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Flüchtlingstragödie
"Verantwortung nicht gerecht geworden"

Norbert Röttgen hat die Europäische Union für ihre Flüchtlingspolitik kritisiert. "Die europäische Gemeinschaft ist ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden, das muss man feststellen", sagte der CDU-Außenpolitiker im Deutschlandfunk. Zugleich stellte er fest: "Wir können keinen halben Kontinent aufnehmen."

Norbert Röttgen im Gespräch mit Tobias Armbrüster | 21.04.2015
    Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen.
    Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, Norbert Röttgen. (Imago / Müller-Stauffenberg)
    Schon bei früheren Katastrophen habe sich in Europa nicht viel geändert, bemängelte Röttgen, der dem auswärtigen Ausschuss des Bundestages vorsitzt. "Hunderte sind damals ertrunken, es viel ist gesagt worden." Doch die Europäer hätten anschließend nur einen Bruchteil von dem Getan, was eine einzelne Nation - nämlich Italien - getan habe.
    Er forderte alle Länder der EU nach der aktuellen Flüchtlingskatastrophe auf, sich an der Aufnahme von Flüchtlingen soldarisch zu beteiligen. "Es gibt ganze Länder, die sich dieser Solidarität entziehen. Das ist eine Frage der Solidarität, die Europa aufbringen muss." Europa habe eine Krise der Solidarität.
    Zugleich sagte Röttgen, Europa könne "nicht einen halben Kontinent aufnehmen". Man müsse die Ursachen bekämpfen. "Es gibt immer mehr Staaten, die nicht mehr existieren. Irak, Syrien, Lybien und der Jemen befinden sich im Zerfall." Diese Länder seien von Krieg und Terror geprägt, vor dieser Not würden die Menschen fliehen. Darum müsse Europa sich "stärker kümmern".

    Das Interview in voller Länge:
    Tobias Armbrüster: Die Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer, die reißen nicht ab. Nach der Katastrophe am Wochenende mit 800 Toten sind gestern erneut zwei völlig überladene Boote gekentert. Das schwere Unglück am Wochenende, das haben noch nicht einmal 30 Menschen überlebt. Dass es um mehr geht als um Zahlen bei diesen Unglücken, das wurde gestern Abend klar: Da sind nämlich zahlreiche der Überlebenden im sizilianischen Catania angekommen und zwei mutmaßliche Schleuser wurden dort festgenommen.
    Am Telefon ist jetzt Norbert Röttgen von der CDU, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Schönen guten Morgen, Herr Röttgen.
    Norbert Röttgen: Guten Morgen, Herr Armbrüster.
    Armbrüster: Herr Röttgen, angesichts dieser Katastrophen im Mittelmeer, die wir da verfolgen, angesichts dieser Katastrophen fällt jetzt immer wieder das Wort von der Schuld europäischer Politiker. Fühlen Sie sich schuldig?
    Röttgen: Ich glaube, Schuld ist weder die Aufgabe und die Zuständigkeit von Journalisten, auch nicht von Politikern festzustellen. Aber was man feststellen muss, ist, dass die europäische Politik, die Europäer, die Staaten und die Europäer als Gemeinschaft ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden sind. Die Feststellung muss man leider treffen.
    "Die Flüchtlinge müssen solidarisch aufgeteilt werden"
    Armbrüster: Können Sie das präzisieren? Wo genau sind Sie Ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden?
    Röttgen: Vor anderthalb Jahren gab es schon einmal eine Katastrophe und es gab auch genau die Anteilnahme, die es heute auch gibt. Hunderte sind damals ertrunken und danach ist viel gesagt worden. Die Italiener haben dann ja die Aktion Mare Nostrum gestartet, die 100.000 Menschen rund gerettet hat, die viele Schleuserbanden auch zerschlagen hat, und dann ist dies eingestellt worden. Die Europäer insgesamt haben nur einen Bruchteil von dem getan, was eine europäische Nation, die Italiener, über ein Jahr getan haben, und das war offensichtlich zu wenig und das muss in der gesamten Bandbreite viel, viel mehr werden. In Seenot geratene Ertrinkende müssen gerettet werden. Die, die ankommen, die Flüchtlinge, müssen aufgenommen werden, sie müssen solidarisch aufgeteilt werden in Europa. Schlepperbanden müssen bekämpft werden und man muss mit den Staaten Nordafrikas besser kooperieren. Das ist kein Patentrezept, aber das gibt es auch nicht, aber wir müssen all das, was in unseren Kräften steht, tun und das haben wir nicht getan, und es wird jetzt dringend Zeit, dass wir es tun. Die Beschlüsse von gestern können ein Einstieg sein. Es kommt ja der Gipfel der Regierungschefs. Aber es ist noch nicht genug.
    Armbrüster: Herr Röttgen, eine Überschrift in der Frankfurter Rundschau lautet heute Morgen "Neue Tote, neue Versprechen". Können wir da Ihre gerade aufgezählten Versprechen einreihen?
    Röttgen: Nicht Versprechen, sondern es ist Handeln, das gefordert ist. Das ist der Maßstab, an dem jetzt auch Politik zu messen ist, nicht an Versprechen. Mit Worten fängt Politik an, aber sie darf damit nicht aufhören. Es geht jetzt um Taten, um Handeln, um all das Handeln, was uns möglich ist. Das ist wahrscheinlich nicht genug, aber das, was möglich ist, müssen wir tun und das ist viel mehr, als bislang getan wurde.
    Armbrüster: Ich glaube nur, wir haben diese Worte vom Handeln seit Jahren immer wieder gehört. Diese Versprechen gab es seit Jahren immer wieder. Auch immer wieder die Worte davon, dass wir in Nordafrika aktiver werden müssen, dass wir die Menschen dort abholen müssen, sie gar nicht erst dazu verleiten dürfen, nach Europa zu kommen. Geändert hat sich doch relativ wenig. Warum sollte irgendjemand jetzt glauben, dass die europäischen Politiker jetzt etwas anderes machen?
    Röttgen: Es geht nicht darum, ob das zu glauben ist, sondern es geht darum, dass gemessen und überprüft werden kann, ob es geschieht. Wir müssen das Handeln zum Maßstab machen und nicht die Worte. Die sind unausweichlich. Damit muss Politik anfangen. Man muss zusammenkommen, man muss hier Beschlüsse machen, man muss sich verständigen auf das, was getan werden muss. Aber es reicht nicht, und da stehen wir übrigens alle in der Verantwortung. Auch Journalismus steht in der Verantwortung, Themen nicht nur dann zu präsentieren, wenn sie ein Ereignis sind, sondern wir müssen dran bleiben und das ist eine gemeinsame Verantwortung, die wir in Europa haben, der wir alle bislang nicht gerecht geworden sind, und das muss sich ändern und das müssen wir auch überprüfen und unsere Aufmerksamkeit darf nicht erlöschen in dem Augenblick, in dem die Themen nicht mehr im Fernsehen und in den Medien sind.
    "Es ist unsere unmittelbare Nachbarschaft"
    Armbrüster: Muss es dann möglicherweise ein komplettes Umdenken geben? Müssen wir uns darauf einstellen, dass wir auch in Deutschland deutlich mehr Menschen aus diesen Ländern aufnehmen müssen und dass eigentlich Schluss sein muss mit dieser Abschottungspolitik im Mittelmeer, dass es nicht mehr darum gehen kann, Menschen abzuhalten von Europa, sondern dass wir ihnen Möglichkeiten geben müssen, nach Europa zu kommen, einfach auch, um solche Katastrophen zu verhindern?
    Röttgen: Es muss absolut ein grundsätzliches Umdenken geben, bei dem die Aufnahme von Flüchtlingen ein Element ist, aber nicht das einzige Element, weil es kein realistisches Instrument ist, dass wir gewissermaßen einen halben Kontinent, der aus dem Elend fliehen und der Verzweiflung fliehen möchte, bei uns aufnehmen, sondern wir müssen an den ganz unterschiedlichen Stellen ansetzen.
    Armbrüster: Sie reden jetzt, Herr Röttgen, gerade vom halben Kontinent. Ist das nicht schon wieder ein Teil des Problems? Es geht hier ja eigentlich um eine sehr überschaubare Anzahl an Staaten, in denen etwas grundsätzlich schiefläuft.
    Röttgen: Es geht um sehr, sehr viele Menschen und immer mehr Staaten, die praktisch gar nicht mehr existieren. Libyen als gesamter Staat ist zerfallen, der Jemen ist im Zerfall, Syrien ist sozusagen unter Terrorzugriff als Gesamtstaat, der Irak funktioniert nicht mehr. Also es ist eine gesamte Region im Norden Afrikas, die aus ganz unterschiedlichen Gründen im Zerfall sich befindet und unter Krieg leidet, Stellvertreterkriegen, im terroristischen Zugriff sind. Das ist die reale Not, die Verzweiflung, die dort herrscht, und darum geht es darum, Menschen, die dieser Situation entfliehen, um sich selbst zu retten, oder auch ihre Kinder aufzunehmen. Das ist eine Form von Solidarität. Die andere Form von Solidarität ist, dass die organisierte Kriminalität, die aus der Not ein Geschäft macht, bekämpft werden muss. Der dritte Punkt ist - der dauert sicherlich länger -, dass wir uns um diese Region viel mehr kümmern müssen. Das ist Teil des Umdenkens, dass wir diese Region als unsere Nachbarschaftsregion wahrnehmen müssen, um die wir uns kümmern müssen mit Ressourcen. Auf der einen Seite liegen wir in der Sonne und genießen das Mittelmeer, auf der anderen Seite ist diese Situation. Es ist unsere Nachbarschaft. Das ist wahrscheinlich das Wichtigste, dass wir erkennen, das ist nicht fern weg, sondern es ist unsere unmittelbare Nachbarschaft und die Probleme, die Menschen kommen zu uns und wir müssen uns viel grundlegender kümmern mit mehr Ressourcen.
    "Innerhalb von Europa Solidarität organisieren"
    Armbrüster: Und ist genau nicht das das Problem der Politiker in Europa, dass sie sich denken, diese Flüchtlinge, die da möglicherweise zu uns kommen, das ist für viele unserer Bürger und natürlich auch für viele unserer Wähler ein großes Problem. Wenn wir da die Kontingente erhöhen, wenn ich mal sage, wenn wir die Schleusen öffnen, dann kriegen wir ein Problem mit unseren Wählern, dann werden wir nicht wieder gewählt, also lassen wir dieses Problem, machen wir lieber neue Versprechungen, warten darauf, dass der Sommer vorbei geht, und dann läuft alles weiter wie bisher.
    Röttgen: Ja ich hoffe, dass sie es nicht so sehen. Ich sehe es jedenfalls so nicht und ich schätze auch unsere Bevölkerung so nicht ein. Es bürgert sich so ein bisschen ein, dass es Erleuchtete in der Politik und im Journalismus gibt, aber die Menschen zu dumm sind und keine Empathie haben, das nachzuempfinden. Ich stelle in unserer Bevölkerung, in meinem Wahlkreis, mit denen ich spreche, ein hohes Maß an Offenheit, an Bereitschaft zur Solidarität und Hilfe fest. Wir haben nicht diese Abschottungsmentalität. Es gibt Probleme, mit denen muss man umgehen, aber sie sind absolut lösbar. Deutschland beteiligt sich auch. Aber Europa insgesamt bringt zu wenig Solidarität auf, und darum glaube ich, verstehen die Menschen das. Sie sehen doch die Not, sie sehen die Ertrunkenen und sie wollen nicht, dass das Mittelmeer ein Meer des Todes wird, und darum besteht die Möglichkeit, mit den Bevölkerungen zu reden. Die sind nicht so, wie oft das Bild von der Bevölkerung gezeichnet wird. Das gehört jedenfalls zur Politik. Es ist ein Element, aber es gibt auch noch andere, von denen ich auch gesprochen habe.
    Armbrüster: Dann können Sie uns ja vielleicht mal ein Signal geben. Wie viel mehr Flüchtlinge sollte Deutschland denn bereit sein aufzunehmen?
    Röttgen: Ich kann für Deutschland keine Zahl nennen. Wir haben im vergangenen Jahr Hunderttausende aufgenommen. Es werden auch in diesem Jahr Einhunderttausende sein. Ich glaube, dass auch noch mehr kommen werden, dass wir mehr aufnehmen. Aber eine Aufgabe von Politik ist, innerhalb von Europa Solidarität auch zu organisieren, das heißt, die Aufnahme nicht nur zu reduzieren auf einige wenige Länder, sondern in Europa zu verteilen, mit den anderen Aufgaben, also wieder den nicht nur Grenzschutz zu betreiben, sondern Seerettung zu machen, nicht nur 30 Seemeilen die Tätigkeit von Frontex auszuüben, sondern bis an die nordafrikanischen Grenzen zu gehen, ein politisches Konzept für die Region zu entwickeln und und und. Wir müssen ein umfassendes Konzept für diese Region und für die Flüchtlinge und die Menschen, die betroffen sind, entwickeln und wir müssen ausdauernd sein, wir müssen dran bleiben. Das ist die Aufgabe, an der wir uns messen lassen müssen, und ich hoffe auch gemessen werden von unseren Bevölkerungen und auch vom kritischen Journalismus.
    Röttgen: Und höre ich da richtig den Vorwurf heraus, dass sich einige von unseren europäischen Partnern an diesen Bemühungen in den vergangenen Jahren nicht so richtig beteiligt haben?
    Röttgen: Bis auf den heutigen Tag gibt es ganze Länder, die sich dafür dieser Solidarität entziehen.
    Armbrüster: Können Sie uns da ein Beispiel nennen?
    Röttgen: Es geht nicht darum, die einzeln zu benennen und Vorwürfe zu machen. Wir haben ganze Länder, die sich praktisch daran nicht beteiligen, und das ist eine Frage der Solidarität, die Europa insgesamt aufbringen muss, nicht nur einzelne, sondern alle. Es gibt auch andere Fragen übrigens von Solidarität. Europa ist ein Projekt der Solidarität und wir haben übrigens eine Krise der Solidarität in Europa. Wenn wir die nicht überwinden, sieht es nicht gut aus mit Europa.
    Armbrüster: Heute Morgen hier bei uns im Deutschlandfunk war das Norbert Röttgen von der CDU, der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses im Deutschen Bundestag. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Röttgen.
    Röttgen: Ich danke Ihnen, Herr Armbrüster.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.