Dienstag, 19. März 2024

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Neurobiologie
"Das Gehirn versucht, es immer so gut wie möglich zu machen"

Telefonnummer oder PIN-Nummer vergessen, ständig den Schlüssel suchen: Der Neurobiologe Henning Beck hält kleinere Aussetzer des Gehirns für ungefährlich: "Wenn wir alles richtig machen würden, sind wir genauso leistungsfähig wie ein monokultiviertes Maisfeld", sagte er im Deutschlandfunk.

Henning Beck im Gespräch mit Birgid Becker | 26.03.2017
    Im Deutschen Hygiene-Museum Dresden wird in einer dauerhaften Ausstellung das menschliche Gehirn vorgestellt, 2005
    "Wenn wir perfekt oder fehlerfrei wären, dann wären wir auch schnell weg vom Fenster", sagt der Neurobiologe Henning Becker (picture alliance / dpa / ZB / Oliver Killig)
    Birgid Becker: Gestern wieder mal den Autoschlüssel verlegt, oder mitten im Zimmer gestanden und sich gefragt, was man nun eigentlich wollte? Oder die Geheimnummer von der EC-Karte, tausende Male getippt, gerade in dem Moment vergessen, da sich die Finger dem Tastaturfeld des Geldautomaten nähern? Das sind die Momente im Leben, wo man lernt, sich zu hassen, oder (andere Variante) wo man anfängt, sich zu sorgen: Wie ist das noch mit den frühen Anzeichen für eine Demenz.
    In diesen frühen Sonntagmorgen hinein hätte ich so etwas wie eine Beruhigungstherapie zu speisen – in Gestalt des Neurobiologen Henning Beck, der gerade in einem Buch erklärt hat, dass diese ganzen Schusseligkeiten und Aussetzer verzeihlich sind, sogar ziemlich normal sind. Wirklich, oder will er uns nur beruhigen? Das habe ich ihn vor der Sendung gefragt.
    "Kleinigkeiten im Alltag zu vergessen, das macht das Gehirn sehr gerne"
    Henning Beck: Nein. Ich würde sagen, das ist alles noch normal, solange es sich im Rahmen hält. Solange man sich daran erinnern kann, dass man etwas vergessen hat, ist noch alles okay. Wenn man vergisst, dass man vergisst, dann kann man sich Sorgen machen. Aber so Kleinigkeiten im Alltag zu vergessen, das macht das Gehirn eigentlich sehr gerne und opfert Details und kleine Erinnerungen, um das große Ganze zu kapieren. Dass wir manchmal eine Telefonnummer nicht wissen, okay, das ist auch gar nicht so wichtig, denn Telefonnummern kann ich mir so speichern. Viel wichtiger ist zu wissen, wen ich im konkreten Moment anrufen muss, wer sich hinter einer Nummer verbirgt. Das ist für ein Gehirn viel interessanter, als sich ein paar Zahlen beispielsweise zu speichern.
    Trotzdem ist es natürlich so: Es ist nervig, wenn wir an einem konkreten Moment etwas vergessen. Aber das braucht man nicht überinterpretieren, das ist völlig normal und das kalkuliert das Gehirn auch systematisch ein.
    Becker: "Irren ist nützlich" haben Sie ja Ihr Buch genannt, und Sie unterstellen den Lesern direkt am Anfang, dass sie, wenn man sie nach dem Buchtitel fragt, mit ziemlicher Sicherheit antworten werden, das Buch heißt "Irren ist menschlich". Typisches Beispiel, sagen Sie, dafür, wie das Hirn funktioniert.
    Beck: Genau. Das Hirn macht ja nichts lieber, als Sachen in Schablonen und solche Muster zu ordnen. Das machen wir permanent. Wenn wir uns in der Welt bewegen, dann versuchen wir, alles in eine Ordnung und in einen Rahmen zu bringen. Wenn wir zum Beispiel Sprichwörter haben, die sind so in unseren Sprachgebrauch eingebrannt, oder bestimmte Verhaltensweisen, das macht es uns sehr einfach. So können wir die Welt in kleine Schubladen und Kästen ordnen, und das ist extrem wichtig, damit wir uns schnell zurecht finden können in Situationen und nicht immer wieder neu von Anfang an überlegen müssen, sozusagen mentale Abkürzungen. Das ist sehr wichtig und hilfreich, dass wir schnell denken können.
    Auf der anderen Seite bremst uns das natürlich manchmal. Wenn wir in solchen Denkschablonen oder Denkmustern gefangen sind, dann muss man wieder sehen, wie man da rauskommt, wenn man zum Beispiel auf neue Ideen kommen will.
    "Das Gehirn ändert immer wieder kleine Sachen"
    Becker: Das sind ganz viele Bereiche, die Sie aufzählen, wo unser Gehirn, ich sage mal, unter unseren Erwartungen bleibt. Wir können schlecht auswendig lernen, wir versagen unter Druck, wir schätzen Dinge falsch ein, wir schätzen falsch ein, wieviel Zeit wir für etwas brauchen. Jetzt überzeugen Sie mich noch mal, weshalb ich angesichts dessen nicht doch zur Ansicht kommen soll, dass mein Hirn schlicht ein Mängelexemplar ist.
    Beck: Wenn man das so hört, das hört sich ja dramatisch an. Jeder der sein Hirn benutzt stellt früher oder später fest, irgendwann macht es einen Fehler. Es gibt eigentlich keinen Bereich in unserem Leben, wo uns nicht irgendwann mal ein Lapsus passiert ist oder uns irgendwas durchgerutscht ist. Das Gehirn versucht, es immer so gut wie möglich zu machen, aber man stellt immer fest, es kriegt das nicht wirklich hin.
    Anstatt sich jetzt immer Gedanken zu machen, wie schlimm das alles ist und wie schlecht es eigentlich funktioniert, lohnt es sich, manchmal genauer hinzuschauen, warum das so ist und dass das eigentlich gar nicht immer so schlimm ist. Beispiel: Wir machen häufig kleine Fehlerchen oder Flüchtigkeitsfehler oder verhaspeln uns, wenn wir reden. Ich habe mich in diesem Gespräch bestimmt schon drei-, viermal verhaspelt. Das ist völlig normal und liegt einfach daran, dass das Gehirn immer wieder kleine Sachen ändert. Das guckt immer, okay, wo kann man eine Kleinigkeit neu machen, wo kann man was ausprobieren, wo kann man eine Variation einbauen, und das macht uns anpassungsfähig. Wenn wir perfekt oder fehlerfrei wären, dann wären wir auch schnell weg vom Fenster, wenn sich was ändert. Denn wenn wir alles richtig machen würden, oder versuchen würden, immer perfekt zu machen, dann sind wir genauso leistungsfähig, ich sage mal, wie ein monokultiviertes Maisfeld. Super gut, wenn alles gleich bleibt, aber schnell weg vom Fenster, wenn sich eine Kleinigkeit ändert.
    "Machen ist viel wichtiger als perfekt machen"
    Becker: Das mit dem Verhaspeln, das merke ich mir jetzt schon mal aus rein beruflichen Gründen.
    Beck: Machen Sie sich keine Sorgen, es ist völlig normal.
    Becker: Müssen wir also mal ganz grundsätzlich daran gehen, von unserem Gehirn weniger zu erwarten?
    Beck: Ja, vielleicht was anderes zu erwarten. Viele versuchen, das Gehirn so zu benutzen, wie wir heute auch einen Computer beispielsweise benutzen. Wir erwarten, dass ein Computer niemals abstürzt, und wir wollen möglichst alles speichern und nichts vergessen. Beim Gehirn ist das allerdings gar nicht so wichtig. Beim Gehirn kommt es nicht darauf an, dass wir immer alles fehlerfrei und perfekt machen; beim Gehirn kommt es darauf an, dass wir überhaupt was machen. Machen ist viel wichtiger als perfekt machen. Und die Tatsache, dass unser Gehirn manchmal Kleinigkeiten vergisst, dass wir uns manchmal ablenken lassen oder unaufmerksam sind oder unkonzentriert sind, das ist eigentlich der Tatsache geschuldet, dass das Gehirn immer wieder schaut, was kann man anders machen, wie kann man die Sachen in einem anderen Blickwinkel sehen, und dadurch die Welt gestalten. Wenn wir versuchen, immer nie was falsch zu machen, dann machen wir auch nie irgendwann was richtig.
    "Die Welt zu verstehen, ist viel mehr wert, als die Welt irgendwie zu lernen"
    Becker: Nun könnte man ja recht entspannt daran gehen, dem Hirn etwas mehr Schusseligkeit oder mehr Chaosneigung zuzugestehen, wenn da nicht im Hintergrund der künstliche Konkurrent lauern würde – in Gestalt von KI, von künstlicher Intelligenz, von der Computer-Intelligenz. Und das macht, finden Sie nicht, schon nervös, wenn sich künstliche neuronale Netzwerke daran machen, alles schneller zu verstehen, alles besser zu speichern?
    Beck: Das macht mich überhaupt nicht nervös- aus dem einfachen Grund, dass diese Computersysteme eigentlich das können sollen, was Menschen ohnehin schlecht können. Wir können sehr schlecht viele Daten speichern und in riesigen Datenbergen irgendwelche Muster erkennen. Das sollen ruhig die Computer machen. Computer können ruhig immer besser werden, wenn es darum geht, Antworten zu finden, aber wir können die entsprechenden Fragen dazu stellen. Wenn wir, keine Ahnung, im Schach geschlagen werden von einem Computer, oder jetzt im Poker geschlagen werden von künstlicher Intelligenz, dann macht mich das eigentlich gar nicht nervös, denn ich kann sagen, okay, ich werde geschlagen von einer Maschine, aber ich kann ein neues Schach erfinden, wenn ich will.
    Ich kann ein neues Püppchen erfinden oder eine neue Spielkarte fürs Poker, ich habe keine Ahnung, ob das funktioniert. Dann setze ich mich mit einem Kumpel hin und probiere das aus. Das kann funktionieren oder nicht. Das kann ein riesen Fehler sein oder der Beginn von einem tollen neuen Spiel. Das weiß ich nicht. Aber genau das ist das, was die Welt verändert. Wenn wir immer versuchen würden, perfekt und fehlerfrei alles durchzuspielen wie ein Computer, dann wären wir nicht sehr anpassungsfähig und dann könnten wir die Welt auch nicht gestalten.
    Becker: Wenn die künstliche Intelligenz dann auch noch lernt zu lernen, was können wir am Ende? Was kann unser Hirn dann tatsächlich besser als der künstliche Konkurrent?
    Beck: Lernen ist schön und gut, aber lernen ist eigentlich gar nichts Besonderes. Ich meine, Elstern lernen, Delfine lernen, Computer lernen, wir verstehen. Wenn ich etwas gelernt habe, kann ich es auch verlernen. Aber wenn ich es einmal verstanden habe, kann ich es nicht entverstehen. Die Welt zu verstehen, ist viel mehr wert, als die Welt irgendwie zu lernen, und das ist auch etwas, was das Gehirn eigentlich gar nicht so gut kann, Sachen auswendig lernen und sich ganz viele Sachen merken. Darin ist das Gehirn eigentlich gar nicht so gut. Um die 20 Begriffe können wir uns ohne Probleme noch auswendig merken, aber dann hört es schon auf. Computer können sehr viel mehr speichern, aber sie kapieren nicht, wie die Zusammenhänge sind oder was sie da eigentlich tun, und das ist das, was Menschen können. Sie verstehen, was sie da tun, und können die Welt dadurch in einem neuen Licht sehen.
    "Wissen erzeugt Wissen"
    Becker: Wenn ich diese Losung – ich nenne es mal so – "nicht lernen, sondern verstehen" beim Wort nehme, und dann an diejenigen unter uns denke, die mehr als alle anderen lernen müssen, die Schüler nämlich, wenn ich das beim Wort nehme, dann ist klassischer Schulunterricht exakt das, was unser Hirn nicht brauchen kann, oder?
    Beck: Oh nein! Das sehe ich gar nicht so. In der heutigen Welt ist es extrem wichtig, sich eine gute Allgemeinbildung beispielsweise anzuschaffen. Wissen erzeugt Wissen. Das beste was man machen kann, um neue Ideen oder neues Wissen zu erzeugen, ist erst mal, selber sich viel Wissen anzueignen und neugierig durch die Welt zu gehen. Es ist nur so: Heutzutage wird Wissen einfach viel zu leicht hingestellt. Ich kann mich erinnern: Vor 15 Jahren, wenn wir bei "Wer wird Millionär" die Antwort nicht wussten, dann haben wir da nachgedacht vor dem Fernseher. Heute setzt Du Dich dahin und nimmst Dein Smartphone und googelst mal schnell. Information ist so leicht verfügbar, dass es eigentlich ein bisschen den Zauber verliert und dass wir unsere Neugier viel zu schnell befriedigen können. Guter Schulunterricht, meine besten Lehrer haben so gearbeitet, dass sie diese Begeisterung vermitteln.
    Das Wissen an sich, geschenkt. Entscheidend ist, dass mich die Lehrer mitnehmen, dass die Leute, die Wissen vermitteln, selber von dem begeistert sind, was sie tun, weil diese Begeisterung, das ist ansteckend und das macht uns auch Spaß. Das ist das, was ein Gehirn am liebsten will: keine Daten oder Information, sondern den Spaß am Wissen. Wir sind alle von Natur aus neugierig. Wir wollen die Welt verändern. Wir wollen sehen, was passiert. Wir sind neugierig. Und diese Neugier kann man in gutem Schulunterricht, wenn man mit Begeisterung da rangeht, auch so vermitteln.
    Becker: Aus Sicht des Neurobiologen, der Sie ja auch sind, haben Sie auch einen Tipp für gutes Lernen oder für richtiges Lernen oder für effektvolles Lernen?
    Beck: Ich sage es mal so: Gutes Lernen funktioniert dann am besten, wenn man nicht sofort die Lösung für ein Problem bekommt. Zum Beispiel in einem Schulunterricht werden ganz viele Antworten auf Fragen gegeben, aber es ist eigentlich viel wichtiger, die Fragen zu stellen. Die Antworten sind gar nicht so interessant wie die Fragen. Wenn man zum Beispiel jemandem etwas beibringen will, oder die Neugier des anderen nutzen will, dann gibt man dem erst mal ein Problem. Dann stellt man dem eine Frage und lässt den anderen erst mal selber ein bisschen überlegen. Wie so ein Weihnachtsgeschenk, was man jemandem gibt, was der andere selber auspacken muss. Man stellt quasi ein Problem hin, der andere knobelt ein bisschen und dann kann man ihm bei dieser Lösungssuche helfen und plötzlich ist der andere viel aufnahmefähiger für die Information und für das Wissen, was daraus entsteht, denn Fragen, Probleme, das ist das, was die Welt verändert. Die Antworten zu geben, okay, das kann zum Schluss auch eine Maschine.
    Kinder verstehen besonders schnell
    Becker: Lassen Sie uns das Gespräch auch enden mit einer Würdigung des Gehirns. Was für ein einzigartiges, ja geradezu ehrfurchtgebietendes Gebilde das ist. Das weiß jeder, der Beethovens Fünftes Klavierkonzert hört, oder Botticellis Venus sieht, oder wo immer man die Höhepunkte menschlicher Geisteskraft ansetzen will. Aber wenn Sie klarmachen wollen, wie besonders das menschliche Gehirn ist, dann kommen Sie gerne auf Ihren Nachbarn zu sprechen. Wie alt ist der gleich, fünf?
    Beck: Der ist jetzt gute drei Jahre. Dreieinhalb müsste der jetzt sein.
    Becker: Und trotzdem ein gutes Beispiel für die Ehrfurcht, die man vor einem Gehirn empfinden kann?
    Beck: Unfassbar! Wenn ich meinen kleinen Nachbarn anschaue: Wie alt war der da? Drei Jahre alt oder so. Da kam er bei mir in die Wohnung rein, schaute an die Decke und sagte "Rauchmelder". Und ich habe mir gedacht, was ist los, wie kommt der jetzt darauf, da einen Rauchmelder zu erkennen. Haben die Eltern ihn mit hunderten Bildern von Rauchmeldern trainiert, bis er ihn gelernt hatte? Aber wir wissen, dass es anders ist. Er hat den Rauchmelder vielleicht ein-, zweimal gesehen und schon hat er ihn kapiert und erkennt ihn in einem neuen Umfeld. Wann immer man mit Kindern zusammenarbeitet, gerade kleine Kinder, zwei, drei, vier Jahre, dann ist es unfassbar faszinierend, wie schnell sie Sachen verstehen. Der sieht den Rauchmelder ein-, zweimal und hat kapiert, um was es da geht. Anstatt den wie so eine künstliche Intelligenz mit hunderttausenden von Bildern zu malträtieren, braucht er ein-, zweimal das zu sehen. Verrückt! Wie macht das ein Gehirn? – Ein Rätsel, an dem wir gerade noch arbeiten.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.