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Gründung der "Apologetischen Centrale" vor 100 Jahren
Gurus und Heiler durchleuchten

1921 wollte sich die evangelische Kirche gegen weltanschauliche Konkurrenz zur Wehr setzen und gründete deshalb die Apologetische Centrale. Die Einrichtung beobachtete neue religiöse Gruppen, um die Kirche für den Zeitgeist zu rüsten. Die Nachfolgeorganisation besteht bis heute.

Von Mechthild Klein |
Guru Bhagwan mit Anhängern in den 1980-er Jahren
Der indische Philosoph Bhagwan Shree Rajneesh mit seinen Anhängern in den 1980er Jahren. Auch mit der Bhagwan-Bewegung hat die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen sich immer wieder auseinandergesetzt (picture alliance / dpa / )
In den 1970er Jahren und bis in die 1990er Jahre hatten die Sektenbeauftragten der Kirchen Hochkonjunktur. Besorgte Eltern fragten, was es mit den sogenannten Jugendsekten auf sich habe. Ihre Kinder, junge Erwachsene, Berufsanfänger oder Studentinnen schlossen sich neuen Religionen aus dem Osten an. Der koreanische Sektenführer Mun lud zu Massenhochzeiten ein, die asketischen Anhänger der Hare Krishna Bewegung zogen singend durch die Innenstädte und missionierten junge Leute für den Neo-Hinduismus.
Oder Bhagwan, der bärtige Guru, zog seine Anhänger nach Poona in Indien. Dort gabs sexuelle Entfesselung statt Askese. Viele der rotgekleideten Sannyasins kamen pleite oder völlig verändert zurück. Die Referenten der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen untersuchten die Gruppen. Sie dokumentierten die Lehren der Gurus und Heiler, gaben Ratschläge, warnten vor Vereinnahmungen.
Menschen aus aller Welt tanzen 1981 während der abendlichen Meditationsstunde im Bhagwan-Ashram im indischen Poona
Menschen aus aller Welt tanzen 1981 während der abendlichen Meditationsstunde im Bhagwan-Ashram im indischen Poona (dpa / Rajneesh Foundation)
Matthias Pöhlmann: "Weil wenn sich ein erleuchteter Meister absolut setzt, stellt er sich nicht mehr der Kritik. Und es geht ja gerade auch im christlichen Glauben darum, dass eben kein Guru dazwischen geschaltet ist zwischen Gott, Jesus Christus, Heiligen Geist und dem Menschen, sondern dass der einzelne Mensch eben ja zur Freiheit berufen ist."
Martin Fritz: "Das ganze Feld der - früher hat man gesagt Sektenkunde - Esoterik, also religiöse Sondergemeinschaften, Scientology, Zeugen Jehovas, Mormonen und solche Gruppierungen, aber eben auch der ganze Psycho- und Gesundheitsmarkt. Solche Dinge beobachten wir. Bei uns ist das eben mit einer spezifisch theologischen und religionskundlichen Kompetenz."

Reaktion auf religiöse Vielfalt der Weimarer Republik

Schon 1921 legte die evangelische Kirche den Grundstein für ihre Weltanschauungsarbeit. Die Apologetische Centrale in Berlin diente der Verteidigung des christlichen Glaubens. Damals liefen den Protestanten die Mitglieder davon.
"Das Thema Apologetik, das heißt die denkerische Auseinandersetzung mit, wie man es damals nannte christentumsfeindlichen Weltanschauungen und Strömungen, begann ja bereits im 19. Jahrhundert", sagt Matthias Pöhlmann. Der Theologe war langjähriger Referent in der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen in Berlin, in der Nachfolgeorganisation der Apologetischen Centrale.
Porträt von Matthias Pöhlmann, Beauftragter für Sekten und Weltanschauungsfragen der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern.
Matthias Pöhlmann ist heute der Beauftragte für Sekten und Weltanschauungsfragen der evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern. (ELKB / McKeen)
Pöhlmann: "Dieses Bündnis zwischen Thron und Altar war beseitigt und jetzt bildeten sich im Bereich der Weimarer Republik eben viele neue religiöse Gemeinschaften auf Vereinsbasis. Es gab da sehr viele Strömungen. Besonders der Okkultismus, der Spiritismus spielte eine Rolle, die Anthroposophie und die Christengemeinschaft. Und ein großes Thema: die ganzen Freidenker-Organisationen. Also die sogenannte Kirchenaustrittsbewegung, die man am Anfang des 20. Jahrhunderts erlebt hatte, war auch ein Anlass zu sagen: Wir müssen uns mit diesen Strömungen kritisch auseinandersetzen."

Konkurrenz durch die Anthroposophie

Die Mitarbeiter der Apologetische Centrale sollten diese neuen religiösen Strömungen nicht nur beobachten, sondern auch ihre Veranstaltungen besuchen. Ihre Erkenntnisse wurden zu Warnungen – und die flossen ein in die Bildungsarbeit, in Publikationen und in die Missionierung. Mithilfe eines Netzwerkes von Pastoren, Lehrern und Helfern organisierten die Theologen der Apologetischen Centrale Schulungen und Vorträge. In einem Arbeitsprogramm aus dem Jahr 1922 werden die wichtigsten Aufgaben genannt:
Der Kampf um die Naturwissenschaften gegen die mechanisch-atomistische Naturanschauung: Darwinismus. Monismus.
Der Kampf um die Seele gegen die physiologische Psychologie, Anthroposophie, Spiritismus, Okkultismus...
Gefährlich erschien nicht nur die Naturwissenschaft, sondern auch der Spiritismus mit seinen Geisterbeschwörungen und mit Mittlern, die Kontakt zu Verstorbenen versprachen. Innerchristliche Konkurrenz wie etwa der Baptismus wurde kritisch gesehen. Und ideologisch wollte man auch den Marxisten etwas entgegensetzen, die von der Arbeiterschaft Zulauf erhielten. Besonders suspekt erschien den evangelischen Theologen der 1921 gegründeten Apologetischen Centrale die Anthroposophie von Rudolf Steiner.
Rudolf Steiner, Waldorf-Pädagogik und Anthroposophie: "Da steckt massiv Religion drin"
Seit 100 Jahren gibt es die Waldorfschulen. Sie sind die bekannteste Hinterlassenschaft des Anthroposophen Rudolf Steiner, denn Erziehung und Religion waren für Steiner eng verbunden.
Pöhlmann: "Ja, in diese Zeit fiel eben 1922 auch die Gründung der 'Christengemeinschaft', also der religiöse Flügel der Anthroposophie. Und das Besondere war ja, dass der maßgebliche Gründer der 'Christengemeinschaft' ein evangelischer Theologe aus Bayern war, Friedrich Rittelmeyer, der dann eben als bekannter Prediger der evangelischen Kirche ja die Seiten gewechselt hat sozusagen und zur Christengemeinschaft gegangen ist, weil er eben sehr beeindruckt war von Rudolf Steiner."

"Nicht Glaube, sondern Phantasie"

Die Anthroposophie, sagt Mattias Pöhlmann, war damals sehr modern und attraktiv. Man glaubte nicht nur an Christus, sondern auch an die Seelenwanderung. Die Mitarbeiter der Apologetischen Centrale beobachteten und besuchten auch Neuoffenbarungsgruppen wie die Lorber-Bewegung oder die Zeugen Jehovas. Darüber schrieben sie Berichte – aus protestantischer Sicht. Von einer Versammlung der Anthroposophen aus dem Jahr 1929 berichtet ein Mitarbeiter, dass sie sich dem Christentum überlegen fühlten. Sie glaubten, Rudolf Steiner hätte einen Einblick in die Vergangenheit und Zukunft der Welt durch Schauungen erhalten:
"Ich habe noch keinen Anthroposophen getroffen, der die Schauungen eines Steiner gehabt hat. Sie sagten im Referat selbst 'Wir können die Steinerschen Schauungen nicht nachprüfen'. Also ist die Anthroposophie keine Wissenschaft, wie sie mit solchem Nachdruck behauptet, sondern Glaube, ja ich muss von meinem christlichen Standpunkt aus sagen nicht Glaube, sondern Phantasie."
In einer Kölner Waldorfschule liegen die Kinder im Kreis - sie tragen rote Zipfelmützen
In der Anthroposophie Rudolf Steiners sind Religion und Erziehung eng miteinander verbunden: Kinder in einer Kölner Waldorfschule (Deutschlandradio / Monika Dittrich)
In den 1930er Jahren traten auch völkisch-religiöse Gruppen verstärkt in den Fokus. Diese Gruppierungen waren durchdrungen von romantisch verklärten, germanisch-christlichen Volksidealen sowie neuheidnischem, neopaganen Denken. Sie strebten nach Gemeinschaft in einem "arischen Rassestaat". Auch Protestanten waren für diese Ideologie empfänglich.
Pöhlmann: "Teilweise waren diese Strömungen auch sehr stark gegen das Judentum und gegen das Christentum gerichtet, weil man eben eine sogenannte Art eigene Religion, Religiosität betonen wollte. Und besonders in den 1930er Jahren gab es bei den völkisch Religiösen die große Erwartung, dass der aufkommende Nationalsozialismus und dann ab 1933 ja, die völkisch-religiöse Bewegung mehr oder weniger zur Nationalreligion erhoben werden sollte. Was sich dann aber nicht erfüllt hat, weil der totale Weltanschauungsstaat keine konkurrierenden Gruppen neben sich dulden wollte."

"Schattenseiten der apologetischen Arbeit"

Und doch war die völkisch-religiöse Bewegung für viele Zeitgenossen so attraktiv, dass selbst die Apologetische Centrale zeitweilig ihr Ziel aus den Augen verlor.
Pöhlmann: "Man muss halt auch sagen, das gehört mit zu den Schattenseiten auch der apologetischen Arbeit damals, dass man auch in einem bestimmten Zeitabschnitt der Geheimen Staatspolizei auch Unterlagen von religiösen Gruppen zur Verfügung gestellt hat."
Walter Künneth, der zweite Leiter der Apologetischen Centrale, habe sogar Briefe an den Reichsinnenminister Wilhelm Frick geschrieben und seine politische Zuverlässigkeit betont. Ist das noch Strategie oder schon Überzeugung, die Unterlagen über die religiösen Bewegungen an die GeStaPo zu geben?
Das Mahnmal aus Stein zeigt drei Figuren hinter Stacheldraht.
Das Mahnmal Bittermark in Dortmund erinnert an Menschen, die von der Gestapo ermordet worden sind (imago images / blickwinkel)
Pöhlmann: "Man hat überhaupt nicht überlegt, was das eigentlich für Konsequenzen hat, weil man damit natürlich auch einem totalen und menschenverachtenden Staat in die Hände gearbeitet hat durch so etwas."

Nationalsozialisten verbieten die Apologetische Centrale

Zugleich war Künneth, der Leiter der Apologetischen Centrale, Mitglied der Bekennenden Kirche. Trotzdem publizierte er antijüdische Positionen. Und auch wenn er den Übergriffen der Nationalsozialisten auf die Kirche kritisch gegenüberstand - aus der Politik wollte er sich heraushalten, egal wie menschenverachtend sie war.
Pöhlmann: "Schließlich war es so, dass die Apologetische Centrale ja selbst dann auch ab 1934 beobachtet wurde. Es wurden Kurse verboten, bis man dann 1937 diese Stelle geschlossen hat. Weil man der Meinung war, von nationalsozialistischer Seite, es handelt sich um eine illegale Fortbildungsstätte der Bekennenden Kirche."
Für ein Verbot reichte das. Es war das Ende der Apologetischen Centrale. Vorerst.

Neustart in der Bundesrepublik

Nach dem Zweiten Weltkrieg sortierte sich die evangelische Kirche neu. Der Wunsch nach einem Neuanfang auf allen Ebenen führte Anfang der 60er Jahre auch zu einem Neustart der Weltanschauungszentrale. Den Begriff "apologetisch" wollte man dann nicht mehr im Titel führen.
Pöhlmann: "Da wurde dann gesagt, etwa von Karl Barth: Apologetik - das klingt immer so wie Sorge um den Sieg der Heilsbotschaft. Und das ist eigentlich nicht evangeliumsgemäß. Und deswegen hat man dann eher die umschreibende Bezeichnung 'Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen' gewählt, um auszudrücken: Es geht hier nicht um Selbstbehauptung, um Besserwisserei, sondern ein wissenschaftlicher Ansatz, der im Gespräch mit der Zeit geführt werden soll."
Der Schweizer Theologe Karl Barth
Ein Ideengeber für die Weltanschauungsarbeit der evangelische Kirche: der Schweizer Theologe Karl Barth (dpa picture alliance/ Karl Schnoerrer)
Im Jahr 1960 wurde sie eröffnet: die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, kurz EZW - zunächst in Stuttgart und jetzt mit wissenschaftlicher Ausrichtung. Anfang der 1970er und 80er Jahre hatten die Referenten, die damals noch Sektenbeauftragte hießen, richtig viel zu tun. Die sogenannten Jugendreligionen verunsicherten Eltern, Lehrer und Pastoren.
Pöhlmann: "Es war halt so, dass dann plötzlich Menschen gemerkt haben: In meinem Bekanntenkreis, Freundeskreis brechen da Leute plötzlich aus, gehen dann nach Indien, um sich selbst zu finden oder schließen sich dann einer diesen neu religiösen Gruppen an, sind in der Persönlichkeit völlig verändert. Das war ja häufig die Rede, dass die dann gehirngewaschen sein, was natürlich nicht ganz wissenschaftlich exakt ist, aber so diese Erfahrungen von Trennungen, von Vereinnahmungen und gerade auch diese Rekrutierungensmethoden, die teilweise von diesen Gruppen praktiziert wurden. Das führte natürlich dann zu berechtigten Anfragen, weil Menschen damit in Abhängigkeit geraten sind und letztendlich dann ja in gewisser Weise ferngesteuert waren."

Sorge vor neuen "Jugendreligionen"

Viele junge Erwachsene schlossen sich neureligiösen Gruppen auch aus Protest an. Weil die bürgerliche Gesellschaft zu spießiggewesen sei und keinen Raum für spirituelle Entfaltungsmöglichkeiten geboten habe, glaubt Pöhlmann. Andere, wie die Mun-Bewegung aus Korea mit ihren Massenhochzeiten, fand er bedenklicher. Die neuen Jugendreligionen missionierten auf den Straßen: in Fußgängerzonen, vor U-Bahnstationen und Universitäten.
"Dann gab es natürlich sehr konfliktträchtige Gruppierungen, die dann auch aufkamen, so Ende der Siebzigerjahre, wie etwa das 'Heimholungswerk Jesu Christi'. 'Universelles Leben' nennt sich das heute. Das hat sich so Ende der 70er-Jahre gebildet. Und 1984 dann noch weiter ausgeprägt, zum Teil mit heftigen Auseinandersetzungen", erinnert sich Matthias Pöhlmann, der heute für die evangelische Weltanschauungsarbeit in Bayern zuständig ist und bis vor kurzem Vorsitzender der Konferenz der Landeskirchlichen Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen der EKD war.
Corona-Proteste: Krishna und die Krise
Die Krishna-Bewegung ist in den 1960er Jahren bekannt geworden – auch durch Stars wie die Beatles. Jetzt taucht ihr Mantra bei den Corona-Protesten wieder auf. Doch die größte Krishna-Gruppe distanziert sich.
Einen Vorwurf weist der ehemalige EZW-Referent zurück: Dass sich Kirche heute in der Weltanschauungsarbeit engagiere, um Konkurrenz aus dem Feld zu räumen:
"Das stimmt ja so nicht, weil es ist so, dass sich Menschen, vor allem Eltern, oft an die kirchlichen Stellen gewandt haben, weil sie eben Beratung, Seelsorge brauchten angesichts von Entwicklungen. Wenn eben Kinder, junge Erwachsene in die Fänge von solchen Gruppen geraten sind und wie man damit letztendlich auch umgeht."
Oft hätten in der Beratung Geld und hohe Kursgebühren eine Rolle gespielt. Etwa bei den Kursen von Scientology. Oft gab es das Problem in Esoterik-Gruppen, dass die Autorität eines Meisters nicht in Frage gestellt werden konnte. Pöhlmann analysiert, wie Autorität in Sondergemeinschaften aufgebaut wird:
"Also, das ist einmal der erleuchtete Meister. Dann das rettende Konzept. Und dann natürlich die Vorstellung einer geretteten Gemeinschaft, eine Art Arche, die die Bedrohungen und das Ende dieser Welt überlebt. Ja, und man hält sich letztendlich für eine Elite."

"Eine einzigartige Einrichtung"

Mit ihren Publikationen, dem Materialdienst über aktuelle religiöse Bewegungen, ihrem Beratungsangebot und ihrem Archiv hat die EZW als Nachfolgerin der Apologetischen Centrale sozusagen ein Alleinstellungsmerkmal.
"Die EZW leistet auf der Ebene ganz wichtige und grundlegende Arbeit, indem sie neue religiöse Bewegungen, kleinere Gruppierungen, aber auch Gruppierungen wie die Zeugen Jehova, die ja durchaus keine ganz neue religiöse Bewegung sind, sondern schon über 100 Jahre, beobachten, dokumentieren und darüber reflektieren. Und man muss leider sagen, dass es keine vergleichbare Stelle und Einrichtungen an einer deutschen Universität gibt, sodass es in der Beziehung eine ganz einzigartige Einrichtung ist", sagt der Religionswissenschaftler und Psychologe Sebastian Murken, der an der Uni Marburg lehrt.
Doch er gibt auch zu bedenken, dass bei der kirchlichen Einrichtung das Einordnen und Bewerten auch von einem eigenen Interesse geleitet sei:
"Denn die EZW ist eben eine apologetische Einrichtung, also was letztlich Verteidigung von Lehrsätzen heißt, Apologetik, ja zur Verteidigung des evangelischen christlichen Glaubens in Abgrenzung zu anderen Weltanschauungen und Glaubenssystemen. Also in gewisser Weise wird diese sehr sorgfältige Darstellung anderer Religionen im Sinne eines 'Folienmodells' benützt. Also wie eine Hintergrundfolie, so sehen es die anderen, um dann sagen zu können: Aber so sehen wir es aus unserer Sicht - rechtgläubigen evangelischen Perspektive."

"Das Eigene verteidigen"

Die evangelische Perspektive ist für die Weltanschauungsbeauftragten nicht etwas, was man verstecken müsste. Im Gegenteil.
"Man muss sich abgrenzen, und man muss natürlich das Eigene, in diesem Fall den evangelisch-christlichen Glauben auch gegenüber anderen alternativen Weltanschauungen - auch wenn man so will verteidigen, was eben vernünftig, womöglich lebensdienlicher ist als an anderen", sagt der EZW-Referent Martin Fritz.
Porträt von Martin Fritz in hellblauem Hemd und dunklem Sakko
Der evangelische Theologe Martin Fritz, Referent bei der EZW (Rudi Ott)
Man gehe von einer pluralistischen Situation aus. Grundsätzlich könne jede Gemeinschaft und jeder Einzelne seinen Glauben leben, wie er wolle, solange man damit niemanden behellige oder in seiner Freiheit eingrenze. Wenn das geschehe, könne es auch benannt und bewertet werden.
Fritz: "Wenn da zum Beispiel die Freiheit der Mitglieder irgendwie unterdrückt wird, wenn es Strukturen gibt, in der bestimmte Autoritäten Macht missbrauchen. Und dann ist das aus unserer Sicht zu kritisieren."

"Fokus auf das Kritische und Negative"

Doch der Religionswissenschaftler Murken vermisst eine andere Perspektive in den Untersuchungen der EZW:
"Die Perspektive der Darstellung ist immer das Kritische. Und sie werden in der EZW kaum einen Artikel finden, wie heilsam und wichtig die sozialen Netzwerke bei den Zeugen Jehovas sind, sondern es geht immer um 'keine Blut-Infusionen' oder kritische Perspektiven. Insofern ist die Auswahl und die Darstellung auf das Apologetische, auf das Kritische, auf das Bedenkliche fokussiert und nicht, was möglicherweise auch im positiven Sinne andere Religionen den Menschen bringen. Sie können zum Beispiel schauen, die Darstellung des Buddhismus: Der Buddhismus in der EZW wird dann thematisiert, wenn etwas Kritisches vorfällt. Wenn ein Guru seine Jüngerinnen sexuell missbraucht, dann wird der Buddhismus Thema. Aber der Buddhismus als etwas, was eine positiv zu sehende alternative Weltreligion ist, wird dann kein Thema. Und insofern ist die Perspektive faktisch sicher richtig, aber im Erkenntnisinteresse geleitet in Bezug auf die eigenen Weltanschauungen und insofern eher auf das Kritische ausgerichtet."
Historische Szene aus den USA: Feldlager oder Versammlung der Mormonen oder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage um 1840 (Reproduktion).
Sekte oder Religion? Eine historische Szene aus den USA zeigt ein Feldlager der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (um 1840, Reproduktion). (imago / stock&people)
Aus Sicht von Sebastian Murken fehlt es auch an einem kritischen Blick auf Organisationen der eigenen Kirche oder der katholischen Kirche. Zumindest vermisst Murken umfangreichere Kritik beispielsweise an der katholischen Bewegung Opus Dei. Während umgekehrt die Mitglieder der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, die nicht mehr als Mormonen bezeichnet werden möchten, laut Murken mit ihrer christlichen Neuoffenbarung zu schlecht wegkommen in der Bewertung der EZW:
"Da kommt ja eben diese spezifische weltanschauliche Perspektive rein, dass eine Definitionsmacht entsteht: Was ist christlich, was ist noch christlich und was sehen wir als nicht christlich aus der Perspektive, das eigentliche Christentum zu verkörpern und zu vertreten. Also wenn Sie schauen: In Amerika, der ganze Staat Utah ist ein Mormonen-Staat und sie leben dort ihr Leben. Es gab einen mormonischen Präsidentschaftskandidaten. Das ist eine akzeptierte christliche Religion dort und bei uns ist es eine Sekte. Ja, das heißt, das ist immer die Frage: Wer hat die Definitionsmacht und wie wird die ausgespielt?W

"Ein Land voller Wohnzimmer-Gurus"

Es ist unwahrscheinlich, dass es in absehbarer Zeit eine universitäre oder staatliche Beratungsstelle gleichen Formats geben könnte wie die EZW. Ebenso wenig ist ein Ende von neureligiösen Gruppen in Sicht – auch nicht von Verschwörungsmythen oder Heiler-Gruppen. Und heute treffen Weltanschauungsbeauftragte sogar ihre Sondergemeinschaften und wirken zum Teil auf sie ein. Einige ältere religiöse Bewegungen haben sich auch verändert, sind offener, auch selbstkritischer geworden.
Pöhlmann: "Wir erleben aber Gruppen, die sich jetzt neu herausbilden, die aber ja im Blick auf die Konfliktträchtigkeit in nichts nachstehen. Man denkt ja so, die Zeit der Gurus und der konfliktträchtigen Gruppierungen sei vorbei. Das ist nicht der Fall. Es hat sich zwar verändert. Wir leben in einem Land voller Klein- oder Wohnzimmer-Gurus. Die Gruppen werden kleiner, teilweise oft in der Verbindlichkeit noch intensiver. Und dann haben wir natürlich auch noch den ganzen Bereich - da bin ich jetzt schon in der Gegenwart - der Coaching-Angebote, der Coaching-Szene. Und da ist natürlich ein ganz neuer Markt, eine ganz neue Herausforderung entstanden."
Und so dürften der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen, deren Vorläuferin die Apologetische Centrale war, die Themen auch künftig nicht ausgehen. Ein paar Titel von Publikationen der EZW belegen das: "Yoga und christlicher Glaube: Zwischen körpersensiblen Entdeckungen und synkretistischer Vereinnahmung". Oder: "Der Dan-Brown-Code: Von Illuminaten, Freimaurern und inszenierten Verschwörungen". Oder: "'Traue niemandem!' Verschwörungstheorien, Geheimwissen, Neomythen".