Dienstag, 19. März 2024

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Humanitäre Katastrophe in Afrika
"20 Millionen Menschen sind akut vom Hungertod bedroht"

Der Soziologe Jean Ziegler fordert mehr Mittel für das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen. Durch weniger Beitragszahlungen und Börsenspekulationen auf Grundnahrungsmittel könne die Organisation vom Hunger bedrohte Menschen in Afrika nicht ausreichend mit Hilfsmitteln versorgen, sagte er im Deutschlandfunk.

Jean Ziegler im Gespräch mit Birgid Becker | 26.03.2017
    Jean Ziegler bei der lit.Cologne 2017.
    Jean Ziegler bei der lit Cologne 2017. (imago - APress)
    Birgid Becker: Ein paar Jahre lang schien es, als sei, nein, nicht der Hunger in der Welt, aber die akute Hungersnot überwunden. Die Hoffnung war verfrüht. Rund 20 Millionen Menschen sind in Ostafrika und im Jemen akut vom Hungertod bedroht. Die Welt stehe vor der größten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg – das ist die Einschätzung des Nothilfe-Koordinators der UNO. Die Vereinten Nationen haben die Weltgemeinschaft aufgefordert, bis Ende des Monats gut vier Milliarden Dollar für Soforthilfen zur Verfügung zu stellen. Bislang ohne viel Erfolg.
    "Die fürchterliche Katastrophe, die droht"
    Mit Jean Ziegler, dem Soziologen, dem Globalisierungskritiker aus der Schweiz, habe ich vor der Sendung gesprochen und zunächst gefragt: Was tun, wenn nun nichts oder zu wenig folgt auf diesen Appell an die Staaten der Welt?
    Jean Ziegler: Sie haben Recht: die fürchterliche Katastrophe, die droht. 20 Millionen Menschen stehen am Abgrund des Hungertodes. Die Organisation der Vereinten Nationen, die sofort Hilfe leisten muss und das auch tut, das ist das Welternährungsprogramm. Das Welternährungsprogramm aber ist heute in der Krise, kann wahrscheinlich nicht tun, was es tun sollte. Ich war acht Jahre lang Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung, ich habe das immer wieder erlebt. Es gibt die sogenannte Pledging-Konferenz, die Pledging-Konferenz der Staaten, entweder in New York oder in Genf. Da kommt das Welternährungsprogramm und kommen Nichtregierungsorganisationen, die sagen, so und so viel Geld brauchten wir, um diesen Menschen zu helfen. Das Welternährungsprogramm im März hat vier Milliarden Dollar verlangt, damit es sofort eingreifen kann. Die Staaten der Welt haben 270 Millionen zugesagt.
    "Die Beitragszahlungen an das Welternährungsprogramm gehen zurück"
    Das Welternährungsprogramm hat die nötigen Hilfsmittel heute nicht, aus ganz verschiedenen Gründen. Erstens: Die Beträge, die Beitragszahlungen an das Welternährungsprogramm gehen zurück. Zweitens: Das Welternährungsprogramm ist eine Verteil- und Soforthilfe-Organisation, außerordentlich effizient mit einer Luftflotte, mit einer Lastwagenflotte, mit sehr kompetenten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Aber es muss seine Nahrungsmittel, die es dann als Hilfeleistung verteilt, auf dem Weltmarkt aufkaufen. Und wenn die Weltmarktpreise hoch sind wie gegenwärtig, kann das Welternährungsprogramm diese Hilfeleistung nicht in genügendem Maße aufkaufen. Grundnahrungsmittel sind Mais, Getreide und Reis. Die sind Objekt von Börsenspekulation, ganz legal. Die Hedgefonds und Großbanken machen astronomische Profite mit der Spekulation auf Reis, Mais, Getreide und anderen Nahrungsmittel und treiben die Weltmarktpreise in die Höhe, und das führt dazu, dass das Welternährungsprogramm dann nicht genügend Nahrung aufkaufen kann, um es in den Lagern in den fürchterlichen Elendsgebieten an die Menschen zu verteilen.
    "Unsere Verantwortung als Bürger und Bürgerinnen ist gefordert"
    Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel könnte morgen Früh durch den Bundestag, durch die Parlamente verboten werden. Unsere Verantwortung als Bürger und Bürgerinnen ist gefordert. Wir müssen durchsetzen, das können wir, es gibt keine Ohnmacht in der Demokratie, Deutschland ist die lebendigste Demokratie dieses Kontinentes, wir können durchsetzen, dass die Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel sofort verboten wird, und Millionen Menschen wären in kürzester Zeit gerettet.
    Becker: Jetzt spricht der Globalisierungskritiker aus Ihnen, der Hunger ja nicht nur aus der Perspektive der akuten Notlage sieht, sondern als strukturelles Problem.
    Ziegler: Es gibt zwei Arten des Hungers. Es gibt den strukturellen Hunger, der implizit ist in der schwachen Wirtschaftsleistung der meisten Entwicklungsländer. Alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, wobei die Weltlandwirtschaft zwölf Milliarden Menschen, also fast das doppelte ernähren könnte. Ein Kind, das jetzt, wo wir reden, am Hunger stirbt, am strukturellen Hunger stirbt, wird ermordet.
    Dann gibt es den sogenannten konjunkturellen Hunger. Das sind die plötzlichen Zusammenbrüche, wenn plötzlich Wirtschaften komplett zusammenbrechen, wie jetzt im Jemen, im Südsudan, in Nordkenia, Somalia und so weiter, weil es Kriege gibt. Das Land verwüstet, die Bauern können weder säen noch ernten. Hier haben wir es mit Kriegen zu tun. Der Südsudan wird heimgesucht von einem fürchterlichen Bürgerkrieg zwischen Dinka und Nuer. Die UNO hat es nicht fertiggebracht, dem Sicherheitsrat ein robustes Mandat zu geben. Die Blauhelme können nicht eingreifen, um die Kriegsparteien zu trennen. Im Jemen ist ein fürchterlicher Krieg, befeuert auch und ermöglicht von Frankreich zum Beispiel, weil Frankreich hat letztes Jahr für 18 Milliarden Euro Kriegswaffen an Saudi-Arabien, das den Vernichtungskrieg gegen die Schiiten im Jemen führt, geliefert. Das Internationale Komitee vom Roten Kreuz, die Deutsche Welthungerhilfe, eine ganz großartige Organisation, oder aber das UN-Welternährungsprogramm haben keinen genügenden Zugang zu den Opfern.
    "Das Welternährungsprogramm kommt nicht zu den Opfern"
    Becker: Bei den Staaten, die Sie gerade aufgezählt haben, und deren Notlagen, da handelt es sich samt und sonders um Fälle von versagenden Regierungen, von Terror und Gewalt, die die Hungersnöte ausgelöst haben. Da geht es in diesen Fällen nicht um Globalisierungsfehler, um Kapitalismusversagen oder um fehlerhafte Wirtschaftsordnungen.
    Ziegler: Nein, nein. Es gibt eine ganz klare Unterscheidung in der Analyse zwischen konjunkturellem Hunger und strukturellem Hunger. Der strukturelle Hunger wird produziert. Der Grund dafür ist die Unterentwicklung, um es rasch zu sagen, der Produktionskräfte in diesen peripheren Wirtschaften. Das ist die alltägliche Vernichtung von Millionen und Millionen Menschen durch den sogenannten strukturellen Hunger, Unterernährung, Hunger, Krankheiten und so weiter.
    Dann gibt es die ganz andere Kategorie, aber die ist ebenso fürchterlich wie der strukturelle Hunger. Die Opfer sterben auch in einer ganz schlimmen Agonie, und am Hunger zu sterben ist kein friedlicher Tod. Das ist wahrscheinlich eine der schmerzvollsten und schlimmsten Todesarten, die es gibt auf dieser Welt. Das ist der konjunkturelle Hunger. Der tritt auf, zusätzlich zum strukturellen Hunger, in schwachen Ländern, in wirtschaftlich schwachen Ländern, wo plötzlich die ganze Wirtschaft zusammenbricht durch einen Krieg, was jetzt der Fall ist in Somalia, im Jemen, im Südsudan und in Nordnigeria wegen diesen fürchterlichen Boko Haram. Da hat das Welternährungsprogramm überhaupt keinen Zugang, nur ganz schwierigen Zugang, auch wenn es die Mittel hätte, und es hat sie nicht. Das Welternährungsprogramm kommt nicht zu den Opfern, weil die Straßen von Wegelagerern verseucht sind. Auch der Wasserweg im Südsudan, der Nil und seine Zuflüsse, sind sehr gefährliche Wege. Meistens kann das Welternährungsprogramm wie jetzt, wo wir reden, nur noch mit Fallschirmabwürfen zu einigen der geplagten, gepeinigten, verhungernden Menschen kommen.
    "Hoffnung ist sicher im Aufstand des Gewissens"
    Becker: Das sind diese 20 Millionen Menschen, die wir erwähnt haben, die akut bedroht sind. Können Sie denn in irgendeiner Weise in dieser akuten Bedrohung überhaupt Hoffnung machen?
    Ziegler: Wo ist Hoffnung? – Hoffnung ist sicher im Aufstand des Gewissens, was ich in Deutschland sehe, was ich sonst sehe. Viele, viele geben, was sie geben können. Die Welthungerhilfe – die habe ich schon zitiert – ist die größte Nichtregierungsorganisation der Welt. Die macht ganz großartige Arbeit. Jeder Euro, der an die Deutsche Welthungerhilfe gespendet wird, spendet Leben, oder besser gesagt Überleben in den gepeinigten Katastrophengebieten.
    Becker: Herr Ziegler, wenn wir Satten so an einem Sonntagmorgen über den Hunger sprechen, ganz wohl können wir uns in dieser Rolle ja nicht fühlen. Unsere Empörung, die ist ja ziemlich weit entfernt vom Geschehen, und unsere Warte ist eine sehr komfortable. Wie gehen Sie, der sich seit Jahrzehnten mit diesem Thema beschäftigt, mit dieser seltsamen Situation um?
    Ziegler: Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass es dieses Interview gibt, dass jetzt endlich über diese Katastrophen geredet wird. Brecht sagt, die einen sind im Schatten, die anderen sind im Licht, und man sieht die im Lichte, die im Schatten sieht man nicht. Es wird ja anonym gestorben, weit weg, und die Opfer haben überhaupt gar keine Stimme.
    "Nur der Zufall der Geburt trennt uns von den Opfern"
    Becker: Dann ist es in Ihrem Sinne, Herr Ziegler, wenn ich unser Gespräch auch als Spendenaufruf verstehe?
    Ziegler: Natürlich! Es geht um Überleben von Menschen, von denen uns ja nur der Zufall der Geburt trennt. Wer jetzt im Südsudan stirbt, das könnte mein Kind sein, meine Frau, mein Bruder. Nur der Zufall der Geburt trennt uns ja von den Opfern. Und wenn wir so unglaubliche Privilegien haben, wir als Weiße in Deutschland, in der Schweiz, in Frankreich geboren zu werden, und etwas Geld haben, das sollten wir unbedingt tun, in der totalen Sicherheit – das sage ich jetzt, weil ich das Terrain kenne -, dass jeder Euro, der der Welthungerhilfe gespendet wird, dem Internationalen Roten Kreuz, Terre des Hommes, oder eben dem Welternährungsprogramm, jeder Euro kommt bei den Opfern an.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.