Montag, 29. April 2024

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Mexiko
"Die Drogenmafia regiert zum Teil mit"

In Mexiko könne unter den aktuellen Bedingungen kein Rechtsstaat entstehen, sagte Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien im DLF. Es brauche breiten gesellschaftlichen Widerstand gegen kriminelle Strukturen, um Fälle wie den der entführten Studenten zu verhindern.

Sabine Kurtenbach im Gespräch mit Marina Schweizer | 10.11.2014
    Untersuchungen am Fundort des Massengrabs in der Iguala im Bundesstaat Guerrero
    Fast täglich fallen in Mexiko Menschen dem Drogenkrieg zum Opfer. (dpa / picture alliance / Jan WoitasJose Mendez)
    Ein großes Problem in Mexiko sei einerseits die vorherrschende Straflosigkeit. Mehr als 80 Prozent der Verbrechen und Morde würden nicht verfolgt. Kurtenbach sieht den mexikanischen Generalstaatsanwalt nun in der Pflicht, mehr gegen die verbreitete Kriminalität zu unternehmen.
    In dem mittelamerikanischen Land gebe es aber eine historische Schwäche des Rechtsstaats. Die organisierte Kriminalität regiere zum Teil mit - durch Korruption und Gewalt. Außerdem gingen die Kriminellen vor allem gegen Menschenrechtler, kritische Journalisten und nicht korrupte Justizangestellte vor.
    Von einem gescheiterten Staat will Kurtenbach dennoch nicht sprechen, schließlich gebe es noch einige staatliche Institutionen, die funktionierten. Um einen demokratischen Rechtsstaat in Mexiko zu errichten sei ein Wandel im Bewusstsein der Bevölkerung notwendig. "Von alleine passiert so etwas sicherlich nicht", so Kurtenbach. Die mexikanische Gesellschaft müsse demokratische und rechtsstaatliche Strukturen einfordern.

    Das Interview in voller Länge:
    Marina Schweizer: Seit sechs Wochen gelten 43 Studenten in Mexiko als vermisst. Am Freitag teilte der Generalstaatsanwalt mit: Drei Mitglieder einer Drogenbande hätten gestanden, sie hätten die Studenten getötet und ihre Leichen auf einer Müllkippe verbrannt. Die verkohlten Überreste hätten sie in Säcke gesteckt und in einem Fluss versenkt. Auf diese Erklärung reagierten nicht nur die Angehörigen misstrauisch. In Mexiko schlägt die Wut der Menschen zunehmend in Gewalt um, und zwar gegen die Regierung.
    Über das, was da momentan in Mexiko passiert, möchte ich jetzt sprechen mit Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg. Guten Tag!
    Sabine Kurtenbach: Guten Tag, Frau Schweizer.
    Schweizer: Frau Kurtenbach, "Ya me cansé!", ich bin es leid - ist dieser Satz sinnbildlich für die Arbeit der mexikanischen Behörden?
    Kurtenbach: Er ist insofern sinnbildlich, als neben dem hohen Gewaltniveau in Mexiko ein zentrales Problem ja in der Straflosigkeit dieser Verbrechen liegt. Je nachdem, welche Quellen man sich dort anguckt, bleiben 85 bis 98 Prozent der Morde ungesühnt und ungestraft, und in so einem Kontext kann ein Generalstaatsanwalt natürlich sagen: 'Ich bin es müde.' Aber eigentlich müsste er genau jetzt aktiv werden.
    Schweizer: Woran liegt diese Straflosigkeit?
    Kurtenbach: Die Straflosigkeit liegt zum einen an der historischen Schwäche des mexikanischen Rechtsstaats, zum anderen aber auch daran, dass in diese Verbrechen der Organisierten Kriminalität auch der Staat und seine Institutionen mit einbezogen sind und dass es deswegen natürlich für staatliche Institutionen auch schwierig ist, in dem Bereich zu ermitteln.
    Schweizer: Das heißt, regiert insgeheim die Drogenmafia?
    Drogenmafia regiert zum Teil mit
    Kurtenbach: Sie regiert nicht insgeheim; sie regiert zum Teil mit oder sie regiert mit über Korruption und auch über Gewalt und hat einfach Einfluss, gerade dort, wo kritische Öffentlichkeit und Rechtsstaatlichkeit notwendig wäre.
    Schweizer: Wie müssen wir uns diesen Einfluss vorstellen' Haben Sie davon ein genaues Bild?
    Kurtenbach: Zum einen gibt es Korruption bei den Wahlen. Das heißt natürlich, dass Kandidaten und Kandidatinnen unterstützt werden, die den Drogengeschäften nahestehen. Da haben wir ja jetzt in dem aktuellen Fall den Bürgermeister und seine Frau, die ja auch gewählt wurden in ihr Amt, die aber ...
    Schweizer: Den Bürgermeister der Stadt, in der die Studenten entführt worden sind.
    Kurtenbach: Genau, die da sehr starke Verbindungen wohl hatten. Das gilt aber natürlich auch für andere Wahlprozesse, wo die Drogenkartelle versuchen, Einfluss zu nehmen. Das ist die eine Variante.
    Die andere Variante ist, dass es in Mexiko ein hohes Maß an Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger gibt, gegen kritische Journalisten, gegen nicht korrupte Justizangestellte, die dann eben auch mundtot gemacht werden durch selektive Gewalt, und sodass da dann auch kein Rechtsstaat entstehen kann, weil das natürlich auch Angst und Terror schürt.
    Schweizer: Wenn die Politik so eng mit der Drogenmafia verquickt ist, würden Sie dann sagen, Mexiko, das ist ein "failed state", ein gescheiterter Staat?
    Kurtenbach: Na ja, ein Kollege hat gesagt, das ist ein gekaperter Staat. Es ist insofern kein gescheiterter Staat, weil es ja schon noch staatliche Institutionen gibt, die zum Teil auch funktionieren. Sie funktionieren natürlich nicht im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates. Das ist mehr das Problem.
    Schweizer: Im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates - was funktioniert noch im Sinne eines demokratischen Rechtsstaates?
    "Es ist ja nicht der ganze Staatsapparat korrupt"
    Kurtenbach: Es ist ja nicht der ganze Staatsapparat korrupt. Es gibt schon noch Teile oder Regionen, in denen Staatlichkeit funktioniert, in denen staatliche Institutionen zum Wohl der Menschen arbeiten oder auch Verbrechen verfolgen. Es ist aber eine Minderheit in Mexiko im Moment.
    Schweizer: Wie viel Chance steckt denn momentan in diesen Protesten, die vielleicht ja auch dazu führen könnten, dass da jetzt etwas aufgeklärt wird?
    Kurtenbach: Man kann nur hoffen, dass es ein Wendepunkt ist im Sinne einer, ich sage mal, Katharsis, wie es in anderen Teilen Mexikos ja auch passiert ist. Auch im Norden Mexikos gab es ja ganz große Gewaltexzesse, bevor dann gerade zivilgesellschaftliche Organisationen und Menschenrechtsorganisationen sich massiv organisiert haben, um dem Verbrechen zu begegnen. Insofern kann man hoffen, dass in Guerrero oder dass in ganz Mexiko jetzt ein stärkeres Bewusstsein dafür vorherrscht und sich durchsetzt, dass Rechtsstaatlichkeit sein muss und Demokratie ohne Rechtsstaatlichkeit nicht funktionieren kann.
    Schweizer: Wie kommt man denn auf der höheren Ebene möglicherweise wieder raus aus dieser Verquickung zwischen Mafia, Drogenmafia und dem Staat?
    Kurtenbach: Letztlich funktioniert das auch hier nur über Rechtsstaatlichkeit. Wir haben Erfahrungen aus anderen Ländern der Region, wo das ein ähnliches Problem war. In Kolumbien waren die Prozesse, die es wegen Paramilitär-Politik gab, was ja so ein vergleichbares Phänomen war, ein Stück weit erfolgreich darin, dass Abgeordnete zurücktreten mussten, dass heute andere Regeln gelten für Parteienfinanzierung, für die Verbindung von Parteien zu bestimmten organisierten Interessen. So was müsste in Mexiko jetzt auch viel stärker auf die Tagesordnung gestellt werden, um da weiterzukommen und die Gewalt rechtsstaatlich einzudämmen.
    Schweizer: Jetzt ist ja Mexiko nicht Kolumbien. Wie sehen Sie denn die Chance, dass das passieren wird?
    Kurtenbach: Das wird davon abhängen, ob sich wirklich breiter Widerstand und breite zivilgesellschaftliche Proteste organisieren, die das einfordern, weil anders und von alleine passiert so was sicher nicht.
    Schweizer: Vielen Dank für diese Einschätzungen - Sabine Kurtenbach vom Giga-Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg.
    Kurtenbach: Vielen Dank!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.