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Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie
Auf Lesen und Tod

Kein öffentlicher Intellektueller, aber einer der bedeutendsten Philosophen der alten Bundesrepublik: Für viele Geisteswissenschaftler hat der still arbeitende Vielleser Hans Blumenberg Kultstatus. Zum 100. Geburtstag des Unsichtbaren hat Rüdiger Zill die erste Biografie vorgelegt.

Von Jörg Später |
Buchcover: Rüdiger Zill: „Der absolute Leser – Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie“
Hans Blumenberg, absoluter Leser und unsichtbarer Philosoph (Buchcover: Suhrkamp Verlag, Hintergrund: Gerda Bergs)
"Am 28. März 1942 flogen britische Bomber einen Angriff auf Lübeck und zerstörten große Teile der Hansestadt. Für den 21-jährigen Hans Blumenberg bedeutete diese Nacht eine Art ersten Tod, denn seine gesamte Bibliothek mit Büchern aus Philosophie, Theologie, Kunstgeschichte, Naturwissenschaft und Literatur verbrannte. Am 28. März 1996, also auf den Tag genau 54 Jahre später, starb im westfälischen Altenberge der inzwischen viel beachtete Philosoph Hans Blumenberg, umgeben von seiner längst wieder auf Tausende von Bänden angewachsenen Bibliothek, darunter mehrere Zehntausend von ihm selbst geschriebenen Seiten."
Mit dieser biblischen Figuraldeutung – das eine Ereignis ist die Verheißung dessen, was das andere erfüllt – beginnt Rüdiger Zill fulminant seine Biografie über den Büchermenschen Blumenberg und stellt sie unter das Motto: auf Lesen und Tod.
Zill, dem Blumenberg nie persönlich, sondern nur in Form seiner Bücher, Vorarbeiten, Briefe, Notizen und Karteikarten begegnet ist, stellt den Gelehrten unter dem Titel "Der absolute Leser" vor. Nicht nur, weil dieser seine letzten zehn Jahre einsam in seinem Arbeitszimmer mit kaum etwas anderem als Lesen verbracht hat – bloß ein Löwe, den außer Blumenberg niemand sah, soll ihm - der Legende von Sibylle Lewitscharoff nach - Gesellschaft geleistet haben. Und auch nicht allein aus dem Grund, dass Blumenberg minutiöse Leselisten geführt und den gelesenen Büchern bis ins hohe Alter Zensuren erteilt hat. Sondern, weil Blumenberg ein "Lese-Philosoph" war, im Gegensatz zum "Original-Denker" wie Hegel oder Heidegger.
Das bedeutet, dass Blumenberg Philosophiegeschichte betrieb und anhand von Begriffen und Metaphern herausgearbeitet hat, was der Horizont war, vor dem sich etwas Geschriebenes und Gedachtes entfaltet hat und die Lesenden weiterdenken lässt. Der Biograf eines solchen Lese-Philosophen muss daher nicht nur alles lesen, was der Porträtierte geschrieben hat, sondern auch alles, was dieser gelesen hat, und eigentlich noch dazu alles, was er nicht gelesen hat, denn wie soll sonst ein Horizont entstehen. Das konnte Rüdiger Zill natürlich nicht leisten – aber er hat Blumenberg beim Lesen zugeschaut, um seine Denkrichtungen zu erfassen, und ist dadurch zu sehr eigenständigen Interpretationen gelangt – dazu später mehr. Dabei ist kein absolutes Philosophielesebuch entstanden, sondern der Biograf erzählt auch Blumenbergs Leben jenseits des Altenberger Studierzimmers.
Blumenberg und die Deutschen
Dieses Leben bestand keineswegs nur aus Lesen und Schreiben. Bevor Blumenberg zum Eremiten wurde, hatte er Lehrer und Gesprächspartner, Kollegen und Verleger. Er bemühte sich auch durchaus um öffentliche Wahrnehmung und Wirkung, und zwar über die Teilöffentlichkeit des Faches Philosophie hinaus. Vor allem aber sah sich Blumenberg mit einer Lebenswirklichkeit konfrontiert, der er entkommen musste, wie an jenem 28. März 1942, womit eine interessante und ungewöhnliche Konstellation angesprochen ist, die Zill in der Biografie sehr erhellend darstellt, nennen wir sie "Blumenberg und die Deutschen".
Blumenberg war natürlich selbst ein Deutscher, nicht nur als Staatsangehöriger, also wie es das Recht vorsah "im Geblüte", sondern auch "im Gemüte", nämlich der Gesinnung nach. Er war ein Patriot. Die Familie von Blumenbergs Mutter hatte gleichzeitig jüdische Anteile, er galt also in nationalsozialistischer Sicht als Mischling und Volksfremder, der infolgedessen keinen Kriegsdienst leisten durfte (oder musste). Stattdessen wurde der junge Mann zur Zwangsarbeit im Lübecker Drägerwerk und zum Lagerdienst eingezogen. In den letzten Kriegswochen musste er sich verstecken. Seine Tanten wurden im Vernichtungslager ermordet. Blumenberg selbst hatte trotz dieser Verfolgungserfahrung allerdings Glück. Der Unternehmer, der die Zwangsarbeit in Anspruch nahm, holte ihn aus dem Lager und erwies sich als späterer Förderer des Studenten Blumenberg. Auch andere Menschen, die doch Nazis waren, halfen ihm, sich zu verstecken. In der braunen Zeit entstand Blumenbergs Lob der Grauzone.
Blumenberg mochte wegen dieser Erfahrungen der Rettung und Unterstützung durch "gute Nazis" die Verurteilung der nachfolgenden Generationen über die Naziväter und -mütter nicht, die ihm allzu selbstgerecht erschien. Dabei war er keineswegs naiv und auch nicht sentimental. Über den Luftkrieg gegen Lübeck war er nicht zu unglücklich gewesen, auch wenn es seine Bibliothek kostete. Er freute sich über die Wendung im Krieg und sah es ähnlich wie Thomas Mann, der damals über die BBC zu den Deutschen sprach:
"Beim jüngsten britischen Raid über Hitlerland hat das alte Lübeck zu leiden gehabt. Das geht mich an, es ist meine Vaterstadt. Die Angriffe galten dem Hafen, den kriegsindustriellen Anlagen, aber es hat Brände gegeben in der Stadt, und lieb ist es mir nicht zu denken, daß die Marienkirche, das herrliche Renaissance-Haus oder das Haus der Schiffer-Gesellschaft sollten Schaden gelitten haben. Aber ich denke an Coventry, und ich habe nichts einzuwenden gegen die Lehre, daß alles bezahlt werden muß."
So empfand es auch Blumenberg, aber nach dem Krieg hielt er es doch eher mit Hermann Lübbe, seinem Münsteraner Kollegen, der die Kraft des "kommunikativen Beschweigens" der NS-Vergangenheit beschwor, wonach ein Nazi eher zum Demokraten wird, wenn man ihn nicht öffentlich als Nazi bezichtigt und seine Verbrechen ausstellt.
"Ich wollte nicht sein, was ich nicht zu sein brauchte: das Weltgericht",
konstatierte Blumenberg. Dieser spürte ein starkes Unbehagen am Zeitgeist der Kritik um 1968, aber er sagte auch:
"Mir ist dieses Land unheimlich geblieben […] In diesem Land hat sich nichts in Luft aufgelöst, was Hitler möglich gemacht hatte […]."
Ein Ausdruck von Blumenbergs Ambivalenz ist, dass er am 8. Mai 1945 mit Bewunderung in Ernst Jüngers "In Stahlgewittern" las.
Aus diesem Zusammenhang, dem Leben im Nationalsozialismus, stammt eine Anekdote, welche über die Ur-Kränkung Blumenbergs berichtet, die ihn sein Leben lang begleiten wird. Der Achtzehnjährige wäre nämlich als Schulbester im Lübecker Katharineum berechtigt gewesen, bei der Abiturfeier die Festrede zu halten – was ihm als Halbjude dann allerdings verweigert wurde, ebenso wie der Handschlag des Direktors, obwohl er doch versuchte, eine Brücke zwischen dem Humanismus und dem Hitlerismus zu schlagen. Diese Wunde, die öffentliche Nichtanerkennung seiner hervorragenden intellektuellen Leistung, sollte nie verheilen.
Die Lübecker Demütigung wiederholte sich tatsächlich 1964, als der Hochschulprofessor Blumenberg, nun erst recht der ‚primus inter pares‘, gebeten wurde, die Rede zur 25-Jahrfeier zu halten, aber viele Schüler der einstigen Parallelklasse des Nazilehrers ankündigten, in diesem Fall nicht zur Veranstaltung zu kommen. Angesichts eines solchen fortwährenden nationalsozialistischen Korpsgeists schreckte Blumenberg vor der Jubiläumsrede zurück. Und die Nichtwürdigung wiederholte sich später hundertfach in seinem Kopf, fast immer dann, wenn er sich mit Kollegen, Verlegern, Redakteuren und anderen Dilettanten über seine Texte stritt.
Das Leben geht weiter
Zeit seines intellektuellen Lebens also, das zeigt Zill, blieb Blumenberg der gekränkte Philosoph, der sich nicht recht gewürdigt fühlt. Nun, das ist natürlich bis heute eine allgemeine ‚déformation professionnel‘ deutscher Professoren. Manche gehen dann zur AfD, manche verblüffen nur ihr Umfeld mit der fortwährenden Klage, sie würden nicht angemessen gewürdigt, obwohl sie gefragte Mitbürger sind. Bei Blumenberg aber wird das Ganze zur fast krankhaften Dauerperformance, zum Muster, lange bevor er ein großer Name im Geistesleben der Bundesrepublik wurde. Der Löwe in Lewitscharoffs Roman "Blumenberg" steht für diese Neurose.
Zills Psychogramm dieses schwierigen Menschen sieht so aus: Blumenberg setzte gerne alles auf eine Karte und machte keine halben Sachen. Dabei hatte er feste Überzeugungen und zeigte bockige Entschlossenheit. Er sah sich als Märtyrer und Freiheitskämpfer, war verbittert und traktierte seine Umwelt mit Vorwürfen und Unterstellungen. Sein Lehrer, Förderer und Kollege Ludwig Landgrebe, der in ihm einen souveränen, genialen und kompromisslosen Geist erkannte und einen ähnlichen Familienhintergrund hatte, appellierte an ihn, nachdem es Streit um seine Habilitierung gegeben hatte:
"Ich muß Ihnen das schon einmal sagen, weil ich darin bei Ihnen überhaupt eine Gefahr sehe, daß Sie offenbar aus einem abgrundtiefen Mißtrauen gegen Ihre Mitmenschen heraus, die Gewohnheit haben, überall sofort den schwärzesten Verdacht zu hegen und durch die Schärfe Ihrer Reaktionen sich in unnötiger Weise Feinde zu machen und der Erreichung Ihrer wohlberechtigten Ziele im Wege zu stehen. Wenn auch dieses prinzipielle Mißtrauen vielleicht aus manchen schmerzlichen Erfahrungen herrühren mag, so sollten sie doch versuchen, sich davon etwas frei zu machen."
Blumenberg versuchte es nicht, war aber gleichwohl erfolgreich. Denn er war zuweilen durchaus lernfähig, wie Zill verdeutlicht, und vor allem bereit, Umwege zu gehen, Seitenstraßen zu erforschen und seine Ziele zu verändern. Das wurde geradezu zu einem Markenzeichen Blumenbergs. Nach dem Krieg ging es zügig voran. Seine Lesegeschwindigkeit erhöhte sich wie die Intensität der Lektüren, die wiederum das Denken stimulierten. Die akademische Karriere entfaltete sich, noch bevor die Massenuniversität kam. Er wurde zuerst Professor, nämlich in Gießen, dann erst Buchautor, und zwar beim nicht nur in Philosophiedingen führenden Suhrkamp Verlag.
In den 1970ern war Blumenberg auch öffentlich sichtbar, beispielsweise als Herausgeber der Theorie-Reihe im Suhrkamp Verlag, zusammen mit Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Jacob Taubes. Blumenberg avancierte zudem zum ‚spiritus rector‘ der elitären Forschungsgruppe ‚Poetik und Hermeneutik‘, bei der sich ab Mitte der 1960er-Jahre die besten geisteswissenschaftlichen Köpfe der nach 1920 Geborenen regelmäßig trafen – Hans-Robert Jauß, Odo Marquard, Hermann Lübbe, Reinhardt Koselleck, Jacob Taubes gehörten dazu. Er verabschiedete sich hier wie dort im Ärger, wendete sich dann sukzessive überhaupt von der Interdisziplinarität ab, schließlich auch von der Soziabilität. Dieser Weg, der über Bochum und Münster letztendlich im Altenberger Einfamilienhaus endete, wo das Genie seine textliche Ernte einbrachte, wird von Zill ohne Sentimentalität, aber auch ohne Häme nacherzählt. Eine deprimierte Stimmung bleibt zurück.
Das Werk wird inspiziert
Nun, nachdem im Buch, nicht lange nach der Halbzeit, der Held bereits tot ist, geht es konzentriert ums Denken. Blumenberg wird von seinem Biografen sozusagen gedreiteilt: erstens das Leben, drittens das Werk und zweitens dazwischen als das Vermittelnde: die Denkarbeit in Blumenbergs Werkstatt, in der die Produktions- und Publikationspraxis ausgeleuchtet wird. Diese Dreifaltigkeit hat gewiss Vorzüge, was den Teil über die philosophischen Texte betrifft: Hier kann Zill nämlich durch die Engführung die von ihm betonte Prozesshaftigkeit von Blumenbergs philosophischem Denken stringent und präzise herausarbeiten, ohne von Bombenangriffen und Nazis, Habilitationsproblemen und Karrierechancen, von Universitätsrufen und Streitigkeiten mit Kollegen gestört zu werden. Wobei natürlich die Erfahrung der Judenverfolgung und des Luftkriegs doch ein Licht auf den philosophischen Inhalt wirft, zumal nach Odo Marquard, Kollege aus der Gießener Zeit, es in der Philosophie Blumenbergs einen Grundgedanken gab, nämlich den "Absolutismus der Wirklichkeit" und den menschlichen Versuch, "Entlastung" von diesem Absoluten zu gewinnen:
"Auf der einen Seite steht die Wirklichkeit, die angsterregende, unzuverlässige Übermacht der realen Welt, die man mit einem absolutistischen Souverän vergleichen kann. Ihr stehen auf der anderen Seite ganz unterschiedliche Maßnahmen und Anstrengungen des gleichermaßen schwachen und ohnmächtigen wie erfindungsreichen und talentierten Menschen gegenüber. Dieser wird völlig in Anspruch genommen von der schwierigen Aufgabe, sich durch Leistungen der Distanz, für welche die gesamte Kultur steht, von dieser übermächtigen Willkürherrschaft zu entlasten. Da die Wirklichkeit für den Menschen meist schwer zu ertragen ist, sucht er seit jeher Möglichkeiten, ihrer Willkür zu entfliehen oder sie mit allen ihm zur Verfügung stehenden Mitteln in ihre Schranken zu weisen."
Wer denkt angesichts solcher Grundgedanken und eines Buchtitels wie "Höhlenausgänge" nicht auch – neben der Schreibhöhle in Altenberge oder der Höhle des Löwen – an Schutzräume vor Bomben oder an Verstecke vor Nazis? [Über Blumenbergs Wirklichkeitsbegriff und über welche Umwege Denken realistisch wird informiert übrigens die von Nicola Zambon zeitgleich herausgegebene Aufsatzsammlung "Realität und Realismus" mit neun Texten zwischen 1964 und 1986, die Blumenberg selbst vermutlich in einer der Altenberger Nächte zusammengestellt hat.]
"Weltverhältnis" und "Wirklichkeitserlebnis", das sind also die Schlüsselbegriffe in Blumenbergs philosophischem Werk. Doch Rüdiger Zill gibt sich damit nicht zufrieden und sieht die Gefahr, das Werk von seinem Resultat her zu sehen und es zu essenzialisieren – selbst wenn der Urheber den Segen dazu gegeben hat. Der Biograf will hingegen Blumenberg öffnen für das, was nicht im Nachhinein die Essenz seines Denkens ausgemacht hat, was nicht die Idee des menschlichen Kampfes gegen die absolutistische Wirklichkeit ist, also das, was nicht dem Absolutismus dieser blumenbergschen Wirklichkeit unterliegt. Der Autor wertet beispielsweise die philosophiehistorischen Arbeiten der 1960er- und 1970er-Jahre auf.
Blumenbergs Denken sei bis in die Details hinein ein experimentierendes, ein Denken in Bewegung gewesen, argumentiert Zill, es sei offen gewesen für unterschiedliche Optionen, inklusive nicht verwirklichter Möglichkeiten. Dieses "Denken in Bewegung" rekonstruiert die Werk-Retrospektive über sechs Jahrzehnte hinweg.
Dabei wird klar, warum der Philosophiehistoriker Blumenberg selbst zu einem Philosophen wurde, nämlich, weil er über die Beschäftigung mit der Genealogie von geistigen Fragen in morphologischer, metaphorologischer oder begriffsgeschichtlicher Perspektive und über den Umweg von Wissenschafts- und Technikgeschichte letztendlich die großen philosophisch-anthropologischen Fragen des Menschseins beleuchtete. Blumenberg, so Zill, sei immer sehr verärgert darüber gewesen, wenn er als Philosophiehistoriker betrachtet wurde,
"denn diese Zuschreibung impliziert, er sei kein echter Philosoph, der ‚systematisch‘ an den Fragen arbeite, sondern nur jemand, der vergangene Formen des Geistes rekonstruiere."
Für Blumenberg lassen sich aber die gegenwärtigen Fragen, die Möglichkeit ihrer Entstehung und ihre Geltung, nur aus ihrer Entwicklung klären. Das, was sie sind, sind sie, weil sie historisch geworden sind. Der Geist hat eine Geschichte, und Blumenberg wollte zeigen, wie Konstellationen entstanden sind, die bestimmte Entwicklungen denkbar und dann real gemacht haben. Diese waren übrigens keineswegs alternativlos, allerdings konnte man nicht mehr hinter sie zurückgehen. Wer den Hintergrund eines geschichtlichen Prozesses versteht, wer die Spielräume von Weltentwürfen, Weltbildern und Weltverständnissen überblickt, wer überhaupt das Prozesshafte philosophischen Denkens begreift, der betreibt Philosophie. So sah das Blumenberg. Und Rüdiger Zill versucht nun, entlang dieser geisteswissenschaftlichen Anleitung den Prozess einer philosophischen Neugierde bei Blumenberg selbst zu rekonstruieren. Blumenbergs Denkwege werden also mit Blumenbergs eigenen Fragen und Methoden analysiert. Eine sehr hübsche Idee und kongenial umgesetzt.
Der gedreiteilte Blumenberg
Die Dreiteilung der Denkbiografie hat allerdings trotz des gelungenen Philosophiekonzentrats etwas Unbefriedigendes. Man liest zwei Bücher, eins über das Leben, eins über das Werk, plus einen Aufsatz im Sandwich zwischen Leben und Werk über die Arbeit. In jedem fehlt das jeweils andere. Dabei hat Zill selbst treffend geschrieben:
"Vom Menschlichen zum Metaphysischen oder besser: vom Metaphysischen ist es […] nur ein kleiner Schritt."
Und die Biografie zeigt ja überdeutlich, wie aus der Mixtur von persönlichen Erfahrungen, politischen Gegenwartsbezügen, philosophiehistorischen Studien, die sich gegenseitig beglaubigen, eine Theorie entsteht. Es ist bei der Lektüre dieses überaus anregenden und glänzend geschriebenen Buches ein wenig so, als würde man erst einen Film ohne Tonspur sehen, sich jene danach ohne die Bilder anhören und zuletzt das Drehbuch lesen. Vielleicht gibt es eine Idee hinter dieser eigenwilligen Ästhetik, die mit dem Helden zu tun hat und von der Sache herkommt, etwa: Blumenberg lebte und starb; er arbeitete und produzierte; und er hatte ein philosophisches Werk. Blumenberg erscheint damit in der Dreifaltigkeit von Körper, Geist und Arbeit, einer Trinität, die ja eine Einheit ist, welche in der Metapher des "absoluten Lesers" ausgedrückt ist. Denn dieser absolute Leser liest auf Leben und Tod, er lebt für das Lesen und er philosophiert aus dem Lesen.
Wenn wir aber profan und nüchtern bleiben, dann sehen wir einen Solitär und Eigenbrötler bei der Arbeit, die aus Lesen, Schreiben und Nachdenken besteht. Wir sehen einen Philosophen im postmetaphysischen Zeitalter, der Philosophie einerseits als Wissenschaft betreibt, der andererseits genau diese philosophische Arbeit des Nach-Denkens vor dem Effizienzdenken, Nützlichkeitsdenken und Relevanzdenken schützen will, das die Gesellschaft und die Wissenschaft fordern. Solch Unzeitgemäßes war möglich in der alten Bundesrepublik, auch wenn der Held am Ende verbittert in einer Schreibhöhle endete. Was aber keinesfalls anachronistisch, sondern hochaktuell ist: Philosophie heißt, handlungs- und überlebensfähig zu werden angesichts der Wirklichkeit, zu der der Tod gehört. Das lernen wir von Zills "absolutem Leser" Hans Blumenberg.
Rüdiger Zill: "Der absolute Leser – Hans Blumenberg. Eine intellektuelle Biographie"
mit zahlreichen Abbildungen
Suhrkamp Verlag, Berlin. 816 Seiten, 38 Euro.