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Hans-Ulrich Wehler
Der Gerechtigkeits-Mahner

Der Historiker Hans-Ulrich Wehler ist im Alter von 82 Jahren gestorben. Mit seinem Buch "Die neue Umverteilung" knüpfte der Begründer der Bielefelder Schule im Frühjahr 2013 an seine Deutsche Gesellschaftsgeschichte an und diagnostizierte eine Kluft zwischen den reicher gewordenen Reichen und der restlichen Bevölkerung.

Von Conrad Lay | 07.07.2014
    Steigen die Managergehälter weiter in schwindelerregende Höhen? Kann man noch von Verteilungsgerechtigkeit in Deutschland sprechen? Welche Formen hat die soziale Ungleichheit angenommen? Hans-Ulrich Wehler hat sich mit solchen Fragen schon seit langer Zeit beschäftigt. Bereits in seinem Hauptwerk, der fünfbändigen "Deutschen Gesellschaftsgeschichte", ging er ausführlich auf die Sozialstruktur und die Soziale Ungleichheit ein.
    Im Band 5, der die Jahre von 1949 bis 1990 umfasst, stellte er für die ersten 40 Jahre der Bundesrepublik eine hohe "strukturelle Stabilität" fest, ja geradezu ein "starres Ordnungsgefüge". In seinem neuen Buch sieht er für die Zeit nach 1990 eine Zäsur, die zu einer "neuen Umverteilung" geführt habe.
    Der Bielefelder Historiker beginnt sein Buch mit einer sozialwissenschaftlichen Positionsbestimmung: Er sieht sich in der Tradition Max Webers und benutzt dessen Klassenbegriff. Scharf setzt er sich damit von den Thesen der Individualisierung und Pluralisierung des Soziologen Ulrich Beck ab, wonach wir in einer Gesellschaft "jenseits von Ständen und Klassen" lebten. Hans-Ulrich Wehler:
    "Das war eine Modeerscheinung, auch sehr bald im Feuilleton und in der Sprache der politischen Klasse in den späten 80er und 90er Jahren. Jetzt ist sozusagen die Härte der sozialen Unterschiede sehr viel deutlicher wieder zutage getreten, und da bekehren sich auch diejenigen Sozialwissenschaftler, die lange mit Individualisierung und so weiter gespielt haben, wieder zu der älteren Fachsprache."
    Um trotz dieses konventionellen Ansatzes auf der wissenschaftlichen Höhe der Zeit zu bleiben, differenziert Hans-Ulrich Wehler das Klassen- und Schichtenmodell Webers. Er stützt sich dabei auf die Methoden von Pierre Bourdieux, also auf die Merkmale eines "klassenspezifischen Habitus" sowie "feiner Unterschiede":
    "Mit diesen Distinktionsklassen kommt man relativ weit, auch in der Bundesrepublik, und das Konzept des Habitus, was Bourdieux entwickelt hat, andere haben es vor ihm auch schon gebraucht, Hegel, Marx, Weber, aber er hat es expliziert, das hilft einem, die Prägung von Kindesbeinen an aufwärts, durch die Familie, durch die Sprachkompetenz, die einem verliehen wird, durch das Netzwerk, das einem hilft im Vorwärtskommen, da bildet sich ein bestimmter Habitus. Das ist hilfreich, wenn man zum Beispiel erklären will, warum inzwischen 80 Prozent in den Unternehmensvorständen aus Unternehmerfamilien kommen."
    Entscheidender Einschnitt der deutschen Gesellschaftsgeschichte
    Nicht die Kosten der Wiedervereinigung, auch nicht die Finanzkrise, sondern die Verschärfung der sozialen Ungleichheit sieht Wehler als entscheidenden Einschnitt der deutschen Gesellschaftsgeschichte seit 1990. Seitdem verstehe es die Oberklasse, "ihr Einkommen in einem obszönen Ausmaß zu steigern". Um das Jahr 2000 besaßen die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung bereits rund die Hälfte des gesamten Vermögens, die ärmsten 50 Prozent kamen gerade mal auf zwei Prozent. In den vergangenen fünf Jahren verdoppelte sich das private Nettovermögen, die Zuwächse waren allerdings sehr ungleich verteilt.
    "Und wohin ist es gewandert? Im Wesentlichen zu den obersten zehn Prozent. Und die Einkommensschere darunter hat sich weiter geöffnet, kein Wunder, denn wir sind das einzige europäische Land, das in dieser Zeit eine Stagnation der Realeinkommen erlebt hat."
    Während in den ersten vier Jahrzehnten das bundesdeutsche Sozialprodukt ohne eklatante Verletzung von Gerechtigkeitsnormen verteilt worden sei, stellt der Sozialhistoriker inzwischen "die grundsätzliche Frage nach den Legitimationsgrundlagen der deutschen Marktgesellschaft und Demokratie":
    "Was mich aber so sehr irritiert ist, dass eine Stagnation der Realeinkommen die Gewerkschaften nicht auf die Barrikaden ruft. Dass die Gewerkschaften in den Aufsichtsräten, nicht in den Vorständen, aber in den Aufsichtsräten, wo sie die Hälfte stellen, keine Vertreter haben, die sagen: Jetzt reicht es uns mal bei den Dax-Vorständen, die 1989 500.000 DM verdient haben und jetzt sind sie bei sechs Millionen Euro, das wären also zwölf Millionen DM. Und im Verhältnis zu den Arbeitnehmern war das mal in den 80er-Jahren ein Verhältnis im Einkommen von 20 zu 1, jetzt ist es ein Verhältnis von 200 zu 1."
    Folgen der Bildungsreform überschätzt
    In den USA beträgt das Verhältnis 300 zu 1. Analog zu dem Konzentrationsprozess am oberen Ende der sozialen Skala, sieht Wehler die untersten Schichten mehr und mehr abgehängt. Er verweist darauf, dass aufgrund der Bildungsreform vergangener Jahrzehnte zwischenzeitlich die Quote der Arbeiterkinder, die studierten, gestiegen, dann aber wieder gefallen sei. Offenbar wurden die Folgen der Bildungsreform überschätzt.
    "Das Entscheidende ist die Stummheit, mit der wir diese Entwicklung hinnehmen, anstatt mal darüber ohne Vorbehalte offen zu diskutieren und zu überlegen: Welche Möglichkeiten der Veränderung haben wir? Und da wäre ich sehr gespannt, wenn in dieser Diskussion endlich mal produktive Vorschläge nach oben kämen."
    Hans-Ulrich Wehler: "Die neue Umverteilung. Soziale Ungleichheit in Deutschland"
    C.H. Beck Verlag, 192 Seiten, 14,95 Euro
    ISBN: 978-3-406-64386-6