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Kinderbuchautor und Künstler Stian Hole
"Mein Ziel ist diese traumartige Wirklichkeit"

Fotomaterial, Zeichnungen und surreale Verfremdungen ¬ all dies vereint der norwegische Künstler Stian Hole in seinen Büchern zu einer digitalen Collage. "Ich versuche, eine traumähnliche Wirklichkeit herzustellen", sagte Hole im DLF. Für ihn müsste Kinderliteratur nicht immer fröhlich sein, sondern auch Tod und Trauer thematisieren können.

Kinderbuchautor Stian Hole im Gespräch mit Ute Wegmann |
    Der niederländische Kinderbuchautor Stian Hole.
    Der norwegische Künstler Stian Hole entwickelt in seinen Büchern digitale Collagen, die wie eine Sequenz aus einem Traum wirken. (Deutschlandradio / Ute Wegmann)
    Ute Wegmann: Das Bilderbuch im Zeitalter der Digitalisierung am Beispiel eines skandinavischen Künstlers. Zuerst haben wir Garman kennengelernt: weißer Igelschnitt, Sommersprossen, skeptischer Blick, ein Pflaster unterm Rippenbogen. Es ist Sommer, der Sommer vor der Einschulung. Garman macht sich viele Gedanken, über Tod, über Altsein, das liegt auch an den drei Tanten mit den Härchen am Kinn und den falschen Zähnen.
    Es ist Herbst geworden, wir erfahren mehr über Garman, über seine Straße, seinen Alltag und dass es nicht leicht ist, Angst zu haben und mutig zu sein. Und im dritten Buch ist Mai, man feiert den Nationalfeiertag in Norwegen. Zwillinge spielen eine Rolle, zwei Mädchen, eine davon sehr nett, eine weniger. Garman teilt mit der Netten ein Geheimnis.
    Alle drei Bilderbücher sind in einer digitalen Collagentechnik gearbeitet: Fotomaterial, Zeichnungen, Gemaltes, realistische Motive, surreale Verfremdungen durch Größenverschiebungen oder ungewöhnliche Perspektiven.
    Ein Spiel mit Nähe und Distanz. Wer ist der Mann hinter Garman? Stian Hole sein Name, geboren 1969 in Norwegen. Er studierte visuelle Kommunikation, hat viele Buchumschläge für Romane gestaltet und als Grafiker gearbeitet.
    Stian Hole, wie kamen Sie zur Bilderbuchszene?
    Hole: Als ich die Buchumschläge für andere Autoren machte, hatte ich immer den Wunsch, mal selber eine Geschichte zu erzählen. Ich begann, mit einer Idee zu spielen und meine Erfahrungen anzuwenden. Außerdem hab ich versucht, Worte zu finden und einen Dialog zwischen Text und Bildern herzustellen. Das war der Beginn. Ich wollte das Bilderbuch erforschen und sehen, ob ich in der Lage sein werde, die einzelnen Stücke zu einer Geschichte zusammenzufügen.
    Wegmann: Ihre Bilder entstehen am Computer. Es sind digital bearbeitete Photos von Menschen und auch von Landschaften. Dazu kommen Zeichnungen und gemalte Motive. Die Figur Garman ist somit einerseits sehr realistisch, wir sehen das Bild eines Gesichts, und doch verfremden Sie die Figuren durch Größenveränderungen.
    Zum Beispiel: Tante Borghild, träumend sitzt sie in einem Stuhl. Eine Doppelseite. Rechts ein großes, faltiges Frauengesicht mit Härchen am Kinn, grauem Haar, im Stuhl in einer Halbtotalen, Kissen im Rücken, Perlenkette um den Hals. Kleid mit Spitzenbordüre. Auf dem schwarzen Kleid eine gezeichnete Fliege, von oben betrachtet. Der Hintergrund: pastellige Hellblautöne auf Holzstruktur. Darauf gesetzt symmetrisch, rund angeordnet Blütenblätter. Ganz zart am linken Bildrand der monochrome helle Schatten einer tanzenden jungen Frau. Was genau machen Sie hier? Wie erarbeiten Sie eine solche Komposition?
    Hole: Ich nenne es: ein Arbeiten an "übergangslosen traumähnlichen digitalen Collagen". Ich möchte nicht, dass die Werke wie Fotos oder wie die Wirklichkeit aussehen. Ich versuche, eine traumähnliche Wirklichkeit herzustellen. So spiele ich mit verschiedenen Elementen, sammele sie und füge sie zusammen. Ich arbeite digital mit Schichten und vielen Einzelteilen, die ich hin- und herbewege, vom Maßstab verändere oder drehe. Und beobachte, ob etwas Interessantes passiert. Mein Ziel ist diese traumartige Wirklichkeit.
    Etwas, das ich sehe, wenn ich meine Augen schließe, zum Beispiel, wenn ich an meine alten Tanten denke. Aber ich will nicht, dass es realistisch ist. Einige Kinder sagen, die alten Damen seien furchteinflößend, weil man ihnen so nah kommt. Ich finde sie liebenswert und wunderschön - mit ihren Falten und ihren grauen Haaren. Es ist interessant, wie unterschiedlich wir uns den Bildern annähern, wie unterschiedlich wir Dinge wahrnehmen, je nachdem ob man ein Kind ist oder erwachsen.
    Ich finde, dass Bilderbuch sollte auch ein Treffpunkt sein. Oft wird es von Kindern und Erwachsenen zusammengelesen und bietet eine schöne Gelegenheit über das ein oder andere zu sprechen. Dies Idee, dass sich Generationen beim Bilderbuch Lesen treffen, mag ich sehr.
    Wegmann: Würden Sie denn sagen, Ihre Zielgruppe sind Kinder und Erwachsene?
    Hole: Ich möchte mit meinen Büchern die Kinder erreichen. Aber in Norwegen betrachtete man meine Bücher als All-Age-Bücher. Mein Ziel ist es, die Welt durch die Augen eines Kindes zu sehen. Aber gleichzeitig möchte ich den erwachsenen Lesern eine Art Postkarte oder Mitteilung schicken. Ich selber schätze das auch, wenn in den Büchern etwas an mich als Erwachsener adressiert ist. So kann die Geschichte Menschen auf verschiedenen Ebenen erreichen. Das interessiert mich: Welche Einzelheiten sieht das Kind, und was nimmt der erwachsene Leser wahr. Das ist oft sehr unterschiedlich.
    Wegmann: Nun kennen wir Garman und Stian. Aber wer ist Anna? Im Jahr 2014 erscheint das Bilderbuch Annas Himmel, eine Geschichte über das Trauern. Annas Mutter ist gestorben, es ist der Tag ihrer Beerdigung, kurz vor der Fahrt zum Friedhof.
    Tod, Alter, das Ende der Kindheit, Verlust, Angst, Zeit, Liebe - es ist wie eine Rezeptur, eine Stian-Hole-Rezeptur. Immer wieder neu gemischt, tauchen diese Themen in all Ihren Büchern auf.
    "Wenn ich eine Geschichte erarbeite, muss sie eine Bedeutung haben"
    Hole: Ich möchte Bücher über Themen machen, die ich wichtig finde. Ich möchte Dinge erkunden, die ich auf der Gefühlsebene für wichtig halte. Ich möchte nicht, dass Menschen meine Bücher etikettieren und sagen: Das sind traurige Geschichten, dunkle Geschichten und nichts für Kinder. Wenn jemand das behauptet, antworte ich: Siehst du denn nicht die ganzen freudvollen Dinge? Da ist Hoffnung und vieles mehr. Wenn ich eine Geschichte erarbeite, muss sie eine Bedeutung haben. Ich muss mich mit Dingen beschäftigen, die für mich im Leben wichtig sind.
    Wegmann: Es sind keine leichten Themen, die Sie im Bilderbuch platzieren! Das Thema Tod im Bilderbuch führt immer wieder zu Diskussionen. Was kann man Kindern zumuten? Wann soll man Kinder mit der Endlichkeit und dem wahren Leben konfrontieren. Aber Sie sind der Meinung, dass man das schon im Kindergartenalter machen kann.
    Hole: Ich denke, dass Kinder schon sehr früh ein Bewusstsein für diese Themen haben. Sie wissen sehr früh, dass das Leben kein sicherer Ort ist. Ich glaube, das ist Erwachsenendenken, dass man Kinder vor den Themen beschützen sollte, und dass Kinderliteratur immer fröhlich und heiter sein soll. Aber das Leben ist nicht immer so. Kinder wissen das, aus der Schule, aber auch schon vorher. Und Kinder haben keine Angst, sich damit zu beschäftigen. Sie fragen nach dem Tod, sie gehen direkter auf die existenziellen Dinge zu.
    Außerdem denke ich, dass alles, was im Leben schwierig erscheint, leichter wird, wenn man darüber spricht oder schreibt. Das kann auch eine Aufgabe der Literatur sein, sich den schwierigen Themen anzunähern.
    "Das wollte ich zeigen, wie Kinder dank ihrer Phantasie mit ihrem Schmerz umgehen"
    Wegmann: Nun haben Sie schon gesagt, auch wenn Sie die existenziellen Themen ansprechen, gibt es immer sehr viel Hoffnung. In Annas Himmel heißt es: "Heute lässt da oben jemand Nägel vom Himmel regnen. Das sollte so nicht sein, sagte Papa. Nein, flüsterte Anna, aber morgen sind es vielleicht Erdbeeren mit Honig."
    Das Vorsatzpapier zeigt einen leicht bewölkten Himmel mit dicken Nägeln, die zur Erde fallen wie Regentropfen. Auf dem Nachsatz ist der Himmel der gleiche, nicht wolkenlos, aber es sind Erdbeeren. Das Bilderbuch mit dem Thema Trauer ist das Farbenfrohste, das Überbordenste, das Barockeste, was sich durch Blumen und Farben und Vögel und Muster herstellt. War das für Sie gerade in dem Buch wichtig, durch die Gestaltung Hoffnung und Zuversicht herzustellen?
    Hole: Ja, auf jeden Fall. Ich habe mal einen Autoren-Kollegen um Rat gefragt und er sagte: Wenn du über schwere Themen wie Trauer oder so etwas schreibst, dann benutze leichte, helle Farben und lass etwas wachsen. So habe ich es in Annas Himmel gemacht. Und interessant ist, dass Anna in dieser schweren Zeit ihre Vorstellungskraft benutzt und das zeigt sie ihrem Vater, dass man dank der Phantasie Hoffnung finden kann. Das wollte ich zeigen, wie Kinder dank ihrer Phantasie mit ihrem Schmerz umgehen.
    Wegmann: Ist die Assoziation zum Barock, zum Carpe Diem richtig?
    Hole: Ja, auch das ist etwas, was wir von Kindern lernen können. Ganz oft leben sie genau im Augenblick.
    Wegmann: In Ihren Büchern tauchen viele bekannte und weniger bekannte Gesichter auf. In Annas Himmel – und dort auf einer Doppelseite, dem Himmel der Mutter – Picasso zum Beispiel und Elvis Presley, der in einem anderen Buch noch präsenter ist.
    Das wirkt wie ein großer Spaß. Als würden Sie Ihre Lieblingsfiguren der Kunst oder Ihre Helden der Geschichte dort unterbringen?
    Hole: Ja, wenn ich an einer Geschichte arbeite, ist das auch wie ein erfreuliches Spiel. Diese Verweise sind meine Postkarten, adressiert an Menschen, die ich bewundere oder die mich beeinflusst haben. Und es sind Adressierungen an die erwachsenen Leser.
    Für die Geschichte ist es nicht wichtig, und vielleicht überfordert es die Kinder auch, aber der Erwachsene nimmt es auf. Und zur gleichen Zeit nimmt das Kind andere Dinge auf, über die der Erwachsene hinwegliest. Hoffentlich!
    Wegmann: Nun habe ich Picasso und Elvis genannt. Wen habe ich nicht erkannt?
    Hole: Es gibt ganz viele Verweise. Einige sind Geheimnisse, die nur mich betreffen. Aber da gibt es zum Beispiel Magritte, dann der wunderbare amerikanische Maler Edward Hopper, und jede Menge Zitate aus Filmen oder aus der Literatur. Es ist ein schönes Spiel, während ich an der Geschichte arbeite.
    "Ich finde, Bilderbücher haben viel gemeinsam mit dem Theater."
    Wegmann: Wer hat Sie künstlerisch am meisten geprägt?
    Hole: Viele Leute. Künstler, die ich verehre. Nicht nur Maler und Illustratoren, auch Musiker und Filmemacher und das Theater. Ich finde, Bilderbücher haben viel gemeinsam mit dem Theater. Du siehst etwas, hörst etwas anderes und verstehst etwas drittes. Viele Einflüsse reichen in das Bilderbuch. Den Surrealisten René Magritte habe ich schon erwähnt, ebenso Edward Hopper. Ich bewundere viele. Wenn ich an den Collagen arbeite und auf sie verweise, ist das meine Art und Weise ihnen zu danken.
    Wegmann: Sie haben viele Preise gewonnen mit Ihren Büchern, u.a. im Jahr 2016 einen großen Illustrationspreis, der Preis des Gemeinschaftswerks der evangelischen Publizistik. Aus 222 Einsendungen wählte die Jury Ihr aktuelles Buch "Morkels Alphabet".
    Noch einmal begegnen wir dem Mädchen Anna. Es ist Winter, der Wald verschneit, so zeigt das Vorsatzpapier. Alles beginnt mit einem kleinen Zettel auf dem Acker und trotz Kälte , Mühen und Schals entwickelt sich eine tiefe, warme Beziehung zwischen zwei jungen Menschen am Beginn der Pubertät. Ein Buch über die erste Liebe und die Wege, wie man sie entdecken kann, aber auch über die Schwierigkeiten, sie zuzulassen und sie auszuhalten. Wie entstand Morkels Alphabet?
    Hole: Wie fast alle meine Geschichten hat auch diese einen Startpunkt durch etwas, das ich gesehen habe. Bei Morkels Alphabet habe ich ein paar Fetzen Papier auf dem Feld gefunden. Jemand hatte Wörter aufgeschrieben.
    Ich hab die Zettel aufgehoben und angefangen, darüber nachzudenken, wer das geschrieben haben könnte. Und dann spürte ich, dass das eine Geschichte werden könnte. Also die meisten Geschichten beginnen mit einem Bild, mit etwas, das ich sehe, dann werde ich neugierig und erforsche, ob es sich zu einer Geschichte entwickeln kann.
    "In skandinavischen Bilderbüchern spielen die Natur oder auch der Wechsel der Jahreszeiten wichtige Rollen"
    Wegmann: Die beiden müssen sich im Winter begegnen, weil Morkel, der sich nicht gut öffnen kann, sich noch hinter Schal und Mütze verstecken kann. Wir sehen ihn so auf dem Cover. Man sieht nur seine Augen.
    Hole: Das ist eine schöne Beobachtung. Morkels Alphabet handelt von dem Versuch, einen Freund zu finden. Es ist eine zarte Geschichte über die Freundschaft zwischen Anna und Morkel. Morkel versteckt sich im Wald, geht nicht zur Schule, hat in der Baumkrone ein Baumhaus gebaut. Es ist eine Geschichte über die Sehnsucht nach einem Freund.
    Wegmann: Anna und Morkel begegnen sich in der Natur. Auf dem Acker. Im Wald. Auf einem Baumhaus. Der natürliche Raum, die Natur ist ein wichtiges Element in Ihren Bilderbüchern.
    Hole: Ja, ja, das ist interessant, dass in skandinavischen Bilderbüchern die Natur oder auch der Wechsel der Jahreszeiten wichtige Rollen spielen. Für mich war klar, dass der Wald das ideale Setting ist, denn der Wald ist der perfekte Ort für Geheimnisse. Und es ist ein Ort, wo du deine Sinne schärfst.
    In meinen Bilderbüchern spielt eine große Rolle, wie die Charaktere ihre Sinne benutzen, wie wach sie sind. In Morkels Alphabet spielen die Vögel eine große Rolle, aber auch die Blumen und alles, was wächst. Es erzählt etwas über die Sensibilität der Charaktere.
    Wegmann: Sie vermitteln in "Morkels Alphabet" in Bild und Wort die Wichtigkeit des Zuhörens und Hinhörens, der Stille, des Miteinanderschweigens und des Zeithabens und das alles in einem zarten, ersten Liebesverhältnis oder einer großen, tiefen Freundschaft.
    Hole: Das sind alles wichtige Beobachtungen. Und sie werden in unserem rastlosen Leben immer wichtiger. Ich sehe meine eigenen Kinder mit ihren Smartphones und muss sie auffordern, sie wegzulegen, Menschen in die Augen zu schauen. Ein wichtiges Element meiner Bilderbucharbeit ist das Tempo zu verlangsamen. Das ist überhaupt ein wichtiger Wesenszug von Literatur und Kunst. Es hilft uns, unser Tempo herunterzupegeln und über wichtige Dinge nachzudenken.
    Man hat das Gefühl, dass sich das Tempo in unserer Gesellschaft permanent erhöht . Um so wichtiger, sich zu sehen und gesehen zu werden. Es ist für jeden Menschen von Bedeutung, von jemandem gesehen zu werden. Anna schreibt auf den ersten Zettel an Morkel: Ich habe dich gesehen! Das ist ein wesentlicher Satz, weil Morkel nicht von vielen gesehen wird. Aber Anna sieht ihn.
    "Ich versuche einen Rhythmus zu finden, Dinge miteinander zu verbinden."
    Wegmann: Sehen und gesehen werden, sicherlich ein großes Thema in "Morkels Alphabet". Kommen wir noch mal zurück zur Bildgestaltung.
    Sie spielen mit den Größenverhältnissen und Perspektiven und dabei scheint es Ihnen nicht so wichtig, dass die Perspektive stimmt. Oder die Köpfe der Figuren sind manchmal extrem überzeichnet. Was ist der Hintergrund?
    Hole: Geschichtenerzählen ist auch ein Handwerk, man kann es lernen , es ist nicht mystisch. Es hat mit Rhythmus, Kontrasten und der Verwendung der Farben zu tun. Ich versuche immer, den Blickwinkel zu wechseln.
    Manchmal überrasche ich mich selbst, muss die Geschichte korrigieren oder einen neuen Standpunkt finden. Vielleicht sollte ich die Kinder aus der Vogelperspektive betrachten, das ist interessant, weil ja Morkels Alphabet auch eine Geschichte über Vögel ist. So wähle ich hin und wieder die Vogelperspektive. Das ist Teil des Erzählens. Ich versuche einen Rhythmus zu finden, Dinge miteinander zu verbinden. Das gehört zu den Kniffen und Tricks des Geschichtenerzählers.
    Wegmann: Nun haben Sie schon von den Aufsichten gesprochen, dem Vogelblick. Vögel spielen in fast allen Büchern eine große Rolle. Aber sie arbeiten auch mit Untersichten, mit Totalen und Nahen. Wer hat Sie mehr beeinflusst: Das Medium Film oder Pablo Picasso oder Magritte?
    Hole: Es ist eine Mischung. Ich interessiere mich sehr für gute Geschichtenerzähler, wie sie Geschichten bauen. Ich habe von dem großartigen australischen Bilderbuch-Künstler Shaun Tan gelernt.
    Er hat mir Folgendes gesagt: Wenn du dich mit einem Bilderbuch oder einem Kunstwerk beschäftigst, kannst du dir zwei sehr einfache Fragen stellen: Welche Gefühle löst es aus? Und welche Gedanken? Das ist ein hervorragender Weg, sich Kunst, Literatur, dem Bilderbuch, dem Kinderbuch zu nähern, weil du kein Experte sein musst. Der Kinderblick hat den gleichen Wert wie der eines Kunstprofessors.
    "Okay, es ist nah am Kitsch - für mich ist es Annas Traum."
    Wegmann: Shaun Tan, der große australische Künstler ist auch in Deutschland sehr bekannt, und das sind in der Tat zwei scheinbar sehr einfache und doch gute Fragen, mit denen man an jede Geschichte herangehen kann.
    Es gibt in "Morkels Alphabet" zwei oder drei Traumsequenzen: Eine zeigt einen nächtlichen Wald. Pflanzen, Tiere, der Mond mit einem Uhu-Gesicht, fliegende weiße Papiere, die zu Vögeln werden. Linke Doppelseite: Anna liegt mit offenen Augen im Bett. Rechte Doppelseite: Hinter den Bäumen, in hellem Blau, erstrahlt überdimensional ein Mädchengesicht mit gesenkten Lidern. Dieses Bild als auch die zweite Traumsequenz, in der ebenfalls Blätter zu Vögeln werden, bricht mit der ansonsten realistischen, kühlen Struktur und nährt sich ein wenig dem Kitsch an. Warum haben Sie Ihre ursprüngliche Konzeption verlassen?
    Hole: Zuerst möchte ich sagen, das das Träumen sehr wichtig ist. Und beim Geschichtenerzählen kann man mit Traumsequenzen wunderbar spielen und etwas ausprobieren. Ich würde auch gern das Wort Kitsch kommentieren. In meinen Ohren klang das sehr negativ und wenn ich damit konfrontiert wurde, machte mich das immer etwas unsicher. Als ich älter wurde, hatte ich keine Angst mehr vor dem Wort. Früher fürchtete ich, dass man meine Arbeit damit abstempeln könnte.
    Heute denke ich, wenn jemand das Wort benutzt, sagt es auch viel über den, der es verwendet, es schafft eine Distanz, ist von oben herab. Jemand der vielleicht seine Kunstkenntnisse zeigen möchte. Denn noch nie habe ich ein Kind gehört, das das Wort Kitsch oder ein ähnlichen Begriff benutzt hätte. Ich glaube, dass Kitsch in der Kinderperspektive nicht existiert. Wenn also heute jemand sagt, meine Traumsequenzen seien nah am Kitsch, dann macht mir das keine Angst mehr. Okay, es ist nah am Kitsch, für mich ist es Annas Traum. So sieht das aus, wenn ich versuche, ihren Traum als Bild darzustellen.
    "Der Dialog zwischen Text und Bild eröffnet uns viele Möglichkeiten im Bilderbuch."
    Wegmann: Sprechen wir noch kurz über die Bedeutung des Alphabets. Sie spielen gern mit Worten, setzen sie manchmal einzeln ein, geben damit in diesem Buch , aber auch in anderen , eine ganz besondere Bedeutung. Heben ein Wort aus der Menge der Wörter heraus. Aber es bedeutet auch, sich über Wörter, über Assoziationsketten einander anzunähern?
    Hole: Ja! Zuallerst möchte ich in dem Zusammenhang meiner Übersetzerin Ina Kronenberger danken. Sie hat das Buch auf wunderbare Weise ins Deutsche übertragen. Das ist schwierig, denn der kurze Bilderbuchtext ist vergleichbar mit Poesie, mit einem Gedicht. Ein schöner Klang, ein guter Rhythmus sind wichtig und da ist kein Platz für unnütze Dinge. Man muss scharf und präzise formulieren. Wie beim Gedicht. Und natürlich hab ich viel am Text gearbeitet.
    Beim Bilderbuch ist ja ohnehin die Spannung zwischen Bild und Text am interessantesten, also was der Text sagt und was das Bild zeigt. Ich verwende viel Zeit auf den Text. Und ich stelle fest, dass Kinder das Spiel und die Verwendung der Wörter lieben. Sie hören den Klang, die Musik der Worte, und wenn sie klein sind, mögen sie die Wiederholungen. Für mich ist der Text genau wichtig wie das Bild. Aber sie sollten nicht das Gleiche aussagen. Der Dialog zwischen Text und Bild eröffnet uns viele Möglichkeiten im Bilderbuch.
    Wegmann: Wenn wir das Bilderbuch betrachten, stellen wir fest: Es ist ein Hin und Her von Nähe und Distanz in der Bildgestaltung, aber auch in der Beziehung zwischen den beiden Figuren. So wie in einer Liebe oder einer tiefen Freundschaft, wo die Gefühle auch an- und abschwellen. Was stand für Sie bei all den vielen Themen, die auch in diesem Buch zum Tragen kommen, bei der Gestaltung der Geschichte im Vordergrund?
    Hole: Es ist die Geschichte der Sehnsucht nach einem Freund. Ich mag diese Idee von Nähe und Ferne. Und Entfernung, das ist in vielerlei Hinsicht ein Schlüsselwort beim Geschichtenerzählen. Es geht um die Beziehung von mir zur Geschichte, aber auch darum die Distanz zwischen der Geschichte und dem Leser zu verringern. Also Distanzen aufheben, das ist das Schlüsselwort. Und man muss einen Rhythmus finden, so ist es im Leben doch auch.
    Wegmann: Die Distanzen zu verkürzen, das ist Ihnen im und mit diesem Buch gelungen. Das gelingt auch Anna und Morkel. Zum Schluss werden wir sie sehen. Sie liegen Kopf an Kopf im Gras, auf einer Wiese. Es ist Sommer oder Frühjahr und Morkel wird weder Schal noch Mütze tragen und wird sich öffnen können.
    Vielen Dank für das Gespräch.

    + Stian Hole: Garmans Sommer. Hanser Verlag, München 2009, 14,90 Euro
    + Stian Hole: Garmans Straße. Hanser Verlag, München 2011, 14,90 Euro
    + Stian Hole: Garmans Geheimnis. Hanser Verlag, München 2012, 14,90 Euro
    + Stian Hole: Annas Himmel. Hanser Verlag, München 2014, 14,90 Euro
    + Stian Hole: Morkels Alphabet. Hanser Verlag, München 2016, 14,90 Euro