungsexperte Markus Kaim für viel zu ambitioniert. "Das Problem der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der letzten 15 Jahre ist immer der mangelnde politische Wille gewesen", sagte er im Dlf.

Markus Kaim im Gespräch mit Dirk Müller |
    Politikwissenschaftler und Verteidigungsexperte Markus Kaim
    Politikwissenschaftler und Verteidigungsexperte Markus Kaim (foto-swp)
    Dirk Müller: Eine europäische Verteidigungsunion, ein europäischer Verteidigungsfonds - wir haben das gerade konkret ausgeführt aus Brüssel gehört -, ist auch das Thema mit dem Politikwissenschaftler und Verteidigungsexperten Markus Kaim von der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin. Guten Tag!
    Markus Kaim: Ich grüße Sie, Herr Müller.
    Müller: Herr Kaim, gegen wen muss sich Europa verteidigen?
    Kaim: Ich glaube, ein reales Bedrohungsszenario liegt der europäischen Verteidigungsbemühung ja gar nicht zugrunde.
    Müller: Das ist ja schon mal gut!
    Kaim: Wenn man ein wenig zurückgeht, wie die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik entstanden ist, dann ist die Hauptzielrichtung immer gewesen: Krisenmanagement in der Peripherie Europas in dieser etwas allgemeinen Form. Mehr können wir dazu nicht sagen, weil die Bilanz der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik vergleichsweise dürftig ist, vor allen Dingen in dem Bereich, über den wir gerade sprechen, nämlich das Militärische. Wir sehen eine Reihe von Missionen bevorzugt in Afrika, bevorzugt in jüngerer Zeit nicht exekutive Missionen. Dahinter verbirgt sich Training und Ausbildung für andere, für die Sicherheitskräfte zum Beispiel in Mali, zum Beispiel in Somalia, so dass andere befähigt werden, für ihre eigene Sicherheit Sorge zu tragen. Damit hat man so einen Eindruck des geographischen Bezugsrahmens und des Ambitionsniveaus.
    "Dissens zwischen Mitgliedsstaaten"
    Müller: Aber es ziehen doch nie alle mit an einem Strang. Immer ist das äußerst problematisch. Sie haben gerade Mali als Beispiel angeführt. Einige Länder machen mit, die Deutschen ja auch, die Franzosen haben dort die Führerschaft übernommen. Aber viele andere Länder haben auch ganz klar signalisiert, klipp und klar, das ist nicht unser Interessensrahmen, da machen wir nicht mit. Was soll das Ganze?
    Kaim: In der Tat. Bettina Klein hat es ja in dem Vorbericht auch angesprochen. Das Problem der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der letzten 15 Jahre ist immer der mangelnde politische Wille gewesen und hinter dem Begriff mangelnder politischer Wille steht Dissens zwischen den Mitgliedsstaaten. Die Bundesrepublik, Frankreich und Italien sind aus verschiedenen Gründen immer an vorderster Front gewesen, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik voranzutreiben. Da stehen wir als deutsche Beobachter ein bisschen unter dem Eindruck, das sei Konsens unter den Mitgliedsstaaten, was es bei weitem nicht ist.
    Man braucht nur unseren östlichen Nachbarn anschauen: Polen. Die aktuelle Regierung steht der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sehr zurückhaltend gegenüber, sieht ihr Heil eher in der NATO. Und bei all denjenigen Bemühungen, die die Mitgliedsstaaten vorantreiben müssten, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Richtung einer Sicherheits- und Verteidigungsunion zu entwickeln, gibt es keinen Konsens. Wir befinden uns im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik im intergouvernementalen Feld der Europäischen Union. Da hat die Kommission nichts zu sagen. Und sie versucht, über dieses Programm, was jetzt vorgestellt worden ist, über ihre Kompetenzen in der Industriepolitik und in der Forschungspolitik ein Feld, was gar nicht ihres ist, zumindest voranzutreiben.
    Europäische Battelgroups: Nie eingesetzt
    Müller: Ich möchte das jetzt vielleicht noch unter einem anderen Aspekt betrachten, vielleicht ein bisschen sticheln. Sind das Brüsseler Hirngespinste?
    Kaim: Nein, das sind keine Hirngespinste. Wir sehen insofern eine interessante Wegscheide der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. In den letzten 15 Jahren ist der Ansatz vor allen Dingen gewesen, sie von oben nach unten zu entwickeln, klare, große, ambitionierte politische Ziele festzulegen in der Erwartung, dass dann die Mitgliedsstaaten diese schon umsetzen würden. Um nur eins in Erinnerung zu rufen: 1999 gab es das Ziel, 50.000 bis 60.000 Mann innerhalb von zwei Monaten in Krisengebiete verlegen zu können. Das ist niemals umgesetzt worden. Dann gab es die europäischen Battle Groups, die Kampfgruppen; die sind niemals eingesetzt worden.
    Und jetzt ist der gegenteilige Weg eingeschlagen worden, sozusagen die GSVP von unten nach oben zu bauen. Und wir haben eine Reihe von Vorschlägen, zu denen jetzt auch der Europäische Verteidigungsfonds gehört, die technisch anmuten, die bürokratisch anmuten, und die Erwartung oder die Hoffnung ist, dass über dieses Inkrementelle, diese Schritt für Schritt Kooperation mit den Mitgliedsstaaten etwas von unten wachsen würde. Das will ich nicht klein reden. Nur die groß angelegte Ambition, die häufig rhetorisch ja damit verbunden ist, nämlich dass es am Ende des Tages eine europäische Sicherheits- und Verteidigungsunion geben würde, vergleichbar der Wirtschafts- und Währungsunion, das halte ich für viel zu ambitioniert.
    Müller: Wir haben im Deutschlandfunk beispielsweise ja auch sehr, sehr häufig und ausführlich in Reportagen über die deutsch-französische Brigade berichtet. Das war ja damals auch als großer Durchbruch gefeiert worden. Jetzt haben viele das Gefühl, dass die nur noch miteinander gemeinsam kochen und kaum was unternehmen. Sind das alles so ein bisschen Schimären?
    Kaim: Nein, da ist ja auch neuer Schwung hineingekommen, neuer Schwung vor allen Dingen durch den Brexit, weil Großbritannien traditionell eher der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik skeptisch gegenübergestanden hat und die GSVP, also alles, was mit Sicherheit und Verteidigung in Europa zu tun hat, als eins der Projekte gilt oder definiert worden ist in den letzten Monaten, um die Europäische Union weiter voranzutreiben. Und wir sehen jetzt eine Fülle von kleineren Projekten, bilateralen Kooperationsprojekten, deutsch-polnisch, deutsch-tschechisch, deutsch-rumänisch, wo einzelne Truppenteile dem jeweils anderen Land unterstellt werden über Kreuz, um tatsächlich die militärische Integration von unten nach oben voranzutreiben. Das wirkt, so kleinteilig ist es auch, aber im Moment, angesichts der politischen Rahmenbedingungen, scheint es zumindest das einzige zu sein, was möglich ist. Nur tatsächlich das Problem bleibt genau das, was bereits angesprochen worden ist. Wenn das nicht begleitet ist von einem politischen Willen, in diesem Politikfeld entsprechende Schritte voranzugehen, wird das, glaube ich, tatsächlich bürokratisch versanden.
    Krisenmanagement in der Peripherie Europas
    Müller: Dann gehen wir noch mal nach oben oder von oben draufschauend. Das Stichwort ist jetzt bei uns auch schon mehrfach gefallen, auch bei Bettina Klein. Wir haben die NATO. Wir haben ein funktionierendes Verteidigungsbündnis, wie auch immer das jetzt im Einzelnen, auch im Einzelfall dann definiert sein mag, Markus Kaim - warum brauchen wir neben der NATO einen europäischen Pfeiler außerhalb der NATO?
    Kaim: Die Europäische Union wird auf absehbare Zeit keine Aufgaben der NATO übernehmen, keine Kernaufgaben der NATO übernehmen in dem Sinne der kollektiven Verteidigung, also Bündnis- und Landesverteidigung. Da stehen viele Mitglieder innerhalb der Europäischen Union diesen Bemühungen oder diesen Erwartungen ablehnend gegenüber. Und auch selbst die integrationsfreundlichsten Politiker in der Bundesrepublik sehen das nicht vor. Bündnis- und Landesverteidigung wird auf absehbare Zeit Aufgabe der NATO bleiben. Aber es bleibt ja noch vieles anderes zu tun. Ich habe es gerade am Anfang angesprochen: Das Krisenmanagement in der Peripherie Europas. Da ist ja eine Menge zu tun, wenn wir das Ganze in Verbindung bringen mit den Instabilitäten in Nordafrika, in Verbindung bringen mit den Gründen der Migrationskrise beziehungsweise der Einhegung der Gründe der Migrationskrise.
    Müller: Herr Kaim, Entschuldigung! Da treffen sich immer die Innenminister, die dann darüber reden, wie beispielsweise im Mittelmeer dementsprechend agiert werden soll, wie gegen Schlepper agiert werden soll und gegen die Migrationsbewegungen. Das sind ja nicht die Verteidigungsminister. Oder kriegen wir das nicht mit?
    Kaim: Ich glaube, in absehbarer Zeit wird das eine sicherheits- und verteidigungspolitische Aufgabe werden. Tatsächlich Mali ist ja ein gutes Beispiel, wo wir feststellen, wie Migrationsbewegungen ausgelöst werden durch politische Instabilitäten, durch Staatszerfall, durch islamistischen Terrorismus. Diese Grenze zwischen innerer und äußerer Sicherheit ist ja schon lange nicht mehr durchzuziehen. Ein Baustein dieser Bemühungen der Europäischen Kommission ist auch eine Aufwertung der Verteidigungsminister innerhalb des europäischen Entscheidungsprozesses.
    Ich glaube, die europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik wird auf absehbare Zeit sehr wichtig werden, und sie wird dann insbesondere wichtig werden, wenn die europäische Nachbarschaft weiterhin oder sogar verstärkt instabil bleiben wird. Stellen wir uns vor einen weiteren Staatszerfall mit entsprechenden humanitären Konsequenzen in Libyen, stellen wir uns vor einen Bürgerkrieg in einem gegebenen Land in Afrika. Dann würde vieles, was die Europäische Union im Bereich des Krisenmanagements militärisch wie zivil vorbereitet hat, viel stärker nutzbar gemacht werden, vor allen Dingen deshalb, weil die NATO über diese Fähigkeiten entweder gar nicht verfügt - ich denke an das zivile Krisenmanagement -, oder Krisenmanagement gar nicht mehr betreiben, angesichts der Tatsache, dass sie jetzt ja einen Pendelschwung zurück zur kollektiven Verteidigung durchgemacht hat.
    Müller: Bei uns heute Mittag im Deutschlandfunk der Politikwissenschaftler und Verteidigungsexperte Markus Kaim. Danke, dass Sie für uns Zeit gefunden haben. Ihnen noch einen schönen Tag, Herr Kaim.
    Kaim: Gerne! – Tschüss!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.