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Heimkinder in Rumänien (5/5)
Happy End für Mircea und schwere Zeiten für das Heim

Es hätte anders kommen können. Als der Junge Mircea im Heim landete, weil die Eltern sich nicht kümmerten, war das für ihn eine Chance. Aus dem Heimkind wurde ein Arzt mit eigener Praxis, aus der Not ein Lebensentwurf.

Von Leila Knüppel und Manfred Götzke |
    Die Kinder des Heims "Stern der Hoffnung" im rumänischen Alba Iulia beim gemeinsamen Singen.
    Die Kinder des Heims "Stern der Hoffnung" im rumänischen Alba Iulia beim gemeinsamen Singen. (Manfred Götzke / Leila Knüppel)
    Rücken gerade machen, locker in die Knie gehen: Mircea erklärt dem Patienten seiner bewegungstherapeutischen Praxis, wie er die richtige Haltung bewahrt. Wie er aufrecht durch das Leben geht.
    "So die Arme jetzt entspannen, und jetzt den Rücken durchdrücken, mehr, mehr, mehr. Genau so."
    Vor der großen Spiegelwand macht er die Übungen vor, auf den Stühlen am Eingang warten weitere Patienten.
    Seine neue Praxis läuft gut, nebenher schreibt der 26-Jährige gerade seine Doktorarbeit, hat einen Job an der Uni in Alba Iulia. Alles läuft nach Plan. Nachdem Mirceas Leben so durcheinander begonnen hat.
    Vom Kinderheim zum Doktortitel
    "Mein Vater will nichts mit mir zu tun haben - bis heute. Und meine Mutter hat sich nicht um mich gekümmert, sie hat mir morgens den Fernseher angestellt ist gegangen, ich war den ganzen Tag allein im Haus. Ich habe immer aus dem Fenster geschaut, zu den Kindern, die draußen gespielt haben, irgendwann habe ich es geschafft, das Fenster zu öffnen, ich war dann draußen, habe mit den Kindern gespielt, bei den Nachbarn gegessen, sie haben sich um mich gekümmert. Und bevor meine Mutter zurückkam, war ich wieder in die Wohnung."
    "Irgendwann hat ein Nachbar gemerkt, was los ist und sich ans Jugendamt gewandt. So bin ich dann im Heim 'Stern der Hoffnung' gelandet."
    Dass die wahre Geschichte noch viel schlimmer ist, dass seine Mutter ihr Baby – Mirceas kleine Schwester – im Müllcontainer entsorgt hat, wegen Kindstötung ins Gefängnis kam, das erzählt er nicht. Vielleicht hat er es auch verdrängt.
    Mutterstolz und Spendensammlung
    Noch eine Stunde bis zum Abendessen, es ist Hausaufgabenzeit im Kinderheim "Stern der Hoffnung". Heimleiterin Sybille Hütteman stellt den Computer an, um noch ein, zwei Mails zu schreiben und schwärmt dabei von Mircea. Mit dem ganzen Stolz einer Mutter.
    "Erst einmal hat er ein super Abi gemacht. Und dann hat er die Uni besucht. Und er ist auch sehr ehrgeizig, hat sehr, sehr viel gelernt und ist auch sehr fleißig. Dass ein Junge in seinem Alter eine Doktorarbeit schreibt, das ist schon was ganz Tolles. Er gibt auch Unterricht an der Uni. Und klar, bin ich da super stolz drauf."
    Sibylle Hüttemann-Boca, Leiterin des rumänischen Kinderheims "Stern der Hoffnung" in Alba Iulia
    Sibylle Hüttemann gründete das Kinderheim "Stern der Hoffnung" (Manfred Götzke / Leila Knüppel)
    Doch nun muss die Heimleiterin erst einmal sehen, dass ihre übrigen Kinder versorgt werden. Die Spender anschreiben.
    "Wenn es nicht zu spät ist, wäre es ganz toll, noch dicke Winterjacken und feste Schuhe zu sammeln. – "Dicke Winterjacken und Schuhe, ne?" – "Ja."
    Dicke Jacken, Schuhe, Geld, Lebensmittel, Feuerholz – einfach alles kann Hüttemann gebrauchen. Seit mehr als 20 Jahren betreibt sie das Heim, das sich ausschließlich durch Spenden finanziert. Sie hat es selbst gegründet, das Haus bauen lassen.
    Schwere Zeiten für den "Stern der Hoffnung"
    Aber so schlecht wie jetzt war es noch nie um das Kinderheim bestellt.
    "Weil die Brandherde auf der Welt ziemlich akut sind, überall, und dann kam in Deutschland noch die Flüchtlingswelle dazu, die natürlich viel, viel Unterstützung braucht. Aber dadurch sind solche Projekte wie unseres ins Hintertreffen geraten. Die Unterstützung aus Deutschland war fast von heute auf morgen wie abgeschnitten. Wir haben finanzielle Unterstützung kaum noch bekommen. Und Sachspenden dann eben auch nicht mehr."
    Um die Schulden zu bezahlen, hat Sybille Hüttemann beschlossen, einen Teil des Hauses zu verkaufen. Die Kinder müssen enger zusammenrücken, neue werden nicht mehr aufgenommen. Anders geht es nicht.
    "Das ist alles wie ein Teufelskreis. Jetzt haben wir hier: … "
    Während Hüttemann erzählt, reicht ihr ihre Assistentin Carmen einen Zettel rüber – eine Rechnung.
    "Gestern kam unsere Köchin an: Der Kühlschrank springt nicht an. Da haben wir jemanden gerufen, der hat den Kühlschrank repariert: 160 Lei, 40 Euro, 45 Euro. Das sind alles so Sachen, die kommen so zwischendurch."
    Das Heim gab Halt und Perspektive
    Um kurz nach sieben kommt Mircea in den Aufenthaltsraum des Kinderheims. Er sagt seinen Jungs kurz hallo, öffnet den Reißverschluss seiner dicken Daunenweste, lässt sich erschöpft in das Sofa im Aufenthaltsraum sinken.
    "Das ist mein Zuhause. Es war natürlich klar, dass ich nicht mein ganzes Leben hier bleiben kann. Ich bin ausgezogen, weil ich jetzt alleine klar komme. Aber auch um einen Platz für ein anderes Kind frei zu machen, das Hilfe braucht. Damit es genau die gleiche Unterstützung bekommt, die ich hier erhalten habe. Aber Sybille und ihr Mann werden immer meine Familie sein, und ich will, dass sie sich nie Sorgen um mich machen müssen. Im Gegenteil, ich will, dass sie stolz sein können, auf mich und das, was ich erreiche."
    Es sind seine ersten freien Minuten an diesem Tag. Bis gerade eben hat er mit Patienten gearbeitet, am Vormittag war er an der Uni.
    "Dass ich all das geschafft habe, ist allein ihr Verdienst. Sie hat mich immer unterstützt. Als ich studieren wollte, hat sie mein Wohnheimzimmer, mein Leben in der Uni-Stadt Cluj finanziert, damit ich mich aufs Studium konzentrieren konnte. Sie hat mich auch ermutigt, meinen Master zu machen. Ich frage mich oft, wo wäre ich heute, wenn Sybille nicht gewesen wäre. Wo wäre ich jetzt, wenn ich ihre Hilfe nicht erhalten hätte. Ja diese Frage habe ich immer im Kopf."
    Erst mit 23 hat Mircea das Heim verlassen, sich eine Wohnung in Alba Iulia besorgt. Und doch ist er noch immer fast jeden Abend hier. Auch wenn die Leiterin, Sybille Hüttemann, meint, er müsse sich an seine eigene Wohnung gewöhnen. Doch da ist nur der Fernseher als Gesellschaft.
    "Anfangs war es schrecklich, allein in der Wohnung zu sein, ich habe da auch gar nicht gewohnt, war immer bis spät abends hier. Ich bin nur zum Schlafen rüber gegangen. Jetzt ist es ein bisschen besser. Aber ich bin immer noch sehr oft hier. Nicht zu Besuch oder so. Ich komme einfach vorbei. Denn hier ist mein Zuhause, meine Familie. Und darüber bin ich sehr, sehr glücklich."