Die Coronakrise beschäftigt auch die Europäische Zentralbank (EZB). Um die wirtschaftlichen Folgen abzufedern, hat sie ein Notfallanleihekaufprogramm in Höhe von 1,85 Billionen Euro aufgelegt. Die Direktorin der EZB, Isabel Schnabel, zeigte sich im Interview der Woche im Deutschlandfunk zuversichtlich, dass der Euroraum das Jahr 2021 mit vier Prozent Wirtschaftswachstum abschließen kann. Entscheidend werde dabei aber sein, wie schnell es mit dem Impfungen vorangehe.
Schnabel äußerte sich auch zur aktuellen Diskussion um einen digitalen Euro. Es gehe dabei nicht darum, das Bargeld abzuschaffen, sondern Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zu sicherem digitalen Zentralbankgeld zu gewähren. Ob man eine digitale Währung ausgeben wolle, habe man aber noch nicht entschieden.
Klemens Kindermann: Vielleicht eine interessierte Frage vorweg: Wie arbeitet eigentlich die EZB in Corona-Zeiten? Geht das alles vom Home-Office aus?
Isabell Schnabel: Tatsächlich ist es so, dass die EZB sehr früh damit war, recht weitreichende Maßnahmen zu ergreifen. Und es befindet sich also seit viele Monaten ein erheblicher Teil der Mitarbeiter im Home-Office. Und ich finde es ehrlich gesagt ganz bemerkenswert, wie gut das funktioniert hat, denn es ist ja eine sehr komplexe Institution, die jetzt tatsächlich fast vollständig im Teleworking-Modus arbeitet.
"Tiefster Wirtschaftseinbruch seit Zweitem Weltkrieg"
Kindermann: Stichwort Corona. Die Pandemie hat die Wirtschaft der Eurozone einbrechen lassen, alleine in Deutschland um fünf Prozent letztes Jahr. Wegen der Aussicht auf Impfstoffe waren viele für das Jahr 2021 optimistischer. Jetzt gibt es die Probleme mit der Impfstoffverteilung. Es gibt mutierte Corona-Viren. Es gibt zahlreiche Lockdowns in ganz Europa. Droht doch wieder ein Rückschlag für die Wirtschaft?
Schnabel: Ja, Sie haben es ja bereits gesagt. Die Pandemie hat tatsächlich zu dem tiefsten Wirtschaftseinbruch seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Es gab ja einen dramatischen Einbruch im Zuge des ersten Lockdowns. Und dann kam es im Laufe des nächsten Jahres ja zu einer unerwartet starken Erholung. Und diese wurde jetzt eben leider durch die zweite Welle des Virus unterbrochen. Und für den Euroraum zeichnet sich schon für das vierte Quartal des Vorjahres ein negatives Wachstum ab. Und angesichts der sich weiter verschärfenden gesundheitlichen Lage in vielen Ländern ist auch mit einem sehr schwachen ersten Quartal zu rechnen. Entscheidend wird natürlich sein, wie schnell es jetzt mit den Impfungen vorangeht. Denn letztlich wird es nur dadurch möglich sein, die Pandemie dauerhaft einzudämmen. Und, wenn dann die Lockdown-Maßnahmen wieder aufgehoben werden, dann kann durchaus dasselbe passieren wie im vergangenen Jahr, dass es eben dann zu einem sehr kräftigen Aufschwung kommt.
"Positives Wachstum in diesem Jahr"
Kindermann: Wo sehen Sie denn die Wirtschaft der Eurozone am Ende des Jahres, werden wir ein deutliches Wachstum, aufs Gesamtjahr gesehen, haben?
Schnabel: Ja, es wird natürlich ein positives Wachstum in diesem Jahr geben. Wir sehen das Wachstum für den Euroraum bei knapp vier Prozent für das laufende Jahr. Aber trotzdem werden wir selbst am Ende dieses Jahres das Niveau des Bruttoinlandsproduktes der Vorkrisenzeit noch nicht erreicht haben.
Kindermann: Die Europäische Union hat sich auf einen 750-Milliarden-Euro-Plan gegen die Corona-Krise geeinigt. Reicht das Geld, um die durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Probleme zu beheben?
Schnabel: Ja, zunächst einmal möchte ich betonen, was für eine große Errungenschaft es ist, dass es tatsächlich gelungen ist, eine europäische Antwort auf diese Krise zu finden. Und jetzt heißt es erst einmal, dieses ja durchaus große Programm tatsächlich auch rasch zu implementieren und umzusetzen. Und vor allem dafür zu sorgen, dass dieses Geld eben auch sinnvoll eingesetzt wird. Denn was natürlich ganz entscheidend ist, ist, dass es gelingt, die Wirtschaft des Euroraums nach der Krise wieder auf einen höheren nachhaltigen Wachstumspfad zu bringen. Und dafür ist es erforderlich, dass das Geld genutzt wird, um zu investieren, um den Strukturwandel zu fördern, und zwar in Richtung einer digitaleren Wirtschaft, einer grüneren Wirtschaft.
Kindermann: Wenn Sie sagen, es kommt darauf an, das rasch zu implementieren, das erste Geld soll ja frühestens Mitte des Jahres fließen. Reicht das? Müsste das nicht schneller gehen?
Schnabel: Ja, man muss ja sehen, dass die Länder selbst schon einiges getan haben und auch weiterhin einiges tun werden. Das heißt, es gibt ja durchaus auch Aktivitäten auf der nationalen Ebene. Und die sind natürlich ebenfalls sehr wichtig. Aber trotzdem haben Sie natürlich vollkommen recht. Natürlich muss man sich ein bisschen beeilen, sodass dann diese europäischen Mittel auch wirklich bald verfügbar werden und genutzt werden können.
Kindermann: Sie sagen: Aktivitäten auf der nationalen Ebene. Viel hängt ja davon ab, wie die nationalen Regierungen in der Eurozone die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bekämpfen. Einige nationale Regierungen können mehr an Wirtschaftshilfen geben als andere, zum Beispiel Deutschland. Ist das für die Erholung des gesamten Euroraums ein Problem?
Schnabel: Wir sehen tatsächlich, dass die verschiedenen Länder des Euroraumes sehr unterschiedlich von der Krise betroffen werden. Und das hat ja im Wesentlichen damit zu tun, dass bestimmte Sektoren stärker von der Krise getroffen werden als andere. Wir sehen eben vor allen Dingen einen Einbruch im Bereich der Dienstleistungen. Während Bereiche wie die Industrie ja weniger stark getroffen sind und jetzt auch davon profitieren, dass beispielsweise China sich sehr schnell erholt hat. Und das führt dazu, dass es eine gewisse Divergenz im Euroraum gibt. Und hinzu kommt, dass die Länder, die jetzt besonders stark betroffen wurden, weil sie beispielsweise einen sehr großen Tourismussektor haben, auch diejenigen waren, die bereits vor der Krise in einer schwächeren Ausgangssituation waren und auch geringere fiskalische Spielräume hatten. Und gerade deshalb ist es ja so wichtig, dass es eine europäische Antwort auf diese Krise gibt.
"Massive staatliche Maßnahmen erforderlich"
Kindermann: Viele Eurostaaten, gerade die, von denen Sie gerade sprechen, erhöhen jetzt auch ihre Verschuldung deutlich. Ist das nicht gefährlich?
Schnabel: Angesichts der Schwere der Pandemie sind massive staatliche Maßnahmen erforderlich. Und das muss natürlich finanziert werden durch eine höhere Verschuldung. Hätte es diese staatlichen Maßnahmen nicht gegeben, wären die Länder in eine noch viel tiefere Krise geraten. Denken Sie an die Kurzarbeiterprogramme, die ja außerordentlich wichtig sind, um sicherzustellen, dass die Menschen ihren Arbeitsplatz behalten können. Ohne die Maßnahmen wären auch viele tragfähige Unternehmen in Konkurs gegangen. Man kann also sagen, wenn diese ganzen Maßnahmen nicht ergriffen worden wären, wäre die Krise noch viel tiefer gewesen. Und das hätte mittelfristig sogar zu einer höheren Verschuldung führen können. Für die Tragfähigkeit dieser Verschuldung ist es natürlich entscheidend, dass es den Ländern gelingt, auf einen nachhaltigen Wachstumspfad zurückzukehren. Wenn die Länder nach der Pandemie wieder kräftig wachsen, dann ist die höhere Verschuldung auch kein Problem.
Kindermann: Also, eine neue Euro-Schuldenkrise, noch mal nachgefragt, die sehen Sie nicht?
Schnabel: Nein, die sehe ich derzeit nicht.
Kindermann: In Deutschland gibt es ja aktuell eine Diskussion um eine Aussetzung der Schuldenbremse für mehrere Jahre. Wie sieht das auf europäischer Ebene aus? Da ist die Defizitgrenze von drei Prozent der Wirtschaftsleistung für die Euroländer angesichts der Pandemieverschuldung auch derzeit ausgesetzt. Müsste man hier nicht auch über eine mehrjährige Aussetzung nachdenken, um den Ländern eine Perspektive zu geben?
Schnabel: Es war sicher außerordentlich wichtig, dass das europäische Regelwerk vorübergehend außer Kraft gesetzt wurde. Genauso wichtig ist es natürlich, nach der Pandemie wieder zu einem fiskalischen Regelwerk zurückzukehren. Aber es besteht weitgehende Einigkeit darüber, dass es bei diesen Regeln einen gewissen Reformbedarf gibt, und zwar vor allen Dingen deshalb, weil diese Regeln in guten Zeiten letztlich zu wenig binden und in schlechten Zeiten zu viel. Und das schränkt tatsächlich ihre Effektivität ein. Und deshalb halte ich es durchaus für sinnvoll, die Ausgestaltung des Regelwerks zu überdenken.
EZB hat "zum Glück sehr schnell reagiert"
Kindermann: Die EZB hat im letzten Jahr ein gewaltiges Notfallanleihekaufprogramm gegen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie auf den Weg gebracht, es im Dezember sogar nochmals erhöht. Wie können Sie unseren Hörerinnen und Hörern diese gewaltige Summe erklären? Warum müssen es eigentlich unvorstellbare 1,85 Billionen Euro sein?
Schnabel: Ja, lassen Sie mich noch mal betonen, dass wir uns in der schwersten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg befinden. Und außergewöhnliche Situationen erfordern natürlich außergewöhnliche Maßnahmen. 2020 kam es zu dramatischen Verwerfungen an den Finanzmärkten, die tatsächlich an die Verwerfungen zur Zeit der globalen Finanzkrise der Jahre 2007 bis 2009 erinnerten. Die Märkte sind zusammengebrochen. Die Liquidität ist ausgetrocknet. Und gleichzeitig war es so, dass viele Unternehmen dringend Liquidität benötigten, weil ihnen ja die Einnahmen weggebrochen waren. Und das war eben die Situation, in der dann die EZB – und man kann sagen, zum Glück – sehr schnell reagiert hat und ein umfangreiches Maßnahmenpaket beschlossen hat, das im Wesentlichen zwei Komponenten hatte.
Zum einen eine umfangreiche Liquiditätsbereitstellung an die Banken zu außergewöhnlich niedrigen Konditionen. Und dann eben das von Ihnen erwähnte neue Anleihekaufprogramm, das sich eben vor allen Dingen durch eine sehr große Flexibilität auszeichnete. Und mit diesem Maßnahmenpaket ist es dann auch gelungen, die Finanzmärkte relativ rasch zu beruhigen. Aber ich möchte betonen, der eigentliche Wendepunkt in der Krise kam eigentlich erst dann, als sich die Einigung auf das europäische Rettungspaket abzeichnete. Und daran kann man eigentlich sehr schön sehen, wie sich in dieser Krise, anders als in früheren Krisen, die geldpolitischen und die fiskalpolitischen Maßnahmen gegenseitig verstärkt haben, das heißt, auch in ihrer Wirkung gegenseitig verstärkt haben. Und das war außerordentlich wichtig.
Kindermann: Das bedeutet, dass die Anleihekäufe im Rahmen dieses Notfallprogramms namens PEPP jetzt nicht noch mal erhöht werden müssen?
Schnabel: Das hängt natürlich sehr stark davon ab, wie sich die Pandemie entwickelt. Also, man kann sagen, die wirtschaftliche Entwicklung wird im Wesentlichen dadurch bestimmt, wie schnell es gelingt, diese sogenannte Herdenimmunität zu erlangen. Und da spielt eben die Impfung eine ganz herausragende Rolle. Wir haben ja im Dezember unsere Programme bereits deutlich verlängert. Eben angesichts der Tatsache, dass sich abzeichnete, dass die Pandemie auch deutlich länger dauern wird. Wir haben sie jetzt verlängert bis zum März bzw. Juni des nächsten Jahres. Und zunächst einmal hoffen wir natürlich, dass das ausreichen wird.
Kindermann: Besonders hoch verschuldete Eurostaaten müssen Renditeaufschläge auf ihre Staatsanleihen hinnehmen, wenn sie sich weiter verschulden. Jetzt die Frage: Kauft die EZB gezielt Staatsanleihen dieser Länder, um die Renditeaufschläge zu begrenzen?
Schnabel: Also, zunächst einmal ist es ja so, dass unsere Kaufprogramme so ausgestaltet sind, dass wir nach dem sogenannten EZB-Kapitalschlüssel kaufen. Das kann man sich so im Großen und Ganzen so vorstellen, dass die Anteile den Anteilen des Bruttoinlandsprodukts am gesamten Bruttoinlandsprodukt des Euroraumes entsprechen. Allerdings ist das neue Anleihekaufprogramm mit einer besonderen Flexibilität ausgestattet, die es erlauben würde, in Krisenzeiten in den Ländern mehr Anleihen zu kaufen, in denen sich besondere Verwerfungen zeigen. Und der Grund ist, dass man damit sicherstellen möchte, dass unsere gemeinsame Geldpolitik eben auch den gesamten Euroraum erreicht. Und genau eine solche Situation hatten wir im März des vergangenen Jahres, als es zu einer deutlichen Fragmentierung im Euroraum gekommen ist. Und dann wurden auch verstärkt Anleihen bestimmter Mitgliedstaaten gekauft. Allerdings hat sich dann die Situation sehr schnell wieder beruhigt. Und dadurch war das dann auch nicht mehr erforderlich, von bestimmten Ländern mehr Anleihen zu kaufen. Und so ist es dann auch gekommen, dass diese Abweichungen vom sogenannten Kapitalschlüssel dann auch wieder zurückgegangen sind.
Kindermann: Also, das Bundesverfassungsgericht hatte ja in seinem spektakulären EZB-Urteil letztes Jahr vorgeschrieben, dass die EZB genau diese Kapitalschlüssel auch erfüllen muss. Das heißt, die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, an die ja eigentlich die EZB gar nicht richtig gebunden ist, die werden aber aus Ihrer Sicht erfüllt?
Schnabel: Absolut. Also, was ja vom Verfassungsgericht besonders betont wurde, ist, dass unsere Maßnahmen verhältnismäßig sein müssen. Und das ist uns tatsächlich schon immer ein wichtiges Anliegen gewesen. Das heißt, wenn wir über Maßnahmen entscheiden, dann müssen wir uns Gedanken darüber machen, ob diese Maßnahmen überhaupt wirksam sind, ob sie angemessen sind, ob andere Maßnahmen vielleicht wirksamer wären. Und natürlich auch, ob mit den Maßnahmen Nebenwirkungen einhergehen, die möglicherweise größer sind als die eigentlichen positiven Wirkungen. Und diese Prüfung findet bei uns regelmäßig statt und spielt eben eine ganz wichtige Rolle in der Entscheidung, welche Maßnahmen tatsächlich ergriffen werden.
"Sparüberhang hat letztlich dazu geführt, dass die Zinsen gefallen sind"
Kindermann: Sie haben ja sehr deutlich dargestellt, dass Sie die Finanzierungsbedingungen für Unternehmen, für Staaten günstig halten mit diesen Anleihekäufen die Wirtschaft also stützen. Aber ist das überhaupt Ihr Mandat? Ist Ihr eigentliches Mandat nicht eigentlich die Sicherung der Preisstabilität im Euroraum?
Schnabel: Ja, da haben Sie natürlich vollkommen recht. Das Ziel ist die Sicherung der Preisstabilität. Aber das wird dadurch erreicht, dass die Wirtschaft stimuliert wird. Und das erfordert tatsächlich, dass die Finanzierungsbedingungen im Euroraum für Haushalte und für Unternehmen günstig sind.
Kindermann: Sie kaufen ja nicht nur Anleihen, sondern Sie halten auch die Zinsen niedrig. Der Leitzins liegt seit März 2016 auf dem Rekordtief von 0,0 Prozent. Wir lange müssen wir denn noch auf eine Zinserhöhung in der Eurozone warten?
Schnabel: Zunächst einmal möchte ich darauf hinweisen, dass das niedrige Zinsumfeld nicht allein mit der Geldpolitik der EZB zu tun hat. Das wird tatsächlich getrieben durch sehr langfristige makroökonomische Trends. Denn nicht zuletzt aufgrund der weltweiten demografischen Lage wird mehr gespart. Und gleichzeitig wird aber weniger investiert, weil das Produktivitätswachstum zurückgegangen ist. Und das ist ein globales Phänomen, auf das die Zentralbanken nur einen geringen Einfluss haben. Und dieser Sparüberhang hat dann letztlich dazu geführt, dass die Zinsen gefallen sind. Und das ist also nicht in allererster Linie ein Ergebnis der Zentralbankpolitik, sondern das hat zu tun mit den zugrundeliegenden makroökonomischen Faktoren. Und mit denen muss sich die Geldpolitik dann natürlich auseinandersetzen. Und, wenn dann eine Stimulierung überhaupt noch stattfinden soll, dann müssen eben die Zinsen noch niedriger gesetzt werden. Wann es zu einem Zinsanstieg kommt, kann ich Ihnen natürlich nicht voraussagen. Aber was ich Ihnen sagen kann, ist, dass ein Zinsanstieg in der jetzigen Situation verheerende Auswirkungen hätte. Und insofern sollte sich das niemand wünschen.
Kindermann: Sparüberhang wäre allerdings auch das Stichwort. Was sagen Sie denn den Sparern, die seit Jahren keine Zinsen mehr auf Ihrem Konto sehen, eigentlich fürs Alter vorsorgen wollen?
Schnabel: Für Sparer ist das derzeitige Zinsumfeld außerordentlich schwierig. Natürlich sind die Menschen nicht nur Sparer. Sie sind auch Kreditnehmer. Die Kreditnehmer freuen sich über niedrige Zinsen. Und sie müssen eben auch sehen, dass die niedrigen Zinsen – wie ich ja vorher schon beschrieben habe – die Wirtschaft stimulieren. Und das bedeutet unter anderem, dass diese Niedrigzinspolitik ganz große positive Auswirkungen hatte auf den Arbeitsmarkt. Und viele Menschen haben ihren Arbeitsplatz behalten oder einen neuen Arbeitsplatz gefunden, weil sich die Wirtschaft aufgrund der expansiven Geldpolitik besser entwickelt hat. Und insofern darf man eben nicht die Zinsen isoliert betrachten. Die meisten Bürgerinnen und Bürger des Euroraums haben von unserer Politik tatsächlich profitiert.
"Derzeit ist die Messung der Inflation gar nicht so einfach"
Kindermann: Bei den lang laufenden US-amerikanischen Staatsanleihen sehen wir im Moment einen deutlichen Anstieg der Renditen. Das ist üblicherweise so der Vorbote höherer Inflationserwartungen. Müsste die EZB jetzt schon Gegenkurs aufnehmen, sich auf eine höhere Inflation einstellen?
Schnabel: Wir sehen ja eine ganz interessante kurzfristige Dynamik. Jetzt sind ja auch gerade die ersten Schätzungen für die Inflationsrate für Januar in Deutschland veröffentlicht worden. Und die waren ja überraschend hoch.
Kindermann: Ja, aber das liegt ja an der Mehrwertsteuersenkung und am CO2-Preis, oder?
Schnabel: Da haben Sie vollkommen recht. Das hat zunächst einmal mit Sondereffekten zu tun, genau mit denen, die Sie gerade genannt haben. Man muss auch berücksichtigen, dass derzeit die Messung der Inflation gar nicht so einfach ist, weil sich ja der Warenkorb unseres Konsums relativ dramatisch verändert hat. Also, bestimmte Dinge konsumieren wir ja fast gar nicht mehr. Restaurantbesuche, Friseur, Reisen. Und das hat sich jetzt übrigens auch in dem Warenkorb niedergeschlagen, der bei der Inflationsmessung verwendet wird. Und da ist es zu recht dramatischen Veränderungen der Gewichte gekommen. Das heißt, da sind dann auch die Vergleiche über die Zeit manchmal gar nicht so einfach. Hinzu kommen übrigens in diesem Jahr dann noch die sogenannten Basiseffekte bei den Energiepreisen. Wir hatten ja einen sehr deutlichen Einbruch der Energiepreise im vergangenen Jahr. Und das führt dann dazu, dass quasi genau ein Jahr später dann die Inflation besonders hoch ist. Das heißt, wir rechnen jetzt im Laufe dieses Jahres mit einer Beschleunigung der Inflation. Allerdings darf man diese kurzfristige Entwicklung eben nicht verwechseln mit einem anhaltenden Anstieg der Inflation. Tatsächlich ist so, dass wir eine ausgeprägte Nachfrageschwäche haben. Und derzeit zeichnet sich leider auch nicht ab, dass sich das grundsätzlich ändert. Insofern gilt unsere Sorge nach wie vor eher einer zu niedrigen als einer zu hohen Inflation.
Kindermann: Die Europäische Zentralbank, die will nicht nur ihre geldpolitische Strategie auf den Prüfstand stellen, sondern auch besser kommunizieren. Ein Teil davon ist sicher dieses Interview, das wir hier gerade führen. Was gehört noch dazu, Frau Schnabel?
Schnabel: Ja, also zunächst einmal sind wir natürlich in erster Linie an unser Mandat gebunden. Und damit haben wir schon sehr viel zu tun. Wir sind in einer sehr herausfordernden wirtschaftlichen Lage und müssen jetzt sehen, wie es uns gelingt, die Inflation wieder auf ein Niveau zu bringen, das näher an unserem Inflationsziel liegt. Aber wie Sie ja wissen, unterziehen wir gerade unsere gesamte Strategie einer grundlegenden Überprüfung. Und im Rahmen dieser Strategieüberprüfung spielen dann auch ganz andere Themen eine Rolle. Sie haben bereits erwähnt, das Thema Kommunikation, das mir ganz besonders am Herzen liegt. Ein anderes Thema ist das Thema Klimaschutz.
"Klimawandel ist die größte Herausforderung"
Kindermann: Ja, da wurde ja diese Woche ein Klimaschutzzentrum der EZB gegründet oder angekündigt, es zu gründen. Warum muss sich denn eine Notenbank um Klimaschutz kümmern? Können das nicht andere besser?
Schnabel: Ja, also, Sie haben sicherlich recht, dass für die Klimapolitik in allererster Linie die Regierungen zuständig sind und nicht die Zentralbanken, die sicher nur einen relativ kleinen Beitrag leisten können. Aber man darf natürlich nicht ignorieren, dass der Klimawandel die größte Herausforderung ist, der sich unsere Gesellschaft gegenübersieht, noch viel größer als die Pandemie. Und das kann auch die EZB nicht ignorieren. Und deshalb stellen wir uns durchaus die Frage, welche Rolle wir im Rahmen unseres Mandats bei der Bekämpfung des Klimawandels spielen können.
Kindermann: Das bedeutet: grüne Anleihen kaufen?
Schnabel: Das bedeutet tatsächlich sehr Vieles. Also, zunächst einmal müssen wir uns die Frage stellen: Wie berücksichtigen wir den Klimawandel eigentlich in unseren ökonomischen Modellen? Traditionell hat der Klimawandel dort gar keinen Platz. Und das muss sicherlich geändert werden. Wir müssen uns die Frage stellen: Was für Auswirkungen hat der Klimawandel auf die Einschätzung von Risiken? Das ist wichtig für die Bankenaufsicht. Aber das ist natürlich auch wichtig für die Geldpolitik. Und dann schließlich müssen wir uns die Frage stellen: Was bedeutet der Klimawandel für unsere geldpolitischen Operationen? Und schließlich müssen wir uns natürlich auch als Institution die Frage stellen, ob wir grüner werden müssen, indem wir uns die Frage stellen, wie viele Reisen tatsächlich erforderlich sind oder wie wir beispielsweise die Mittel aus unseren Pensionsfonds investieren.
Kindermann: Noch mal die Frage: Sollte die EZB auch grüne Anleihen kaufen?
Schnabel: Das ist tatsächlich ein Thema, das jetzt sehr intensiv im Rahmen der Strategieüberprüfung diskutiert wird. Aber es ist natürlich schon jetzt so, dass die EZB in gar nicht so geringem Umfang grüne Anleihen kauft. Die Frage ist eher, ob die EZB mehr grüne Anleihen kaufen sollte als ihrem Anteil an dem derzeitigen Markt entspricht. Und das ist eine Frage, die natürlich kontrovers diskutiert wird, aber die ein ganz wesentlicher Teil auch sein wird der Strategieüberprüfung.
Kindermann: Was passiert denn, wenn die EZB ihre Anleihekäufe reduziert, weil zum Beispiel eine höhere Inflation droht? Sprachen wir vorhin drüber. Dann ist das Ausmaß des Klimaschutzes von der Inflation abhängig?
Schnabel: Ja, also, am Ende des Tages ist es natürlich so, dass es genauso möglich sein muss, die Anleihekäufe zu erhöhen wie sie einzuschränken. Und da darf man sich natürlich dann nicht von anderen Erwägungen treiben lassen als von unserem primären Mandat, dem der Preisstabilität
"Geht nicht darum, das Bargeld zu ersetzen"
Kindermann: Dann zum Schluss noch der digitale Euro, den wollen Sie auch in Angriff nehmen, prüfen das jedenfalls. Was muss man sich vorstellen? Wollen Sie eine Konkurrenz zum Bitcoin schaffen?
Schnabel: Nein. Das sicherlich nicht. Also, die Digitalisierung erfasst ja inzwischen alle Bereiche unseres Lebens. Und das wurde ja auch durch die Pandemie noch verstärkt. Das sieht man auch daran, wie die Menschen bezahlen. Da spielen digitale Zahlungen inzwischen eine größere Rolle. Also, ein digitaler Euro würde letztlich den Bürgerinnen und Bürgern einen Zugang zu sicherem digitalen Zentralbankgeld gewähren. Also, man kann sich das so vorstellen wie Banknoten in digitaler Form. Dabei geht es eigentlich nicht darum, das Bargeld zu ersetzen, das ja im Euroraum nach wie vor sehr beliebt ist. Sondern es ist einfach eine alternative Form des Geldes. Man muss natürlich sehen, dass wir derzeit ganz viele Entwicklungen sehen. Es werden private digitale Währungen entwickelt, aber auch andere Währungsräume denken darüber nach, digitale Währungen zu schaffen. Und auf eine solche Situation muss die EZB vorbereitet sein und muss eben in der Lage sein, dann gegebenenfalls selbst eine digitale Währung zu emittieren, um so die monetäre Souveränität zu sichern. Aber ich möchte noch mal betonen, es wurde hier noch keine Entscheidung getroffen. Es sind noch viele Vorarbeiten erforderlich. Aber das ist ein Thema, mit dem sich die EZB in digitalen Zeiten natürlich beschäftigen muss.
Kindermann: Mit den anderen Währungsräumen meinen Sie wahrscheinlich China. Da gibt es ja schon seit mehr als fünf Jahren entsprechende Bemühungen. Der digitale Yuan wird bereits getestet, per Verlosung unters Volk gebracht. Ist denn der Vorsprung Chinas da eigentlich noch aufzuholen?
Schnabel: Ja, also es ist so, dass manche Länder etwas früher damit begonnen haben, sich mit diesen Projekten auseinanderzusetzen. Aber es ist jetzt auch nicht so, dass da der Zug abgefahren wäre. Wichtig ist vor allen Dingen, dass man einen digitalen Euro gut vorbereitet, damit man, wenn es dazu kommt, dass dieser digitale Euro eingeführt wird, dass man eben auch ein gut durchdachtes System hat, das auch robust ist. Also, es würde, glaube ich, nichts bringen, wenn man das jetzt überstürzen würde und dann mit einem halbgaren Konzept in den Markt ginge. Dafür ist das Geld einfach zu wichtig.
Kindermann: Facebook will ja sogar auch eine eigene Währung namens Diem schaffen. Früher als Libra geplant. Wäre das eine Konkurrenz zu einem digitalen Euro?
Schnabel: Es stellt sich ja die Frage, ob diese sogenannten privaten Währungen überhaupt als Währungen zu verstehen sind, oder ob es sich dabei nicht viel eher letztlich um Anlageprodukte handelt. Also, eine Währung muss sich natürlich durch ganz bestimmte Charakteristika auszeichnen. Und dazu gehört ganz wesentlich das Vertrauen. Und ich würde jetzt mal behaupten, dass es kaum gelingen wird, dass ein privater Anbieter ein Geld schaffen kann, das ein derartiges Vertrauen genießen kann wie eben das der EZB.
Kindermann: Das war fast schon ein Schlusswort. Aber trotzdem will ich Ihnen noch eine allerletzte Frage stellen, Frau Schnabel, wenn Sie gestatten.
Schnabel: Sehr gerne.
Kindermann: Wie legen Sie persönlich eigentlich Ihr Geld an?
Schnabel: Ja, das wird immer gerne gefragt. Und tatsächlich ist es ja so, wir sind da sehr transparent. Sie können das, nicht mit Beträgen, aber zumindest mit Posten können Sie das sogar auf unserer Homepage nachlesen. Wir haben natürlich bestimmte Restriktionen. Wir dürfen beispielsweise gar nicht in Finanzinstitutionen investieren, weil wir die ja überwachen. Aber ich versuche immer in Bereiche zu gehen, die zukunftsfähig sind, also digital, ökologisch und natürlich auch in dem Bereich ETF.