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Mainzer Leibniz-Institut
Über Grenzregionen, Migranten und Minoritäten

Bereits vor der Flüchtlings- und Islam-Diskussion in Deutschland hatte das Mainzer Leibniz-Instiut für Europäische Geschichte eine neue Reihe zum Thema geplant: "Europas Ränder" rückt Minderheiten und Marginalisierte ins Bewusstsein. Und konfrontiert dabei Deutschland und Europa mit der eigenen Widersprüchlichkeit.

Von Anke Petermann |
    Die Roma - vom indischen Subkontinent nach Europa eingewandert im 15. Jahrhundert, in kleinen, friedlichen Gruppen - ein Musterbeispiel gewaltloser Integration hätte es werden können. Aber an der Schwelle zur Neuzeit kam es anders, so erzählt der Bielefelder Germanistik-Professor Klaus-Michael Bogdal, in seiner historisch-literaturwissenschaftlichen Dokumentation "Europa erfindet die Zigeuner".
    Der Umbruch des ausgehenden Mittelalters - keine Epoche, in der Neuankömmlingen freundlich Asyl gewährt wird. Als asozial und nicht integrierbar wurden die Fremden von Anfang an stigmatisiert, wechselweise galten sie als "Ägypter" gleich "Gypsies", als "Spione der Türken", als "Wilde" ohne Schriftsprache.
    "Mündlich ist die Roma-Kultur, also die Märchen, die Lieder, die Familien-Erzählungen."
    Orale Überlieferung sei jedoch als Traditions- und Kulturlosigkeit gewertet worden. Wie die vermeintliche europäischen "Mitte" die Rom-Völker wahrnimmt - bis heute erschreckend konstant, findet Professor Bogdal, Träger des Buchpreises für Europäische Verständigung.
    "Wir fühlen uns bedroht, und geben der Bedrohung eine Gestalt, und das ist die Gestalt des Zigeuners, die wir ihr geben. Wir haben Ekel, auch das ist ein ganz wichtiges Moment, die Vorstellung von der unhygienischen Lebensweise. Und Armut deuten wir dann auch immer als Unwillen zu arbeiten und sich dem normalen Arbeitsprozess zu unterwerfen. Also, wir haben eine Fülle von Begegnungen, aber prägend sind dann eben immer die negativen."
    Das sagt wenig darüber aus, wie Europas Rom-Völker wirklich sind, aber viel darüber, wie die europäische Mehrheitsgesellschaft tickt. Vor allem in Umbruchzeiten dominiert Abwehr gegen das vermeintlich Randständige, Minderwertige, das die eigene Identität zu untergraben droht. Geschichtsschreibung kann Ausgrenzung rechtfertigen und festigen. Oder aber: Konterkarieren und versuchen, aufzubrechen. Genau das unternimmt das Mainzer Leibniz-Institut für Europäische Geschichte mit seinem Schwerpunkt, der historische Modelle für Inklusion und Teilhabe wiederentdeckt. Vergessen wird gern, dass das als "christlich" bezeichnete Abendland schon immer multireligiös war. Eine Konferenz zum Schwerpunkt ruft den über Jahrhunderte gewachsenen Austausch zwischen Juden, Christen und Muslimen ins Gedächtnis, so der Islamwissenschaftler Dr. Manfred Sing.
    "Das Forschungsfeld der geteilten religiösen Räume oder der gemeinsam genutzten religiösen Räume ist ein relativ neues Feld. Da geht es dann um die Umnutzung von Bauten, wie dann ein Tempel in eine Kirche oder eine Kirche in eine Moschee oder wie neben einer Moschee eine Kirche gebaut wird, und wie das dann zusammen läuft," wie Schreine gemeinsam genutzt und Konflikte geregelt wurden, all das rekonstruiert aus archäologischen Funden oder schriftlichen Quellen über Festtage zum Beispiel.
    "Der Islam gehört zu Deutschland" – politisch mag das Bekenntnis von Ex-Bundespräsident Wulff enorm gewagt gewesen sein. "Der Islam gehört zu Europa" – für den Historiker ist das eine schlichte Tatsachen-Feststellung.
    "Wenn spanische Bischöfe in der frühen Neuzeit klagen, dass keiner mehr Latein kann und alle nur noch arabisch reden, zeigt sich eben, wie präsent der Islam und die arabische Kultur damals auf der Iberischen Halbinsel waren."
    Doch übers friedliche Zusammenleben der Religionen lesen deutsche Schüler in Geschichtsbüchern wenig, viel dagegen über die Belagerung von Wien. Oder über die angebliche Rettung des christlichen Abendlandes vor den Mauren durch den Franken Karl Martell im 8. Jahrhundert.
    Neben solchen Abschnitten über kriegerische Konflikte findet sich in den Schulbüchern häufig ein Erklärungskästchen zum Islam – eine bewusstseinsprägende Kombination und längst nicht passé, beobachtet Dr. Manfred Sing.
    "Neuerdings - Bernard Lewis und andere Historiker haben zum Beispiel jetzt von der 'dritten Welle des Islams' gesprochen, nach Poitiers und Wien die beiden Angriffe, die gescheitert sind, ist jetzt die Migration der Muslime die dritte Welle der Muslime, die auf Europa zuläuft sozusagen."
    Invasions-Rhetorik, die insbesondere im Umbruch-geschüttelten Osteuropa auf lebhaften politischen Widerhall trifft. Obwohl - so merkt Professor Johannes Paulmann an - die angeblichen Invasoren seit Jahrhunderten zu den friedlich dort lebenden Völkern gehören. Als Beispiel nennt der Historiker und Direktor des Mainzer Leibniz-Instituts die komplett assimilierten polnischen Tataren. So assimiliert übrigens, dass sie Araber ablehnen: Die Glaubens-Geschwister sind ihnen kulturell zu fremd.
    "Der Widerstand, der vor allen Dingen aus den osteuropäischen Ländern kommt, gegen die Aufnahme von Flüchtlingen und gegen die Verteilung von Flüchtlingen in ganz Europa, lässt sich auch damit erklären, dass im 20. Jahrhundert ethnisch homogene Nationalstaaten nicht nur als Ideal erschienen, sondern in der Realität tatsächlich versucht wurden umzusetzen. Das trifft insbesondere für Polen zu, mit der Vorgeschichte der Expansion des 'Dritten Reiches' und der Eroberung und der Nachgeschichte nach dem Zweiten Weltkrieg wurde in Polen erstmals eine unglaublich ethnisch homogene Gesellschaft geschaffen, die gut 50 Jahre existiert hat und jetzt damit zu kämpfen hat, dass die jetzt dort lebende Generation mit einer Vielfalt überhaupt keine Erfahrung hat und sich offensichtlich bedroht fühlt und keine Erfahrung haben möchte."
    Historische Erzählstränge von Abgrenzung beherrschen und verschärfen derzeit die Flüchtlingsdiskussion. Das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte rückt mit seinem Schwerpunkt auf "Europas Ränder" ein anderes Narrativ nach vorn: Kontakt, Austausch, friedliches Konfliktmanagement und wechselseitiges Profitieren. Die Mainzer Variante "europäischer Aufklärung".