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Massaker von Katyn
"Ein weißer Fleck in der Geschichte"

Vor 75 Jahren ließ Josef Stalin tausende polnische Offiziere ermorden - die Taten wurden jedoch jahrelang vertuscht oder für Propagandazwecke falsch wiedergegeben. Erst nach Gorbatschows Glasnost-Kampagne wurden die Fälle aufgeklärt. Heute lassen sich in Russlands Geschichtspolitik jedoch wieder revisionistische Tendenzen feststellen.

Von Robert Baag |
    Gedenkstätte für die Opfer des Massenmords von Katyn. Eine polnische Flagge und eine rote Rose stecken an einer Mauer mit eingravierten Namen.
    Gedenkstätte für die Opfer des Massenmords von Katyn. (imago/stock&people/newspix)
    Die internationale Bahnstrecke vom belarussischen Minsk nach Moskau, kurz vor der westrussischen Stadt Smolensk. Hier liegt der kleine Haltepunkt Gnezdovo. Ein gottverlassener Ort, heute genauso wie damals, vor 75 Jahren, im Frühjahr 1940: der End-Bahnhof für weit mehr als 4.000 Menschen. Gnezdovo kennt selbst heute kaum jemand. Der Name eines nur ein paar Autominuten entfernten Waldstücks dagegen erinnert an einen Ort des Terrors und des Grauens: Katyn - ein Synonym für den Massenmord von Stalins Geheimpolizei NKWD an wehrlosen Menschen, an polnischen Kriegs- und Zivilgefangenen.
    Das Gelände von Katyn heute: ein lichter Kiefernwald, friedliche Stille. Ein gepflasterter Weg führt durch den Hain, am Boden quer die weiße Inschrift: "Polski Cmentarz Wojenny Katyn" - "Polnischer Soldatenfriedhof Katyn". Nun biegt der Pfad nach rechts ab. Der Blick fällt auf eine zweigeteilte, rostrote Metallwand. Aus einem Spalt in der Mitte ragt ein etwa zehn Meter hohes, schlichtes dunkelbraunes Holzkreuz, davor in den gleichen rostroten Tönen wie die Wand ein ebenso einfacher blumengeschmückter Altar. Dahinter fällt der Boden steil ab. Katja, Mitarbeiterin der Katyn-Gedenkstätte, bückt sich hinab zum Fuß des Kreuzes. Katja hat einen verborgenen Mechanismus in Gang gesetzt, der die sogenannte "Glocke von Katyn" zum Schwingen bringt. Deren Klang soll an all die toten Polen erinnern, deren Namen in die Metallwand eingraviert sind.
    "Nicht immer war der Wald von Katyn so dicht bewachsen. Diese Kiefern hier sind Augenzeugen der damaligen Ereignisse. Nachdem die NKWD-Leute die Gruben mit den Leichen zugeschüttet hatten, haben sie Kiefern-Setzlinge darauf gepflanzt. So sollte nach kurzer Zeit von den Spuren ihrer Verbrechen nichts mehr zu sehen sein."
    Doch es kommt anders.
    Ende Januar 1943: Aus Hitler und Stalin, dreieinhalb Jahre zuvor noch freundschaftlich verbundene Komplizen, die 1939 auf Basis des "Molotow-Ribbentrop"-Paktes Polen gemeinschaftlich angegriffen, besetzt und aufgeteilt haben, sind nun Todfeinde geworden.
    Propaganda-Minister Joseph Goebbels witterte eine Sensation
    Am 22. Juni 1941 nämlich ist auch die UdSSR Opfer eines deutschen Überfalls geworden: Hitlers Wehrmacht und der nationalsozialistische Terrorapparat im Gefolge stoßen zunächst tief in Stalins Reich hinein, überrennen die Sowjetrepubliken Weißrussland und Ukraine, stehen auch auf russischem Boden, rücken vor bis Stalingrad an der Wolga. Einige hundert Kilometer weiter westlich, tief im von den Deutschen besetzten Gebiet, macht an diesem frostigen Tag der deutsche Oberstleutnant Friederich Ahrens einen Waldspaziergang. Der Kommandeur eines Fernmelderegiments, dessen Stab in einem ehemaligen Erholungsheim des NKWD im Waldgebiet von Katyn einquartiert ist, bemerkt dabei...
    "...einen Wolf, der im Schnee scharrte. Ein paar Schritte von der Stelle entfernt bemerkte er ein Birkenkreuz, wie es über Soldatengräbern aufgestellt wurde. Er informierte den für die Bestattung von Soldaten zuständigen Offizier, dieser ließ nach dem Nachlassen des Frostes Mitte März die Stelle untersuchen. Dabei wurden mehrere Knochen gefunden, die ein Militärarzt als Menschenknochen identifizierte..."
    ...erzählt Thomas Urban in seiner jetzt erscheinenden Monografie "Katyn 1940 - Geschichte eines Verbrechens" und führt aus:
    "Unabhängig (...) davon erfuhr die Geheime Feldpolizei der Heeresgruppe Mitte, deren Stab sich in Smolensk befand, in derselben Zeit von einem Massengrab polnischer Offiziere."
    Besichtigung der aufgefundenen Gräber bei Katyn durch Besichtigung der aufgefundenen Gräber bei Katyn ein deutschen Offizier, einen Beamten des Propagandaministeriums (in Zivil), zwei kriegsgefangene Angehörigen der britischen Armee und einen weiteren deutschen Offizier. Schwarz-weiß-Aufnahme, Männer stehen in einer Grube.
    Besichtigung der aufgefundenen Gräber bei Katyn 1943. (dpa/picture alliance/INP)
    Ein ortsansässiger Eisenbahnschlosser, Iwan Kriwosercev, habe in einer von den deutschen Besatzern herausgegeben Zeitung einen Artikel über die Deportation von Polen durch den NKWD gelesen und da...
    "...erinnerte er sich an ein Gespräch mit einem Bauern aus der Nähe von Katyn, der ihm von der Erschießung polnischer Offiziere und Massengräbern bei den (sogenannten) 'Ziegenbergen' im nahegelegenen Wald berichtet hatte. (...) Mehrere deutsche Gendarmen fuhren (...) zur Kate des Zeugen. (...) Es war dasselbe Waldstück, in dem Oberstleutnant Ahrens den Wolf beobachtet hatte."
    Rasch war klar - der Bauer hatte nicht gelogen:
    "Nachdem der Schnee zu Seite geschaufelt und ein Loch in den Boden gehackt worden war, spürten die Anwesenden trotz des Frostes einen starken Verwesungsgeruch. Schließlich stießen sie auf mehrere Leichen in Militärmänteln. Kriwosercev riss einen Uniformknopf ab, in ihm war ein polnischer Adler eingraviert."
    Das Oberkommando des Heers befiehlt nun, sämtliche Gräber öffnen zu lassen. Hitlers Propaganda-Minister Joseph Goebbels wittert eine Sensation. Eine von Berlin zusammengerufene internationale Kommission macht sich auf den Weg - allerdings überwiegend mit Rechtsmedizinern aus solchen Ländern, die von Deutschland besetzt oder mit ihm verbündet sind. Kameraleute und Kriegsberichterstatter der "Deutschen Wochenschau" sind ebenfalls angereist. Sie kennen ihren Auftrag:
    "Hier hauchten über 12.000 polnische Offiziere ihr Leben aus. In mehreren Gruben von 16 mal 20 Metern wurden die Leichen in Zwölfer-Lagen aufgefunden. Wenige Spatenstiche genügen und schon werden übereinander gestapelt wie Tuchballen die Stiefel toter Soldaten sichtbar. Dann werden grauenvoll entstellte Körper und Köpfe freigelegt: ermordete Offiziere. Es sind Angehörige aller Dienstgrade der ehemaligen polnischen Armee. Sie wurden seit Jahren von der polnischen Bevölkerung vermisst..."
    Perfide Propaganda - in der Tonlage jener Tage. Dennoch wirkungsvoll, denn: Im Kern stimmen die Fakten, selbst wenn die "Wochenschau" die Opferzahlen um das fast Dreifache übertreibt. Denn nach heutigen Erkenntnissen sind 1940 in Katyn an die 4.300 Menschen verscharrt worden. Speziell an die von der deutschen Besatzungsmacht terrorisierten Polen gerichtet heuchelt der "Wochenschau"-Kommentar zynisch Mitleid mit den Opfern, nennt die Schuldige, die GPU, ein Synonym für das NKWD:
    "Alle Wertsachen der Toten fehlen. Keine Taschenuhren, keine goldenen Eheringe finden sich bei ihnen. Aber diese Gegenstände waren für die Henker der GPU wertlos: Personalpapiere und Fotografien von Frauen und Kindern. Es sind die Unterlagen, nach denen die Ermordeten nun Mann für Mann identifiziert werden. Man kann diese lebensvollen Bilder im Besitz der Toten nur mit Erschütterung ansehen."
    "Das war etwas nie Dagewesenes!"
    Das Goebbels'sche Propaganda-Motiv liegt auf der Hand: Mithilfe all dieser unleugbaren Indizien will er einen Keil treiben zwischen die alliierten Kriegsgegner USA, Großbritannien und Sowjetunion und die an ihrer Seite kämpfenden Exil-Polen. Die Untergrundbewegung zuhause, in Polen, ist vom Massenmord an den Landsleuten in Katyn schockiert. Am heftigen Widerstand der "Armija Krajowa", der polnischen Heimatarmee, gegen das Terror-Regime der Nazi-Besatzer ändert sich damit allerdings nichts, anders als von jenen zunächst womöglich erhofft. Hinzu kommt: Noch weiß damals niemand außerhalb des engsten Kreises um Sowjet-Diktator Stalin, dass es außer "Katyn" auch noch andere Orte auf dem Territorium der UdSSR gibt, wo er 1940 - heutigen Erkenntnissen zufolge - bis zu 25.000 Vertreter der polnischen Eliten hat umbringen und vergraben lassen - lange Zeit vor dem deutschen Überfall auf die UdSSR.
    Erst unter Michail Gorbatschows Glasnost-Politik, ab Mitte der Achtzigerjahre, als sich die sowjetischen Archive zu öffnen beginnen, erfährt die Welt noch von weiteren Massengräbern, in denen polnische Leichen gefunden werden. Namen wie Pjatichatki bei der ostukrainischen Metropole Charkow machen die Runde, Mednoje unweit der zentralrussischen Stadt Twer oder auch Kuropaty in der Nähe der weißrussischen Hauptstadt Minsk sind seither im polnischen kollektiven Bewusstsein fest verankert, weiß Slawomir Fratczak, Leiter des Katyn-Museums in Warschau:
    "Für die Polen ist das Verbrechen von Katyn eine symbolische Bezeichnung. Sie berührt die Schicksale aller polnischen Gefangenen im Osten und alle Grabstätten. Eines vereint sie alle: Jene sowjetische Entscheidung vom 5. März 1940 - Diesen schrecklichen, schändlichen Jahrestag begehen wir jetzt (zum 75. Mal). Das hatte kein machiavellistisches Gericht zu verantworten, dem ging kein Strafprozess voraus auf der Basis eines Pseudo-Rechts. Es war die Entscheidung eines Polit-Zirkels beziehungsweise der Sowjetmacht - Das war etwas nie Dagewesenes!"
    Moskau hatte am 17. September 1939 Warschau noch nicht einmal offiziell den Krieg erklärt, sondern seinen Einmarsch damit begründet, die weißrussische und ukrainische Bevölkerung in Ostpolen - Zitat - "schützen" zu wollen. Eine Begründung, die heute, nach einem Dreivierteljahrhundert, den Menschen auf der russisch annektierten Krim oder vielen angeblich von Kiew unterdrückten Ostukrainern erstaunlich bekannt vorkommen dürfte.
    Stalin und sein Politbüro machen sich nun Gedanken, wie sie mit den militärisch ausgebildeten Polen in ihrer Gewalt weiter verfahren wollen.
    "Ein Mensch - ein Problem, kein Mensch - kein Problem."
    Getreu dieser zynischen Stalin-Devise macht sich Lawrentij Berija, Volkskommissar des Inneren, umgehend an die Arbeit und legt am 5. März 1940 dem Politbüro einen Entwurf vor. In diesem erst im Herbst 1992 veröffentlichten vierseitigen Schriftstück heißt es unter anderem:
    "Die kriegsgefangenen Offiziere und Polizisten, die sich in den Lagern befinden, versuchen ihre konterrevolutionäre Tätigkeit fortzusetzen, sie betreiben antisowjetische Agitation. Jeder von ihnen wartet nur auf die Freilassung, um die Möglichkeit zu bekommen, sich aktiv am Kampf gegen die Sowjetmacht zu beteiligen."
    Berija rundet die Zahl auf 25.700 polnische Gefangene auf, gegen die er folgendermaßen vorzugehen empfehle:
    "Die Anwendung des höchsten Strafmaßes - Erschießung!"
    "Sogar die Hunde wichen vor uns zurück"
    Quer über die erste Seite des Entwurfs stimmen Stalin und die anwesenden Politbüro-Mitglieder mit ihren Unterschriften diesem Vorschlag zu. Knapp einen Monat später beginnen die Exekutionen in Katyn und in all den anderen Orten, wohin das NKWD die polnischen Gefangenen eigens aus ihren Lagern in Koselsk, Ostaschkow und Starobelsk herantransportieren lässt. Motiv und Konzeption Stalins sei es gewesen, die polnische Intelligenz, die führende Klasse in Polen, auszurotten, ist sich der Warschauer Historiker und Publizist Wieslaw Wladyka sicher:
    "Das ist so, als schneide man einem Volk den Kopf ab! Das zweite Motiv: Die Russen hatten damals ein Trauma, nach ihrer Niederlage im polnisch-sowjetischen Krieg, 1920, nach dem sogenannten 'Wunder an der Weichsel'. Diese Schlappe damals hatte Stalin als politischer Armee-Kommissar mit zu verantworten. Das hat bei ihm eine Art uralten Hass hinterlassen. Und drittens: Noch wirkte das Gefühl der für ihn erfolgreichen 'Großen Säuberungen' 1937/38 nach. Auch wenn die damals eigentlich schon nachgelassen hatten."
    Blick auf einen Friedhof durch das Eingangstor, auf dem Boden stehen die Worte: Polski Cmentarz Wojenny Katyn
    Soldatenfriedhof für die Opfer des Massenmords von Katyn. (imago/stock&people/newspix)
    In den 90er-Jahren hat ein damals noch lebender NKWD-Sergeant vor russischen Journalisten geschildert, wie die Hinrichtungen der polnischen Offiziere abgelaufen seien - etwa im NKWD-Gefängnis in Charkow:
    "(Die Gefangenen) werden in den Korridor geführt. Dort stehe ich an der Tür. Ich öffne die Tür: 'Dürfen wir eintreten?' -Von dort die Antwort: 'Kommt rein!' - Am Tisch sitzt der Staatsanwalt, daneben steht der NKWD-Kommandant. Sie fragen: 'Familienname? Name des Vaters? Geburtsjahr?' Danach: 'Ihr könnt gehen!' - Dann plötzlich: Puck! - Und es war vorbei! - Man musste ihnen irgendwas um den Kopf binden, damit ihr Blut nicht auf den Boden floss."
    Und ein anderer, ebenfalls für seine Taten niemals zur Rechenschaft gezogener NKWD-Henker wird Jahrzehnte später offen bekennen:
    "Natürlich haben wir Wodka bis zur Besinnungslosigkeit getrunken. Die Arbeit war schließlich nicht die einfachste. Wir waren so müde, dass wir uns kaum auf den Beinen hielten. Und wir wuschen uns mit Parfüm. Bis zum Gürtel. Anders konnte man den Geruch von Blut und Verwesung nicht loswerden. Sogar die Hunde wichen vor uns zurück. Und wenn sie uns anbellten, dann von Weitem."
    Nicht nur in der UdSSR, sondern auch in allen sowjetischen Satellitenstaaten gilt das Verbrechen von Katyn auch nach 1945 noch über Gorbatschows Glasnost-Kampagne hinaus in seinen wesentlichen Aspekten als Tabu. Die Sprachregelung im sogenannten Ostblock beruht weiterhin auf den angeblichen Erkenntnissen der sowjetischen "Burdenko-Kommission", die nach dem Rückzug der deutschen Truppen im Herbst 1943 ihrerseits den Schauplatz untersucht und Obduktionen vornimmt. Ihr kaum erstaunliches Auftrags-Fazit:
    Katyn - das sei eine deutsche Provokation gewesen. Die Deutschen selbst hätten die Polen erschossen, zitiert ein russischer Dokumentarfilm aus den 90er-Jahren die Quintessenz der sowjetischen Expertise. Allerdings ist die Beweislage für diese Behauptung so dünn, dass dieses vermeintliche Nazi-Kapitalverbrechen im Nürnberger Prozess gegen die deutschen Haupt-Kriegsverbrecher noch nicht einmal in der Anklageschrift auftaucht - letztlich mit stillschweigender Billigung seitens der USA und Großbritanniens.
    Russland: Wetterfahne Richtung Revisionismus
    Im von der UdSSR kontrollierten kommunistischen Nachkriegs-Polen wird das Andenken an "Katyn" zunächst ebenfalls als "anti-sowjetisch" unterdrückt, verfolgt und bestraft. Ab Mitte der 50er-Jahre ändert sich dies jedoch. Wieslaw Wladyka:
    "Solange es nur irgendwie ging, hat die polnische Linke es vermieden sich mit Katyn zu beschäftigen. Da pflegten sie wohl eine institutionelle innere Scham. Ein paar Alibi-Erzählungen zu Katyn gab es natürlich auch, sogar eine eigene Kommission, noch vor 1989. Die These, die Deutschen seien die Täter von Katyn, verschwand spätestens in den Siebzigern, zu Zeiten des Partei-Chefs Gierek. Trotzdem war Katyn so eine Art weißer Fleck in der Geschichte. Mit grauen Untertönen: Die volle Wahrheit durfte man nicht sagen, aber lügen musste man auch nicht mehr!"
    Seit der Gorbatschow-Ära gelangt im Verlauf von gut 20 Jahren die Wahrheit über Katyn inklusive der ausschließlichen sowjetischen Täterschaft etappenweise ans Licht der Öffentlichkeit. Heute allerdings beklagen die Historiker und Juristen des IPN, des Warschauer "Instituts des Nationalen Gedenkens", erneut eine russische Blockade-Haltung: Immer noch fehlten 150 Akten, die Moskau aus - Zitat - "Gründen der nationalen Sicherheit" zurückhalte. Staatsanwältin Malgorzata Kuzniar-Polta:
    "Für mich ist diese Haltung zu einem Verbrechen, das 75 Jahre zurückliegt, unverständlich! Wir haben uns in dieser Angelegenheit seit 2005 schon dreimal mit der Bitte um Akteneinsicht beziehungsweise Fotokopien an die russische Seite gewandt. Dies ist dort abgelehnt worden. Als ich darum gebeten habe, die Begründung dafür nachlesen zu können, ist mir auch das als 'geheim' verwehrt worden."
    Wladimir Putin und Donald Tusk gehen in schwarzen Mänteln redend nebeneinander her und schauen sich dabei an
    Wladimir Putin und der damalige polnische Ministerpräsident Donald Tusk bei einer Gedenkfeier 2010 in Katyn. (picture alliance / dpa / Alexey Nikolsky)
    Ein weiteres Indiz dafür, dass sich in Putins Russland in geschichtspolitischer Hinsicht die Wetterfahne in Richtung Revisionismus gedreht hat. Bezeichnend dafür: Vor knapp einem halben Jahr kommt Wladimir Putin mit russischen Jung-Historikern zusammen und interpretiert dabei den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 höchst eigenwillig und bemerkenswert. Jenen Vertrag, auf dessen Grundlage Hitler und Stalin gemeinsam Polen überfallen, den Zweiten Weltkrieg begonnen und damit Katyn ursächlich ermöglicht haben:
    "Die Sowjetunion hatte einen Nichtangriffs-Vertrag mit Deutschland geschlossen. Ach, herrje! Wie schlimm - was ist denn schlimm daran, wenn die Sowjetunion keinen Krieg führen wollte? Was denn, bitte? - Bis jetzt streiten sie wegen des Molotow-Ribbentrop-Paktes und beschuldigen die Sowjetunion, sie habe Polen geteilt. Aber was hat denn Polen selbst gemacht, als die Deutschen 1938 in die Tschechoslowakei einmarschiert sind?! Polen hat ihr auch einen Teil weggenommen. Hat es also auch gemacht! Und da hat Polen dann eben einen Schuss ins eigene Tor gekriegt!"
    "Putin ist reines Kalkül und hat nichts mit der wahrhaftigen Geschichtsschreibung zu tun. Die Vergangenheitspolitik ist ein Teil seiner Anti-West-Orientierung."
    Ist sich der Warschauer Publizist Adam Krzeminski sicher. Nicht zuletzt mit Blick auf Katyn attestiert er dem heutigen Russland ein verhängnisvolles rechtshistorisches Defizit - anders als bei Nachkriegsdeutschland:
    "Es gab keine Art Eichmann-Prozess in Russland, der Verantwortlichen, der Schergen, der Täter, der Mörder. Nicht mal eine Gerichtsverhandlung 'per procura' oder symbolisch. Weil die Täter inzwischen - sie müssen schon über hundert Jahre alt sein..."