Dienstag, 19. März 2024

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Familienministerin zu Flüchtlingen
"Wir sind gut genug aufgestellt, um Schutz zu bieten"

Der Bund müsse sich stärker für Flüchtlinge einsetzen und mehr Geld für ihre Unterbringung bereitstellen, fordert Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig im Interview der Woche des Deutschlandfunk. Sie sehe nicht, dass Deutschland zu viele Flüchtlinge aufnehme. Schwesig verlangte aber eine bessere europaweite Lastenverteilung. Andere Länder müssten genauso viel machen wie Deutschland.

Manuela Schwesig im Interview mit Frank Capellan | 12.04.2015
    Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig
    Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (dpa/Maurizio Gambarini)
    Capellan: "Tröglitz ist überall!" Das ist ein zentraler Satz der vergangenen Woche. Eine Warnung des Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt, von Reiner Haseloff in dem Sinne, nun, nach dem Brandanschlag auf ein gerade fertiggestelltes Flüchtlingsheim, doch nicht so zu tun, als sei dies ein rein ostdeutsches Problem. Daher die Frage an Sie, an Sie, die Familienministerin, die in Mecklenburg-Vorpommern lebt und zuhause ist: Sehen Sie das auch so - "Tröglitz ist überall" - oder ist es nicht doch so, dass Fremdenfeindlichkeit auch ein besonderes Problem der neuen Bundesländer ist?
    Schwesig: Es wäre eine große Gefahr, wenn wir glauben würden, Tröglitz ist ein Einzelfall oder Tröglitz, das ist ein Problem von Ostdeutschland. Wir haben mit Rechtsextremismus in ganz Deutschland zu tun. Ich darf nochmal erinnern, wir hatten zehn Morde, die rechtsextremistischen Hintergrund hatten, über Jahre in ganz Deutschland. Und deshalb…
    Capellan: … Die NSU-Morde.
    Schwesig: Die NSU-Morde. Und wir hatten vor kurzem die Ausschreitungen von Hooligans, die sich mit der rechtsextremen Szene zusammengetan haben, in westdeutschen Städten. Das ist kein ostdeutsches Problem. Und es wäre sehr leichtfertig, es in diese Ecke zu schieben. Wir haben insgesamt in Deutschland eine Tendenz zu ausländerfeindlichen Haltungen, auch zu rechtsextremistischen Gewalttaten. Allein die NPD hat in Deutschland 26 Demonstrationen gemacht, davon 14 in westdeutschen Städten. Das zeigt, wir haben dieses Problem in ganz Deutschland. Wichtig ist, damit offen umzugehen, aber das Problem auch nicht unter den Teppich zu kehren.
    Capellan: Wobei natürlich die NPD nach wie vor im Osten besonders stark ist. Das haben Sie auch immer wieder konstatiert, in Mecklenburg-Vorpommern zum Beispiel, dass die NPD sogar versucht, ich sage mal, Kitas zu unterwandern, in Schulen Einfluss zu gewinnen. Also das ist doch schon ein Problem, was insbesondere den Osten betrifft, oder nicht?
    "Da kann nicht alles richtig gelaufen sein"
    Schwesig: Das ist nicht nur ein Problem vom Ostdeutschland. Wir hatten auch schon den Fall, dass eine Erzieherin mit rechtsextremem Hintergrund in einem westdeutschen Bundesland tätig war. Ich glaube, dass wir teilweise in Ostdeutschland - zumindest für mein Bundesland, Mecklenburg-Vorpommern, kann ich das sagen - offener mit dem Problem umgehen. Ich selbst habe die Erfahrung gemacht, wie die NPD ihre Anhänger, aber auch Leute, die vermeintlich nichts mit der NPD zu tun haben, ausländerfeindliche Parolen schüren, wie sie auch versuchen, uns einzuschüchtern und auch Angst zu machen, indem sie auch ganz gezielt zum Beispiel auf Vertreter der Demokratie Anschläge verüben oder Drohungen machen.
    Capellan: Sie haben den Bürgermeister von Tröglitz zum Rücktritt gezwungen. Gab es da Versäumnisse? Hat man ihn im Stich gelassen seitens der Politik?
    Schwesig: Wenn ein ehrenamtlicher Bürgermeister vom Amt zurücktritt, weil er sich und seine Familie in Gefahr sieht und weil er offensichtlich für sich jedenfalls das Gefühl hat, nicht genug Rückendeckung und Unterstützung zu haben, dann kann ja nicht alles richtig gelaufen sein. Wenn man alleine steht und diesen Leuten allein die Stirn bieten muss, dann ist es sehr schwer, aber wenn man zusammen steht, über Parteigrenzen hinweg, die Kirchen, die Gewerkschaften, Unternehmer, Verbände, Sportvereine, ist es viel leichter. Wir wollen, dass in jedem Bundesland zum Beispiel ein Demokratiezentrum ist, wo man anrufen kann wenn man Sorgen hat, wenn man sieht, ein NPD-Funktionär will in den Elternrat der Schule, dann sind alle politischen Repräsentanten gefordert, gemeinsam vor Ort Flagge zu zeigen.
    Capellan: Es gibt ja da auch viele Bürgerinitiativen, die auch von Ihrem Hause unterstützt werden, die sich gegen Rechtsextremismus wenden. Da habe ich allerdings auch festgestellt, das läuft über Ihr Haus, das läuft über das Innenministerium, das läuft über das Justizministerium. Müsste man das vielleicht mehr bündeln? Es gab auch mal die Idee, dass man bundesweit einen Extremismusbeauftragten einrichtet – weil Sie eben sagten, man bräuchte eine zentrale Anlaufstelle gerade in Gemeinden, an die sich die Menschen wenden können.
    "Für ein Verbot der NPD spricht viel"
    Schwesig: Da gibt es Bedarf und wir haben bereits gehandelt. Seit Anfang diesen Jahres gibt es ein Bundesprogramm, was weggeht von "Projekteritis" - also hier mal ein Projekt, da mal ein Projekt - und dahin geht, dass wir feste Strukturen bekommen mit dem neuen Bundesprogramm "Demokratie stärken - aktiv gegen Rechtsextremismus". Wir werden in jedem Bundesland diese Demokratiezentren unterstützen. Und ich kann ja nicht als Bundesministerin hier vom "grünen Tisch" in Berlin aus sagen, was gut ist vor Ort. Jeder Ort hat seine eigenen Probleme und Spezifiken und deshalb ist es wichtig, dass wir diese Netzwerke, diese Gemeinschaft, die sich da starkmachen soll, dass nicht einer allein da steht, unterstützen. Das tun wir, und da ist ein erster großer Schritt zu festen Strukturen zu kommen. Vor allem finanzieren wir über fünf Jahre hinweg, sodass möglichst die Leute nicht immer wieder Angst haben müssen: ‚Jetzt haben wir uns was in einem Jahr aufgebaut und nächstes Jahr gibt es das nicht mehr‘. Die Gefahr in unserem Land, die kommt nicht von den Flüchtlingen, aber die kommt von den Leuten, die diese rechte Gewalt schüren. Dort liegt die Gefahr.
    Capellan: Zum Beispiel eben die NPD. Würde das Ihrer Ansicht nach - diese Vorfälle, diese Brandanschläge, die wir jetzt erlebt haben - für ein Verbot der NPD sprechen?
    Schwesig: Für ein Verbot der NPD spricht sehr viel, alleine weil es nicht sein kann, dass eine Partei unsere Demokratie, unser Grundgesetz mit den entsprechenden Rechten abschaffen will. Wir würden damit verhindern, dass diese Partei weiter Steuergelder kriegt. Das ist schon ziemlich krass, dass wir mit Steuergeldern eine Partei finanzieren, die am Ende ja unser System abschaffen will. Wir wissen aber, dass dieses NPD-Verbot dieses Gedankengut, Flüchtlinge als Blitzableiter zu nutzen, Flüchtlinge schuldig zu machen für viele Sachen, die nicht funktionieren in der Gesellschaft, dieses Gedankengut würden wir nicht durch ein NPD-Verbot wegbekommen. Das verkennen manche auch in der Politik. Es ist eine Daueraufgabe, sich gegen rechtsextremistisches Gedankengut zu stellen und da auch Mut zu haben.
    Capellan: Dieses Gedankengut wird sich möglicherweise dann auch bei anderen Parteien, ich sage jetzt mal, bei der AfD in Teilen auch, sammeln können oder bei der Pegida-Bewegung. Da haben Sie gesagt: "Die Pegida-Märsche schüren ganz bewusst Ängste, und diese Ängste müssen wir ernst nehmen." Wie macht man das am besten? Ihr Parteivorsitzender Sigmar Gabriel ist scharf kritisiert worden dafür, dass er sich mit Pegida-Anhänger zusammengesetzt hat. War das falsch? Würden Sie es anders machen?
    "Dann muss man klare Kante zeigen"
    Schwesig: Ich finde, dass man vor Ort, wenn Veranstaltungen laufen, immer gesprächsbereit sein muss. Ich habe selber Veranstaltungen erlebt, eine zum Beispiel, die massiv von der AfD unterwandert wurde. Aber man muss sich dann damit auseinandersetzen. Ich finde, wo man klar auch als Politiker ein Stoppschild setzen muss, ist wenn es zu menschenverachtenden oder auch ausländerfeindlichen Sprüchen kommt, da muss man dann klare Kante zeigen. Aber ich würde diesem Gespräch selber nicht aus dem Weg gehen. Ich finde aber schon, dass wir Politiker unsere Zeit und unsere Aufmerksamkeit da investieren müssen, wo die Leute sind, die helfen wollen.
    Capellan: Sigmar Gabriel hat genau das jetzt am vergangenen Donnerstag getan, er hat sich mit dem Landrat getroffen, ein Mann, der ja auch bedroht worden ist. Ich erwähnte eben, dass Sigmar Gabriel ja kritisiert worden ist für sein Gespräch, das er gesucht hat mit Pegida-Anhängern. Nun hat er ja offenbar versucht, auch die andere Seite zu stärken. Also ist das die richtige Vorgehensweise, dass man auf der einen Seite Sorgen und Ängste diskutiert und wahrnimmt, aber auf der anderen Seite eben auch zeigt: Wir sind bei denjenigen, die sich stark machen für die Unterbringung von Flüchtlingen in Deutschland?
    Schwesig: Ja, Sigmar Gabriel zeigt damit, dass er als Politiker gesprächsbereit ist für die eine Seite, die offene Fragen hat, die Ängste sieht, die man vielleicht selber so nicht nachvollzieht, aber eben auch für die andere Seite, für die, die sich für Flüchtlinge stark machen. Und mich stört sowieso in Deutschland, dass mehr darüber geredet wird, was jemand tut - und oft werden solche Sachen auch zerredet -, anstatt selbst hinzufahren und mit den Leuten ins Gespräch zu kommen. Sigmar Gabriel hat ein wichtiges Zeichen gesetzt mit seinem Besuch, und zwar das Zeichen, dass wir es wichtig finden, dass es Politiker vor Ort gibt, die Flagge zeigen, die sich nicht einschüchtern lassen und dass wir diese Leute unterstützen.
    Capellan: Würden Sie ein solches Zeichen auch erwarten möglicherweise von der Kanzlerin? Die hat ja zum Beispiel auch mal mutig gesagt, auch gegen Widerspruch aus der eigenen Partei: "Der Islam gehört zu Deutschland". Man könnte ja auch von ihr erwarten, da sie sich jetzt hinstellt und sagt: 'Auch Flüchtlinge gehören zu Deutschland, und wir müssen und wir wollen diese Flüchtlinge aufnehmen.' Wäre das auch ein Signal, was von ganz oben kommen könnte?
    Programm "Willkommen bei Freunden"
    Schwesig: Die Kanzlerin wird sicherlich selbst entscheiden, welche Zeichen sie zu welcher Zeit wie und wann setzen will. Wichtig ist, dass die Bundesregierung, vertreten durch Sigmar Gabriel, jetzt hier vor Ort ein Zeichen gesetzt hat, dass die Leute nicht allein sind, dass wir Politiker, die auch die Stirn bieten, die sich vor Ort einsetzen für Mitmenschlichkeit, unterstützen, und die Forderung von Sigmar Gabriel, dass der Bund auch hier finanziell sich stärker beteiligen muss, die ist wichtig. Und das wäre wichtig, dass jetzt diese Forderung auch gemeinsam mit der Kanzlerin umgesetzt wird.
    Capellan: Ist vielleicht ein Problem auch, dass die politische Debatte in den vergangenen Monaten vor allen Dingen von einem Finanzstreit geprägt wurde, von dem Streit nämlich zwischen Bund und Ländern: Wer kommt für die Kosten auf?

    Schwesig:
    Das fand ich persönlich auch sehr unglücklich, dass oft für die Leute vor Ort rüberkommt: 'Jetzt streiten sie sich wieder nur über das Geld.' Der Bund hat zugesagt, dass er die 500 Millionen gibt, und die brauchen die Kommunen auch. Die Menschen wollen, dass die Flüchtlinge zu uns kommen, aber sie erwarten auch von der Politik, dass wir das dann gut organisieren, dass die Unterkünfte bereitstehen, dass es gut funktioniert mit Kitas und Schulen und dass es nicht zu Lasten anderer wichtiger Projekte in den Städten geht. Und deswegen brauchen die Kommunen Geld und deswegen wünsche ich mir, dass diese Finanzdiskussion jetzt auch schnell mit dem Bund abgeschlossen wird. Von meinem Haus planen wir zum Sommer ein Programm "Willkommen bei Freunden". Wir werden die Kommunen unterstützen, auch finanziell, die vor Ort Flüchtlingen helfen wollen und für die das vielleicht auch Neuland ist, wo wir dann einfach zeigen: So kann es gehen. Und dann sehen auch immer mehr Bürger: Es tut Not. Meine ganz persönliche Erfahrung ist, wenn man die Geschichte hört von einem 16-jährigen Jungen, der alleine vier Monate lang quer durch Europa geflohen ist, um irgendwo sicher anzukommen, der eigentlich nichts anderes will, als die deutsche Sprache zu lernen, eine Ausbildung zu machen, dagegen kann man gar nicht sein! Das ergreift das Herz, und ich bin fest davon überzeugt, diese Begegnung mit Flüchtlingen vor Ort führt zu mehr Solidarität und ist keine Bedrohung, sondern letztendlich sehr wertvoll für unsere Gesellschaft.
    Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) spricht am 20.03.2015 am Brandenburger Tor in Berlin anlässlich des "Equal Pay Day".
    Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) (dpa / picture alliance / Stephanie Pilick)
    Capellan: Haben wir mittlerweile möglicherweise schon zu viele Flüchtlinge aufgenommen? Die Zahlen, darüber wird ja auch gestritten, der Bund sagt, es werden in diesem Jahr etwa 300.000 Asylbewerber sein, die Länder, es werden 500.000 sein. Gibt es für Sie eine Grenze, wo man sagen müsste: Mehr können wir nicht aufnehmen? Muss man auch darauf drängen, dass andere europäische Länder mehr Flüchtlinge aufnehmen, als wir in Deutschland?
    "Wir brauchen gute Fachkräfte"
    Schwesig: Deutschland nimmt nicht zu viele Flüchtlinge auf. Und da ist es auch wichtig, dass die Politik das immer wieder deutlich macht. Wir haben, auch wenn es in unserem Land viele Herausforderungen gibt, genug Platz und sind selber gut genug aufgestellt als Land, um den Flüchtlingen Schutz zu bieten. Dennoch müssen wir uns dafür einsetzen, dass auch die Europäische Union hier deutlich macht, warum es eigentlich gut ist, dass es ein gemeinsames Europa gibt, dass wir eine abgestimmte Flüchtlingspolitik haben. Ich erwarte nicht, dass Deutschland weniger macht, aber ich erwarte, dass andere europäische Länder wenigstens so viel machen, wie Deutschland, vor allem die, die das auch können.
    Capellan: Nun unterscheiden viele Bürger auch nach Kriegs- und Armutsflüchtlingen. Und da ist die Frage: Wie geht die Politik damit um? Die SPD hat ein Einwanderungsgesetz ins Gespräch gebracht - ist das die Antwort? Dieses Gesetz hat im Grunde zum Ziel, vor allen Dingen Menschen nach Deutschland zu locken, die für unseren Arbeitsmarkt von Nutzen sind. Das klingt so ein bisschen nach Rosinenpickerei.
    Schwesig: Diese Diskussion um das Einwanderungsgesetzt verhindert ja nicht, dass wir eben nicht weiter Flüchtlinge aufnehmen. Aber die Bürger wünschen sich, dass die, die wirklich in schwerer Not sind, dass denen geholfen wird und auch gut geholfen wird und schnell geholfen wird. Sie wünschen sich aber gleichzeitig, dass unser System nicht ausgenutzt wird. Und beide Wünsche, finde ich, und Erwartungen sind berechtigt und das muss Politik hinbekommen. Wir brauchen aber auch gute Fachkräfte, um weiter auch ein starkes wirtschaftliches Land zu bleiben. Und die ganzen Regelungen, die wir haben, durch die kaum noch einer durchblickt und die eben auch schnell genutzt werden für diejenigen, die gegen jeden Menschen von außen sind, dafür würde es Sinn machen, ein Einwanderungsgesetz zu machen, was ganz konkrete Regeln aufstellt, damit wir auch in unserem Land klar sind, unter welchen Bedingungen man nach Deutschland kommen kann, aber dass eben auch Systeme nicht ausgenutzt werden.
    Capellan: Das Interview der Woche im Deutschlandfunk, heute mit Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig, die auch stellvertretende SPD-Vorsitzende ist. Frau Schwesig, Ihr Parteichef hat in einem bemerkenswerten Interview über Ostern gesagt, dass er die Familienpolitik vom Kopf auf die Füße stellen möchte. Er möchte das System von Kindergeld und Kinderfreibeträgen reformieren. Er möchte im Zweifel sogar die Verfassung dafür ändern, weil er sagt: "Je mehr man verdient, desto mehr Steuern werden einem geschenkt für die Kinder". Können Sie, wollen auch Sie das ändern?
    "Steuersystem gerechter machen"
    Schwesig: Sigmar Gabriel hat ein Grundproblem angesprochen, mit dem wir uns schon lange in der Familienpolitik beschäftigen, dass wir bei Steuerentlastung vor allem denjenigen am meisten helfen, die schon ein sehr gutes Einkommen haben und diejenigen, die ein mittleres Einkommen haben, meistens nicht so viel davon profitieren. Schauen Sie sich die ganz konkreten Vorschläge an. Wir werden jetzt für eine Milliarde Euro den Steuerfreibetrag ein bisschen anheben, und vier Euro Kindergeld, das ist natürlich für Familien, die kleinere und mittlere Einkommen haben nicht so viel. Um es ganz konkret zu machen, ich als Ministerin mit einem guten Gehalt profitiere von solchen Steuerentlastungen besser als meine Freundin, die alleinerziehend ist. Und sich da Gedanken zu machen, wie kann dieses Steuersystem gerechter werden, wie kann es auch vor allem Paare erreichen, die nicht verheiratet sind, aber Kinder haben. Und deshalb ist es wichtig, dass wir uns Gedanken machen. Ein erster Schritt wäre, die bessere steuerliche Entlastung von Alleinerziehenden.
    Capellan: Da sind Sie ja gerade bei, da gibt es ja den aktuellen Streit mit den Bundesfinanzminister - da möchte ich gleich drauf zu sprechen kommen. Aber vielleicht noch einmal die Frage nach möglichen Verfassungsänderungen - das ließ ja aufhorchen. Da ist zum einen die Frage, ob die Union da mitmachen würde - wahrscheinlich eher nicht. Da kommt aber auch die Frage aus der Bevölkerung, die immer wieder gestellt wird: Warum müssen Millionäre Kindergeld bekommen? Kann man auch daran was ändern?

    Schwesig:
    Da gibt es Ideen, wie man da etwas verändern kann. Und ich glaube, meine Einschätzung ist auch, dass das zurzeit schwierig ist in dieser Koalition. Aber dennoch, wir sind ja aufgerufen, uns Gedanken zu machen, wie soll das System weitergehen. Wollen wir jedes Jahr eine Milliarde Euro in das Steuersystem packen und bei keiner Familie kommt eine wirklich spürbare Entlastung an oder trauen wir uns ein Steuerkonzept zu, womit wirklich die Familien, die Kinder haben, auch gut unterstützt werden?
    Ein Frau spricht mit ihren Kindern.
    Das neue Elterngeld hilft Müttern und Vätern, die in Teilzeit arbeiten (dpa / picture-alliance / Jan-Philipp Strobel)
    Capellan: In welcher Koalition kann man ein solch großes Ding, sage ich mal, anpacken, wenn nicht in einer Großen Koalition?
    Schwesig: Da haben Sie Recht, aber die SPD hat ja deutlich gemacht, dass wir dazu Mut hätten. Die Union muss sicherlich ihre Diskussion führen. Es gibt ja auch in der Union Diskussionen darüber, ob das Steuerrecht für Familien so bleiben kann. Es gibt 3,4 Millionen Kinder, die in Familien groß werden, wo zum Beispiel die Eltern nicht verheiratet sind, die eben ja gar nicht vom Ehegattensplitting profitieren. Das heißt nicht, dass man jetzt das Ehegattensplitting abschaffen muss, aber man muss sich ja Gedanken machen, was ist eigentlich mit diesen Familien, sollen die weiter leer ausgehen?
    "Alleinerziehende steuerlich entlasten"
    Capellan: Täuscht denn der Eindruck, dass sich die Sozialdemokraten ganz bewusst mit diesem Thema, mit der Familienpolitik, an der Union reiben wollen? Denn da gibt es ja offenbar auch große ideologisch begründete Differenzen, wenn ich ans Betreuungsgeld denke, wenn ich an die Unterstützung für Alleinerziehende denke. Ein Lebensentwurf, der ja von vielen nicht gewählt worden ist, aber der dennoch auf Ablehnung auch bei Konservativen stößt. Ist das ein Gewinnerthema in dem Sinne für die Sozialdemokraten, dass sie sich da von der Union absetzen wollen?
    Schwesig: Uns geht es gar nicht darum, in erster Linie uns von der Union abzusetzen, sondern darum, dass wir uns ganz bewusst in dieser Koalition entschieden haben, auch das Familienministerium zu besetzen und natürlich auch gute Politik für Familien machen wollen. Und wenn sich da Unterschiede zeigen, dann sind die Unterschiede ja nicht neu. Es ist bekannt, dass die SPD eher ein modernes, aufgeschlossenes Familienbild hat. Wir machen keinen Unterschied zwischen Paaren, die verheiratet sind, zwischen Nichtverheirateten, Alleinerziehenden, Patchworkfamilien, Regenbogenfamilien. Für uns ist entscheidend, wenn Menschen sich für Kinder entscheiden oder wenn Menschen pflegebedürftige Angehörige haben, dann haben sie unsere Unterstützung verdient, und wir wollen es möglichst gerecht machen. Und wenn ich nochmal auf die Alleinerziehenden schaue, das sind vor allem Frauen, aber auch Männer, die jeden Tag arbeiten gehen, jeden Tag Sozialversicherungsbeiträge zahlen, Steuern bezahlen, ganz allein Haushalt und Kinder wuppen, die haben als allererstes unsere Unterstützung verdient.
    Capellan: Genau in diesem Punkt haben Sie sich die steuerliche Entlastung für Alleinerziehende, die Erhöhung des sogenannten Entlastungsbetrages - der liegt seit Einführung im Jahr 2004 bei 1.308 Euro -, den haben Sie sich heraus verhandeln lassen. Sie wollten eigentlich ein Paket: Kindergelderhöhung, Anhebung des Kinderfreibetrages, des Kinderzuschlages und die Besserstellung der Alleinerziehenden; Schäuble, der Finanzminister hat da nicht mitgemacht. Warum haben Sie klein beigegeben?
    Schwesig: Ich habe ja nicht klein beigegeben, im Gegenteil. Mir war es wichtig, dass schon mal die drei Leistungen, die steuerliche Entlastung für Familien, die Kindergelderhöhung und der Kinderzuschlag, der vor allem Familien mit wirklich niedrigen Löhnen besonders hilft, dass wir den schon mal aufs Gleis schicken. Und über die steuerliche Entlastung für Alleinerziehende wird jetzt im Parlament weiter beraten. Und ich bin sehr zuversichtlich, dass beide Regierungsfraktionen hier eine Lösung finden werden, denn wir haben es auch gemeinsam im Koalitionsvertrag vereinbart.
    Betreuungsgeld nicht vollständig abgerufen
    Capellan: Also die Entlastung für Alleinerziehende muss kommen?
    Schwesig: Ich bin da sehr zuversichtlich, dass wir das hinbekommen.
    Capellan: Nun fordert der Finanzminister eine Gegenfinanzierung. Was können Sie ihm da bieten?
    Schwesig: Es gibt meines Erachtens zwei Möglichkeiten. Zum einen ist es ja üblich, dass steuerliche Entlastungen auch im Haushalt des Bundesfinanzministeriums gegenfinanziert werden. Das wäre möglich, weil wir haben ja hier keine Ausgabe, wir hätten hier nur weniger Einnahmen. Ein Beispiel: Den Freibetrag für Alleinerziehende um 50 Prozent anzuheben kostet 100 Millionen Euro, und wir hatten gerade in den letzten Monaten Mehreinnahmen von drei Milliarden Euro. Also ich finde schon, dass es dort verkraftbar ist. Aber selbst in dem Haushalt des Familienministeriums wäre der Spielraum, weil nicht jede Familienleistung fließt so ab, wie wir es ursprünglich geplant haben.
    Capellan: Das Betreuungsgeld.
    Schwesig: Zum Beispiel das Betreuungsgeld. Gerne kann auch dieser Puffer genutzt werden. Ich bin da sehr offen.
    Capellan: Sie reden da von 100 Millionen Euro, die im vergangenen Jahr nicht abgerufen worden sind an Betreuungsgeld?
    Schwesig: Wir haben bereits im letzten Jahr das Betreuungsgeld, den Ansatz, abgesenkt um 100 Millionen Euro, weil er nicht vollständig abgeflossen ist. Und wir rechnen auch damit in diesem Jahr. Das könnte man nutzen. Aber nochmal, es gibt auch genug Spielraum bei den Steuermehreinnahmen. Es liegt jetzt in der Hand des Parlamentes, hier eine kluge Lösung zu finden. Und ich bin sicher, dass sich darum auch alle bemühen werden…
    Capellan: Wenn das Betreuungsgeld durch das Bundesverfassungsgericht gekippt werden würde - wir haben in der kommenden Woche die mündliche Verhandlung in Karlsruhe -, dann gäbe es ja noch mehr Geld. Hoffen Sie darauf?
    Schwesig: Meine kritische Haltung zum Betreuungsgeld ist bekannt, und es wäre jetzt unglaubwürdig, so zu tun, als ob sich das geändert hätte. Das Verfassungsgericht entscheidet ja nicht über eine politische Bewertung dieses Betreuungsgeldes: Macht es jetzt Sinn, das Geld dafür auszugeben oder eher für etwas anderes? Sondern das Verfassungsgericht wird entscheiden: Ist dieses Gesetz tatsächlich verfassungsgemäß, hat der Bund zum Beispiel überhaupt die Möglichkeit, solche Gesetze auf den Weg zu bringen? Ich werde dieser Entscheidung nicht vorgreifen - kann ich auch gar nicht…
    Capellan: …das Paradoxe ist natürlich, Sie müssen jetzt das Betreuungsgeld verteidigen, obwohl Sie es ja eigentlich nie wollten.
    "Lohnlücke hat verschiedene Ursachen"
    Schwesig: Ich muss verteidigen vor dem Verfassungsgericht, dass der Bund grundsätzlich solche Gesetze machen kann. Unabhängig davon, wie man zum Betreuungsgeld steht, müssen wir ein Interesse haben, dass wir bundesweit weiter Gesetze für Familien auf den Weg bringen können. Das ist das, was ich verteidige. Wir haben ganz klar gemacht als Bundesregierung in unserer Stellungnahme, die ja schon dem Gericht vorliegt, dass diese Stellungnahme keine politische Bewertung ist, sondern eben sich ganz klar zu dieser Verfassungsfrage verhält. Und egal, wie die Entscheidung ausgeht, wird die Bundesregierung diese Entscheidung respektieren und gut umsetzen.
    Capellan: Die Gegner argumentieren ja auch damit, dass mit dem Betreuungsgeld eine alte, typische Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen manifestiert würde, was dem Grundgesetz widersprechen könnte. Die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, da sehen Sie ja auch vieles nachzuholen, was die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen angeht. Sigmar Gabriel, der SPD-Vorsitzende hat kürzlich gesagt: "Wenn Pflegerinnen und Erzieherinnen, wenn das typische Männerberufe wären, dann würden die schon längst viel besser bezahlt als sie jetzt bezahlt werden". Sie wollen mit einem Gesetz diese Lohnungerechtigkeit bekämpfen. Ist das nicht eher Sache der Tarifpartner? Wir erleben das jetzt gerade bei den Kita-Streiks, dass man versucht, da über die Gewerkschaft ver.di mehr Geld zu bekommen. Sollte sich der Staat da nicht eher raushalten?

    Schwesig:
    Der Staat kann sich nicht raushalten, wenn wir feststellen, dass in allen Bereichen - in typischen Frauenberufen, aber auch in sogenannten typischen Männerberufen - Frauen generell weniger verdienen als Männer. Das ist ja nicht nur für eine Branche so, sondern in jeder Branche, wo sie Männer und Frauen vergleichen, kommen sie immer dazu, dass es eine Lohnlücke gibt. Diese Lohnlücke hat verschiedene Ursachen. Frauen arbeiten eher in Teilzeit - oft nicht mal gewollt, sondern auch ungewollt - und bei Frauen hängt eher immer noch die Herausforderung, Zeit zu finden für die Kinder, für die pflegebedürftigen Angehörigen. Aber selbst wenn wir diese Sachen außen vor lassen, stellen wir fest, dass Frauen oftmals für den gleichen Beruf weniger entlohnt werden. Und da wollen wir mit einem Gesetz dafür sorgen, dass es mehr Transparenz gibt, dass man zum einen nachfragen kann: Warum bin ich so eingestuft? Aber zum anderen auch Unternehmen sich selbst diese Frage stellen: Wie hoch ist unsere Lohnlücke, was sind die Gründe und was kann man dagegen tun? Ein ganz wichtiger Aspekt sind die sozialen Berufe. Und da, finde ich, müssen wir in unserer Gesellschaft dringend darüber diskutieren: Wie viel Wert ist uns eigentlich diese soziale Arbeit? Warum finden wir uns damit ab, dass wir für die Altenpflege zum Bespielt weniger bezahlen? Genauso ist es jetzt mit der Erzieherin.
    "Löhne der Erzieher auf das der Grundschullehrer anheben"
    Capellan: Sie haben einen guten Abschluss eingefordert bei den Tarifverhandlungen, bei Kitas. Was wäre ein guter Abschluss?
    Schwesig: Wir müssen langfristig die Löhne der Erzieherinnen und Erzieher auf das Niveau von Grundschullehrern anheben. Nun wird man diesen Gehaltssprung nicht mit einem Mal machen können.
    Capellan: Aber wie viel Prozent wären jetzt gut und richtig und notwendig?
    Schwesig: Ja, natürlich kann ich als Bundesministerin jetzt hier nicht mit Prozentzahlen mich in diese aktuelle Tarifverhandlung einmischen, aber ich stehe ganz klar auf der Seite der Erzieherinnen und Erzieher, die mehr Wertschätzung verdient haben. Und wenn die sozialen Berufe in Deutschland endlich besser entlohnt werden, dann wäre es auch ein wichtiger Beitrag zur Schließung der Lohnlücke.
    Capellan: Wir müssen zum Ende kommen. Ich möchte noch einmal mit einer letzten Frage den Bogen spannen zum Anfang unseres Gespräches. Wir haben viel über Ost-West-Befindlichkeiten gesprochen. Wir haben darüber diskutiert, ob Ausländerfeindlichkeit ein Ostproblem ist. Wir haben immer noch ein Ost-West-Gefälle bei Löhnen und Renten. Wir haben Sie als Familienministerin eingeladen zu diesem Interview, aber auch mit dem ostdeutschen Hintergrund. Nervt Sie das, 25 nach der Einheit? Bräuchten wir endlich mehr Normalität, dass es keine Rolle mehr spielt, von wo wir stammen?
    Schwesig: Nein, es nervt mich überhaupt nicht, weil ich schon finde, dass die Frage: ´Gibt es Ost-West-Unterschiede?´ berechtigt ist. Sie ist ja für den Osten nicht immer negativ. In der Familienpolitik sehe ich zum Beispiel das Selbstverständnis, mit dem wir in Ostdeutschland groß geworden sind, Beruf und Familie zu vereinbaren, auch als junge Frauen, als etwas sehr Positives. Mich stört es nur dann, wenn es eben nur negativ immer gefragt wird, zum Beispiel in Bezug auf Ausländerfeindlichkeit. Zu denken, es wäre nur ein ostdeutsches Problem, wäre sehr, sehr fahrlässig. Aber wir können von denen, die in Ostdeutschland schon lange Probleme damit haben, lernen und wir müssen auf sie hören, wenn sie appellieren, diese Probleme ernst zu nehmen und nicht unter den Teppich zu kehren.
    Capellan: Manuela Schwesig, besten Dank für das Gespräch.
    Schwesig: Danke schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.