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Gruß fordert altersgerechte Bedarfsermittlung für Kinder

Im Hinblick auf die Entscheidung des Bundessozialgerichts, die pauschale Kürzung der Hartz-IV-Gelder für Kinder auf 60 Prozent der Regelleistungen für einen Erwachsenen verstoße gegen die Verfassung, will die FDP den Bedarf von Kindern eigenständig feststellen lassen. Das sagte die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Miriam Gruß. Gleichzeitig forderte sie einen einheitlichen Grundfreibetrag für Kinder und Erwachsene und ein höheres Kindergeld.

Miriam Gruß im Gespräch mit Jochen Spengler |
    Jochen Spengler: Gestern hat das Bundessozialgericht entschieden, die pauschale Kürzung der Hartz-IV-Gelder für Kinder auf 60 Prozent der Regelleistungen für einen Erwachsenen verstößt gegen die Verfassung. Ihr tatsächlicher Bedarf müsse stattdessen genau ermittelt werden. Endgültig muss nun das Bundesverfassungsgericht entscheiden. Im Deutschlandfunk sagte gestern der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, zum Urteil folgendes:

    Heinz Hilgers: "Es ist eine glatte Ohrfeige für die deutsche Politik, nicht nur für eine aktuelle Regierung, sondern für alle Regierungen seit fast 20 Jahren, denn wir, der Deutsche Kinderschutzbund, aber auch die Wohlfahrtsverbände von Karitas bis DBWV, fordern seit vielen Jahren einen eigenständigen Kinderregelsatz, der sich tatsächlich an den Bedürfnissen unserer Kinder orientiert."

    Spengler: So weit der Präsident des Kinderschutzbundes. Am Telefon ist nun Miriam Gruß, die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion und Mitglied in der Kinderkommission des Parlaments. Guten Morgen, Frau Gruß.

    Miriam Gruß: Schönen guten Morgen!

    Spengler: Frau Gruß, fühlen Sie sich auch geohrfeigt?

    Gruß: Na ja, mit der Formulierung "geohrfeigt" würde ich das jetzt nicht bezeichnen, aber auf jeden Fall begrüße ich die Entscheidung des Bundessozialgerichts, denn auch wir fordern seit langem, dass der Bedarf an Kindern eigenständig festgestellt werden muss.

    Spengler: Warum ist ein Gericht nötig, damit Kinder zu ihrem Recht kommen?

    Gruß: Nun, weil die Bundesregierung insbesondere in den letzten drei Jahren es eben nicht zur Kenntnis genommen hat, dass es viele bereits fordern, und auch jetzt sieht man ja, dass im Rahmen des Maßnahmenpaketes Konjunkturprogramm II auch wieder nur der völlig willkürlich festgesetzte Satz von 60 Prozent auf 70 Prozent gesetzt wird. Und da sieht man schon daran: Selbst wenn es von 60 auf 70 Prozent mehr wird, heißt das noch lange nicht, dass erkannt worden ist, dass das Thema an sich falsch ist.

    Spengler: Nun ist ja die FDP nicht gerade als Streiterin für höhere Hartz-IV-Sätze bekannt. Wieso sagen Sie, Sie haben sich trotzdem dafür eingesetzt?

    Gruß: Weil wir nicht sagen, dass wir unbedingt mehr brauchen, sondern wir haben immer gesagt, ganz grundsätzlich, wir müssen den Bedarf des Kindes feststellen und nicht einfach willkürlich festsetzen, ein erwachsener Mensch bekommt 100 Prozent und nur, weil ein Kind kleiner ist, braucht es nur 60 Prozent. Wir haben immer gesagt, für jede Altersgruppe, für jede Personengruppe muss der Bedarf selbständig festgesetzt werden. Da kann natürlich auch dabei herauskommen, dass es mehr Bedarf für ein Kind gibt als für einen Erwachsenen, aber wir wollen auf jeden Fall, dass es selbständig, eigenständig für Kinder festgestellt wird.

    Spengler: Frau Gruß, darf ich Ihnen kurz ein Zitat einspielen, das von Ihrem FDP-Generalsekretär Dirk Niebel stammt, aus einem Brief an Edgar Schu, dem Koordinator des Aktionsbündnisses Sozialproteste.

    Niebel: Die Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales zur Höhe der Eckregelsätze hat einen Änderungsbedarf bei Schulkindern und Jugendlichen deutlich gemacht. Eine Erhöhung der Regelsätze erscheint uns jedoch nicht zweckmäßig. Einerseits kann bei mehr Bargeld der Zufluss in diesen Bedarf nicht gewährleistet werden; andererseits darf der Abstand zu Familien mit geringem Einkommen ohne Leistungsbezug, die für diesen Bedarf kalkulieren und selbst ansparen müssen, nicht geringer werden. Mit höheren Leistungsbezügen sinkt gleichzeitig der Anreiz, durch Arbeit eigenes Einkommen zu erwirtschaften.

    Spengler: Wie gesagt, das ist ein Zitat Ihres Generalsekretärs Dirk Niebel, und das zeigt ja nun, dass Sie nun gerade nicht für eine Erhöhung sind, sondern dass Sie sagen, der Abstand zur Normalfamilie muss erhalten bleiben, oder?

    Gruß: Nein, das wäre eine Missinterpretation, sondern wir fordern seit langem tatsächlich, dass der eigene Bedarf von Kindern festgestellt wird, und wir sind gespannt, was dabei rauskommt. Es ist ja so, dass es seit langem nicht gemacht worden ist, festzustellen, was Kinder an Bedarf haben. Tatsächlich ist es aber schon so, wenn wir die Leistungsbezüge betrachten, dass man schon beachten muss, dass diejenigen, die mit geringen Einkommen aber ihr Einkommen selbst beziehen und selbst erwerben, nicht diejenigen sind, die die Dummen sind, dass diejenigen, die Leistungsempfänger sind, nicht mehr haben als diejenigen, die arbeiten gehen und ihr Einkommen selbst beziehen.

    Spengler: Lassen Sie mich das noch kurz fragen, Frau Gruß. Wie würden Sie das gewährleisten wollen? Das verstehe ich insofern nämlich nicht, wenn Sie sagen, der Abstand muss gewahrt werden zwischen denen, die Leistungen vom Staat bekommen, und denen, die keine bekommen, und Sie dann aber sagen, es könnte sein, dass bei der Überprüfung der Bedarfssätze der reale Bedarf viel höher ist. Wie wollen Sie denn dann den Abstand bewahren?

    Gruß: Erstens: Wir wollen einheitlichen Grundfreibetrag für Kinder und Erwachsene in Höhe von 8000 Euro. Und zweitens damit natürlich einhergehend auch ein höheres Kindergeld in Höhe von 200 Euro. Damit wäre es gewährleistet.

    Spengler: Haben Kinder einen anderen Bedarf als Erwachsene?

    Gruß: Ja, definitiv. Man sieht es ja, wenn Kinder wachsen. Ich habe selber einen eigenen Sohn. Der kann nicht zwei Jahre lang die gleichen Schuhe tragen, während wir als Erwachsene, wenn wir darauf aufpassen, durchaus mal entsprechend so verfahren können. Aber Kinder wachsen eben und deswegen brauchen die neues Schulmaterial, die brauchen neue Schuhe, die brauchen neue Kleidung etc. Deswegen ist es sicherlich angezeigt, Kinder einen eigenen Bedarf zuzuweisen.

    Spengler: Und Sie würden auch sagen, es spricht viel dafür, dass der sogar höher ist als die heutigen 207 Euro für Kinder unter 14?

    Gruß: Nein. Ich habe gesagt, es kann dabei herauskommen. Ich möchte, dass es festgestellt wird, wie der Bedarf für Kinder ist, und zwar eigenständig, und dass der Bedarf auch altersgerecht festgestellt wird und nicht, dass man sagt, alle Kinder von null bis 13 werden über einen Kamm geschert und alle 14- bis 18jährigen, sondern Kinder entwickeln sich und deswegen muss man entsprechend in kürzeren Abständen auch immer wieder den Bedarf von Kindern feststellen.

    Spengler: Wie kann man das feststellen?

    Gruß: Wir machen es bei Erwachsenen ja genauso und dann muss man eben schauen in der Altersgruppe von Kindern, was weiß ich, null bis zwei Jahren oder zwei bis vier Jahren, was brauchen die. Die einen brauchen Windeln, die anderen brauchen die Jeanshose, die einen brauchen nur Babysocken und die anderen brauchen eben Sandalen. Da muss man eben feststellen, und was kostet das heutzutage, und das entsprechend hochrechnen. Ich denke, daran wird es nicht scheitern, dass es festgestellt werden kann.

    Spengler: Frau Gruß, aber grundsätzlich möchte die FDP ein ganz anderes System, wenn ich das eben richtig verstanden habe?

    Gruß: Auf jeden Fall wollen wir zum einen, dass der Bedarf eigenständig festgelegt wird, und zum anderen, dass diejenigen, die arbeiten gehen, entsprechend steuerlich entlastet werden, über unser niedriges, einfaches und gerechtes Steuersystem, mit entsprechend gleichem Grundfreibetrag von Kindern und Erwachsenen und einer Anpassung des Kindergeldes in Höhe von 200 Euro.

    Spengler: Kann eigentlich der Staat sicherstellen, dass das Geld den Kindern auch tatsächlich zugute kommt und nicht für Zigaretten oder Ähnliches draufgeht, oder kann das der Staat nicht?

    Gruß: Ich finde, dass die Eltern selbst verantwortlich sein müssen, wofür sie ihr Geld ausgeben, aber tatsächlich ist es so, dass schon immer wieder diskutiert wird - wir haben das ja im Rahmen des Betreuungsgeldes beispielsweise gehabt -, ob man das Geld nicht lieber in Gutscheinen den Eltern ausgeben soll, dass das Geld tatsächlich auch in Bildung verwendet wird, und damit so die Diskussion gar nicht aufkommen kann.

    Spengler: Miriam Gruß, die kinder- und jugendpolitische Sprecherin der FDP-Bundestagsfraktion, Mitglied der Kinderkommission des Parlaments. Danke für das Gespräch, Frau Gruß.