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Integration auf dem Prüfstand
Palmer fordert "eine realistische Betrachtung der Belastbarkeit"

Viel Gegenwind hat Tübingens grüner Oberbürgermeister Boris Palmer geerntet, als er sich 2015 kritisch zur Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin äußerte. Das Thema und die Kritik haben ihn weiter beschäftigt. Seine Erkenntnisse und Erfahrungen hat er im Buch "Wir können nicht allen helfen" zusammengefasst.

Von Uschi Götz | 07.08.2017
    Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen)
    Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer (Bündnis 90/Die Grünen) (picture alliance / dpa / Silas Stein)
    Der Buchtitel lässt nichts Gutes ahnen: "Wir können nicht allen helfen" - Der grüne Oberbürgermeister aus der schwäbischen Provinz will mit diesem Titel natürlich provozieren. Denn anders schafft es ein Kommunalpolitiker nicht in die bundesweiten Schlagzeilen. Politischen Sprengstoff jedoch beinhalten die 256 Seiten nicht. Palmer legt vielmehr eine Analyse der Flüchtlingspolitik der vergangenen zwei Jahre vor - und zwar aus der Sicht eines Kommunalpolitikers.
    Es geht um die Aufnahme von Flüchtlingen und darum, was das Grundgesetz dazu hergibt und was nicht. Es geht um europäische Nachbarn, die nur sehr wenige Flüchtlinge aufgenommen haben und um das Dublin-Abkommen. Palmer schreibt, man brauche keine Obergrenzen, sondern – Zitat - "eine realistische Betrachtung der Belastbarkeit unserer Nachbarschaften."
    Gegen den grünen Strich
    Über all das lasse sich diskutieren, aber ohne Lagerdenken, ohne Diffamierungen, das vor allem ist die Botschaft des grünen Politikers. Auch an die eigene Partei, denn selbst den Realos unter den Grünen fällt es schwer, sich hinter ihren Tübinger Parteifreund zu stellen.
    "In erster Linie habe ich schon an all die Parteifreunde gedacht, die mich in den letzten zwei Jahren so heftig kritisiert haben. Ich würde mir wünschen, dass die es sich genau anschauen. Und vielleicht kann ich dafür sorgen, wieder ein differenziertes Bild herzustellen."
    Boris Palmer widmet dieses Buch seinen Eltern, die ihm gezeigt hätten, was ein klarer Standpunkt bedeute. Sein verstorbener Vater war in Baden-Württemberg als "Remstalrebell" bekannt, das rebellische hat sich auf den Sohn übertragen. Der 45-Jährige ist selbst in der eigenen Partei umstritten - nachdem er - anders als ein Großteil der Grünen - Ende 2015 nicht in den damaligen Willkommenschor mit eingestimmt hat. Er schreibt von Flüchtlingsidealismus:
    "Wenn die Stimmung sich nur halten lässt, solange wichtige Fakten ausgeblendet oder geschönt werden, kippt sie zwangläufig. Dann aber ist die Enttäuschung oder gar der Frust groß. Nur wer von Anfang an realistische Erwartungen bildet, kann dauerhaft eine positive Grundhaltung bewahren."
    Eine "saubere moralische Lösung" gibt es nicht
    Bundeskanzlerin Angela Merkel habe Anfang September 2015 – als sie die deutsche Grenze für die in Budapest gestrandeten Flüchtlinge öffnete - eine realpolitische Entscheidung getroffen. Palmer schreibt, es sei keine moralische Entscheidung gewesen, wie die Kanzlerin damals sagte.
    "Ob Angela Merkel überhaupt eine Wahl hatte, als die Flüchtlinge auf die österreichische Grenze zu marschierten, weiß ich nicht. Vermutlich nicht. Das war nicht der Fehler. Der Fehler war eine Politik, die aus der Not geboren wurde, zum moralischen Imperativ zu erklären und einen großen Teil der deutschen Gesellschaft damit auszugrenzen."
    Zur Wahrheit gehöre aber auch, dass es keine saubere moralische Lösung gebe. Palmer hat keine theoretische Abhandlung über die Folgen einer - seiner Meinung nach - falschen Flüchtlingspolitik vorgelegt.
    Die Mühen der Ebene
    Die Stärke dieses Buches ist, dass er aus der Sicht eines Oberbürgermeisters erzählt, wie eine Kommune den Flüchtlingszuzug ganz praktisch bewältigt hat. "Willkommen in Deutschland" lautet eine Kapitelüberschrift und Palmer beschreibt wahnwitzige, bürokratische Hürden bei der Unterbringung von Flüchtlingen:
    "Weil die Urheber von Gesetzen und Vorschriften nicht bereit waren, Abstriche von Bauvorschriften zu machen, mussten Flüchtlinge bis anderthalb Jahre in Notunterkünften leben oder sind nun in Containerlandschaften irgendwo am Stadtrand untergebracht. Für die Integration sind das denkbar schlechte Startbedingungen."
    Obwohl Palmer im Herbst 2015 Angela Merkels "Wir schaffen das" bei Facebook ein "Wir schaffen es nicht" entgegensetzte, versuchte er damals zeitgleich, Eigentürmer in Tübingen dazu zu bringen, ihre freistehenden Wohnungen und Häuser doch zu vermieten. Die Rückmeldungen seien bisweilen schockierend gewesen:
    "Ich wurde wahlweise als Nazi oder Kommunist beschimpft. 'Lass deine dreckigen Finger von meinem Eigentum.' 'Bevor du so ein Gesindel in mein Haus setzt, erschieße ich dich.'"
    Doch die meisten Reaktionen erntete Palmer für seine offene Kritik an Merkels Flüchtlingspolitik. In seinem Buch geht es um die Schärfe der Vorwürfe und um die mangelnde Bereitschaft vieler, sich mit der Flüchtlingsfrage sachlich auseinanderzusetzen:
    "Ich war wegen dieser vielen, vielen Vorwürfe, ich sollte doch zur AfD gehen - früher hat man gesagt, geh doch mal rüber in die DDR - nicht erschreckt, aber es hat mich die letzten beiden Jahre wahnsinnig angestrengt. Es kommt so reflexartig, wann immer man ein Problem beschreibt im Kontext mit Flüchtlingen, dann heißt es: 'Geh doch zur AfD'. Es wird dämonisiert, es wird ausgegrenzt und viel zu wenig diskutiert und analysiert."
    Veränderte Perspektiven und Einschätzungen
    Die Willkommensberichterstattung der Medien sei mit der Kölner Silvesternacht beendet gewesen, stellte auch Palmer fest:
    "Es war nun plötzlich möglich, auch über Kriminalität oder sexuelle Gewalt von Flüchtlingen zu diskutieren, ohne sich den Vorwurf der Rechtslastigkeit gefallen lassen zu müssen."
    Schon früh hatte Palmer darauf aufmerksam gemacht, dass vor allem junge Männer als Flüchtlinge nach Deutschland kämen. "Augen zu nutzt nix - Junge Männer verändern unser Land", unter dieser Überschrift erklärt er, welche Auswirkungen dies unter anderem auf das Tübinger Nachtleben hat.
    Palmers Resümee: Für die Integration von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum reiche es nicht aus, die Werte des Grundgesetzes hochzuhalten. Inspiriert von Bassam Tibi, einem deutschen Politikwissenschaftler syrischer Herkunft, spricht sich der Grüne für eine deutsche Leitkultur aus:
    "Leitkultur war in der ersten Runde vor 15 Jahren, damals Friedrich Merz vorne dran, für mich ein Kampfbegriff. Ich habe das als blödsinnige Deutschtümelei empfunden, konnte damit gar nichts anfangen. Mittlerweile habe ich den Wissenschaftler, der den Begriff geprägt hat, Basam Tibi, persönlich kennengelernt und viele neue Erfahrungen gesammelt. Ich verstehe heute, dass wir das brauchen."
    "Wir müssen uns unserer Selbst vergewissern und zugleich die Andersartigkeit der Fremden, die zu uns kommen, erkennen und sachlich beschreiben. Nur wenn wir wissen, wer wir sind und was wir von den Menschen erwarten, die zu uns kommen, kann es gelingen, Vielfalt zu leben, ohne die eigene Identität zu verlieren."
    Man kann in der Flüchtlingsfrage anderer Meinung sein als Palmer, sein Buch aber lädt zur sachlichen Auseinandersetzung ein. Wer sich darauf einlässt, kann jenseits der Kategorien "gut oder böse, links oder rechts" eigene Standpunkte hinterfragen. Die Stadt Tübingen, auch das ist im Buch zu erfahren, hat den Flüchtlingszuzug doch geschafft. Palmer räumt das an mehreren versöhnlichen Stellen ein.
    Boris Palmer: "Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit"
    Siedler Verlag, 256 Seiten, 18 Euro.