Der Kandidat für den CDU-Parteivorsitz Norbert Röttgen will im Fall seiner Wahl eine grundsätzliche Erneuerung seiner Partei einleiten. Dazu wolle er den bereits weit vorangeschrittenen Prozess für ein neues Grundsatzprogramm der CDU noch einmal neu starten, erklärte Röttgen im Deutschlandfunk Interview der Woche. Die Diskussion darüber müsse tiefer und breiter angelegt werden. Die CDU müsse sich entritualisieren, forderte Röttgen.
Auf Parteitagen hätten die meisten Delegierten das Gefühl, man habe viel gehört, viel applaudiert aber es sei wenig über Politik gesprochen und noch weniger über Politik entschieden worden. Es gebe auch zu wenig Austausch zwischen der Partei und den Kompetenzen in der Gesellschaft, kritisierte Röttgen. Die Partei sei ein Instrument des Wahlkampfes, aber zu wenig ein Organismus, der selber lebe und in dem es interessant sei, mitzuwirken.
Röttgen zeigte sich überzeugt, dass sich die Chancen für seine Wahl zum CDU Vorsitzenden seit dem Frühjahr deutlich verbessert hätten. Der Wind habe sich gedreht, sagte Röttgen. Er bekomme Unterstützung sowohl von der Basis als auch aus der Bundestagsfraktion. Es gebe eine Dynamik, über die er sich freue, erklärte Röttgen. Im Augenblick habe jeder der drei Kandidaten die gleichen Chancen.
Mit Blick auf die bevorstehende Entscheidung der EU über eine gemeinsame Reaktion auf den Giftanschlag auf Alexej Nawalny zeigte sich Röttgen skeptisch gegenüber rein personenbezogenen Sanktionen. Wenn es am Ende dabei bleibe, dass einzelne Geheimdienstmitarbeiter irgendwelche Sanktionen erfahren würden, werde Vladimir Putin sagen, ‚ich kann also alles machen und am Ende passiert nichts, was irgendwie bedeutsam ist‘. Putin würde sich dann geradezu ermuntert fühlen. Es gehe jetzt darum, so zu antworten, dass Putin es verstehe, forderte Röttgen. Das sei ein europäisches Momentum, das weit über die Verantwortung von Geheimdienstmitarbeitern in Russland hinausgehe.
Das Interview in voller Länge:
Stephan Detjen: Herr Röttgen, wenn es nach Ihnen geht, sind Sie in zwei Monaten nach dem CDU-Parteitag in Stuttgart Vorsitzender der CDU Deutschlands. Sie kandidieren gegen den nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet und gegen Friedrich Merz. Wenn man die Berichte über diesen Kandidatenwettstreit in der CDU liest, stößt man mit Blick auf Ihre Person vor allem auf Formulierungen wie "Außenseiter" oder "kaum jemand glaubt an den Sieg von Röttgen" oder "chancenlos". Wie sehen Sie das? Wo sehen Sie die Mehrheit für sich?
Norbert Röttgen: Also, ich würde sagen, das sind die Zeitungen von vor vier, fünf und sechs Wochen und mehr. Ich glaube, dass es nicht mehr heute die Wahrnehmung und Berichterstattung ist. Man spürt, ich spüre, dass sich der Wind gedreht hat und ich viel mehr Wahrnehmungen und auch Unterstützung bekomme und darum glaube ich, dass wir inzwischen wirklich auf der gleichen Startposition liegen.
Ich glaube sogar, dass es eine Dynamik gibt, über die ich mich freue. Darum glaube ich, im Moment ist die Situation, dass jeder ungefähr ähnlich eine Chance hat, gewählt zu werden. Aber wie gesagt, ich sehe auch durchaus Dynamik, die mich erfreut.
Detjen: Wo sehen Sie denn den Rückenwind? Woher kommt der in der CDU, wenn man die Mitbewerber, Bewerber anschaut? Armin Laschet, Vorsitzender des stärksten Landesverbandes, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Friedrich Merz hat den Wirtschaftsflügel oder jedenfalls große Teil hinter sich, die Spitze des Landesverbandes Baden-Württemberg. Wo ist Ihre Machtbasis in der Partei?
Röttgen: Ich habe keine organsierte Gruppe, was mehr und mehr ein Vorteil ist, weil in der Partei wünscht man sich keinen Riss und keine Spaltung, die ich allerdings auch nicht sehe, wenn der neue Vorsitzende gewählt wird. Sondern es ist ganz wichtig, dass der neue Vorsitzende auch integrieren kann und akzeptiert wird breit und darum nicht der Repräsentant eines Lagers ist.
Und Sie haben eben auf respektable Ämter hingewiesen oder Verbände. Ich bin ganz davon überzeugt, dass sich Delegierte, die 1.001 Delegierten, nicht vorschreiben lassen und es auch nicht mögen, wenn der Eindruck erweckt wird, dass irgendeiner über sie in ihrer Entscheidung verfügen könne und darum spüre ich, danach haben Sie ja gefragt, die Unterstützung genau aus dieser Gruppe, aus der Basis, aus den Kreisverbänden von Delegierten, die mich anrufen, zu denen ich hinreise und diskutiere und das ist etwas, was man spürt, auch hier in der Bundestagsfraktion. In Berlin war das in den vergangenen beiden Wochen von den Kolleginnen und Kollegen eben zu spüren. Es sieht jetzt nach der ersten Welle von Corona einfach anders aus, als es im April ausgesehen hat.
"Es muss wieder Politik Einzug halten"
Detjen: Auf Corona und die Lage, die sich daraus ergibt, da kommen wir natürlich in diesem Interview auch noch zu sprechen. Die Zeit wird reichen dafür. Die Frage noch mal zu dieser Kandidatur in der CDU: Worin sehen Sie persönlich Ihre Stärken im Vergleich zu Ihren zurzeit beiden Gegenkandidaten?
Röttgen: Also, ich habe von ganz Anfang an für mich entschieden, ich kommentiere nicht meine beiden Mitbewerber, bewerte das nicht, sondern ich möchte sagen, was meine Ideen sind für die CDU, und ich glaube, dass das auch wahrgenommen wird, dass ich verbunden werde und mir abgenommen wird, dass es mir um die Partei als solche geht, nicht als ein Vehikel und Durchgangsamt für ein anderes Amt, sondern ich bin davon überzeugt, dass die CDU selber erneuerungsbedürftig, modernisierungsbedürftig ist.
Es muss wieder Politik Einzug halten, es muss interessant werden, auch für Außenstehende. Das heißt, die Partei und der Vorsitz der Partei, die Erneuerung der CDU als eigene Aufgabe und nicht als Mittel zum Zweck, das ist eine klare Aussage, die ich mache.
Detjen: Wenn ich da einfach mal nachfrage darf, wie würde sich denn eine von Norbert Röttgen geführte CDU in vier Jahren vom Dezember aus gesehen von der heutigen CDU unterscheiden?
Röttgen: Ich kann meine Ziele benennen. Die CDU muss sich entritualisieren. Wenn man auf Parteitage geht, dann ist da Gefühl der meisten Delegierten am Ende des Parteitages, dass relativ wenig über Politik gesprochen wurde, dass man viel gehört hat, viel applaudiert hat und noch weniger über Politik entschieden wurde.
Und dabei ist gleichzeitig das Gefühl von allen, wir leben in einer so unruhigen Zeit, die verunsichert, die Ängste macht. Wir wollen und brauchen Orientierung. Wir wollen als Partei Orientierung geben. Und das kommt ja nicht von selber, sondern das muss erarbeitet werden. Dafür brauchen wir Diskussionen. Dafür brauchen wir, um einen ganz besonderen Ansatz zu nennen, eine wirkliche organisierte systematische Verbindung der Partei zu der Expertise, der Kompetenz in unserer Gesellschaft, die ja riesengroß ist, aber das muss organisiert werden. Da müssen gewissermaßen Kanäle des Austausches und Dialogs gelegt werden …
Detjen: … die es im Augenblick nicht genügend gibt?
Röttgen: Nein, das gibt es praktisch nicht. Wir sind als Partei sozusagen ein Instrument des Wahlkampfes, aber zu wenig ein Körper, ein Organismus, der selber lebt und in dem es auch interessant ist, mitzuwirken, weil die Fragen, die alle beschäftigen und beunruhigen, bei uns eine Rolle spielen, weil daran gearbeitet und diskutiert wird und wir dann auch zu Ergebnissen kommen. Ich glaube, dieser Prozess …
Detjen: Aber jetzt hat die Partei ja gerade einen ausgiebigen Diskussionsprozess hinter sich, in dem es um das Grundsatzprogramm, das neue Grundsatzprogramm der CDU geht mit viel Basispartizipation. Annegret Kramp-Karrenbauer ist als Vorsitzende, schon als Generalsekretärin durch die Parteibasis gereist auf "Zuhörtouren", hat versucht, die Basis zu aktivieren. Das alles hat nicht gereicht. Sie würden da der Partei noch mehr anbieten, könnten da noch mehr leisten?
Röttgen: Also, ich habe mir ebenso fest vorgenommen, dass ich nicht rückblickend kritisieren möchte …
Detjen: … Sie haben ja gesagt, es gibt nicht genügend Diskussionen in der Partei und Annegret Kramp-Karrenbauer würde Ihnen wahrscheinlich widersprechen und sagen, ‚wir haben ausgiebig diskutiert‘.
Röttgen: Nein, Sie haben mich danach gefragt, wie die CDU in vier Jahren aussehen wird und ich habe gesagt, wie ich die CDU gestalten möchte und was den Grundsatzprogramm-Diskussionsprozess anbelangt, ist meine Meinung klar, dass wir in diesen Prozess völlig neu einsteigen müssen, ihn tiefer, breiter anlegen müssen. Die Corona-Pandemie hat die Fragen noch einmal ganz anders dargestellt. Ich glaube, dass da noch viel Arbeit vor uns liegt und die Diskussionen noch vertieft, verbreitet und intensiviert werden müssen.
"Wir haben viele Themen, die noch lange nicht ausdiskutiert werden"
Detjen: Habe ich Sie da richtig verstanden? Sie würden sagen, wenn Sie Vorsitzender werden, würden Sie diesen Prozess der Definition eines neuen Grundsatzprogramms sozusagen auf Reset drücken und noch mal von vorne starten?
Röttgen: Wir müssen neu in diese Grundsatzdebatte einsteigen. Wir haben im nächsten Jahr 2021 die Bundestageswahl. Da ist also Wahlkampf. Das fängt mit Landtagswahlen, mit wichtigen Landtagswahlen an. Aber die Grundsatzfragen, die sich stellen, die Rolle Deutschlands in Europa, in der Welt, nach den amerikanischen Präsidentschaftswahlen, das Verhältnis zu China, das nicht mehr nur ein großer Markt ist, ein aggressives Russland, gleichzeitig den Einzelnen in unserer Gesellschaft, der seine Anforderungen hat als Eltern, als Familienväter und Mütter, bei denen auf einmal die eigenen Eltern, die alt sind, krank werden. Man sucht den Pflegeheimplatz.
Gleichzeitig muss man sich um die eigenen Kinder kümmern. Vereinbarung von Beruf, Familie, Ehrenamt. Ich glaube, wir haben viele Themen, die noch lange nicht ausdiskutiert werden. Darum, glaube ich, müssen wir in diesem politischen Prozess neu einsteigen.
Detjen: Jetzt muss die Partei ja zunächst einmal die Diskussion und den Wettbewerb um diesen Vorsitz heil überstehen und viele in der Partei haben die Sorge, dass der Wahlkampf, der innerparteiliche Wahlkampf, der jetzt erst richtig losgehen soll im November, die Partei doch spalten könnte, jedenfalls war das auch zuletzt so, dass nach der Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer die Partei nicht geeint aus diesem Wettbewerb hervorging. Warum soll das dieses Mal anders sein?
Röttgen: Weil Wettbewerb ein demokratisches Verfahren ist. Das ist etwas, was wir brauchen. Ich habe das ja auch von Anfang an mit meiner Kandidatur verbunden. Ich habe gesagt, es reicht nicht, nur eine Personalentscheidung zu treffen. Das war der Fehler der SPD über 15 Jahre. Sie hat geglaubt, wir brauchen immer nur einen neuen Vorsitzenden, dann kommt immer das Heil. Nein, es wird nicht den einen Heilsbringer geben, sondern wir brauchen eine inhaltliche Orientierung, Kompetenz in den entscheidenden Fragen, Glaubwürdigkeit und über die unterschiedlichen Vorstellungen dazu muss auch diskutiert werden und darum ist das ein ganz wichtiger Prozess. Ich selber als Person …
Detjen: … wenn ich noch mal nachfragen darf: Ich erinnere mich gut vor zwei Jahren, als es um die Nachfolge von Angela Merkel im Parteivorsitz ging, da hat die Partei diese Regionalkonferenzen organisiert, auf denen die drei Kandidaten damals angetreten sind gegeneinander. Die Partei hat sich gefeiert für ihre lebendige Diskussionskultur, für den offenen Wettbewerb, den sie da ausgetragen hat, aber es hat sich eben danach gezeigt, dass da Gräben in der Partei entstanden sind, die nicht geheilt sind, dass sich die Partei nicht geschlossen hinter die neue Vorsitzende gestellt hat.
Röttgen: Also ich bestätige Ihren Befund so nicht, sondern die Wahl von Annegret Kramp-Karrenbauer war knapp, aber sie ist akzeptiert worden. Und dass es immer weitere Diskussionen gibt, das war übrigens auch so, als Angela Merkel neue Parteivorsitzende geworden ist. Das ist Demokratie. Wenn es anders wäre, wenn alles hinter verschlossenen Türen ausgekungelt wäre und man sagt, Inhalte, Politik, das tun wir mal zur Seite, wir wollen vor allen Dingen, dass vor dem Parteitag schon alles entschieden ist, das wäre doch das Schlechteste, was man sich vorstellen kann und das ist eben die Alternative. Oder trauen wir uns Wettbewerb zu?
Wenn wir uns schon den Wettbewerb, und zwar einen inhaltlichen, von wechselseitigem Respekte getragenen Wettbewerb nicht zutrauen, dann werden wir den mit der Bevölkerung auch nicht bestehen. Ich biete an, glaube ich, klare Aussagen zur Erneuerung der Partei und des Landes, ohne dass das polarisierend ist und diese Verbindung geht auch.
"Es geht nicht um mich bei dieser Wahl"
Detjen: Das letzte Mal war die damals sehr offene Frage und auch heute noch offene Frage der Kanzlerkandidatur der CDU das Instrument, mit dem dann am Stuhl von Annegret Kramp-Karrenbauer gesägt wurde. Sie würden im Fall eines Sieges auch den Anspruch erheben Kanzlerkandidat zu werden? Das war ja auch nicht immer so ganz klar.
Röttgen: Auch dazu habe ich klare Aussagen gemacht, auch von Anfang an, indem ich erklärt habe, dass mit der Kandidatur für den Vorsitz der Christlich Demokratischen Union Deutschlands verbunden ist, das Selbstzutrauen des Kandidaten und Vorsitzenden Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland zu sein, das Amt zu wollen des Kanzlers und es sich auch zuzutrauen. Das ist eindeutig und klar.
Aber genauso klar ist auch, dass es, wenn man diese Einschätzung hat, damit immer noch nicht um die Person selber geht. Es geht nicht um mich bei dieser Wahl. Ich halte es für enorm wichtig, für absolut entscheidend und nicht aus einer parteipolitischen Übersteigung heraus, dass die Union diese nächste Bundestagswahl gewinnt, obwohl wir schon seit 16 Jahren die Kanzlerin stellen, also lange Zeit regieren.
Bei der Instabilität, die wir haben, glaube ich, ist es wichtig, dass die verbliebene große Volkspartei versucht, das Land zu führen und gleichzeitig zusammenzuhalten und es nicht eine Summe von kleinen Parteien macht. Das Ziel ist das Entscheidende. Dieses Ziel, dass wir die Wahlen gewinnen, ist der Maßstab. Dafür brauchen wir die Bestaufstellung, in die gehe ich mit als Vorsitzender hinein, auch mit einer Selbsteinschätzung, aber ich werde mich diesem Maßstab unterwerfen. Es geht nicht um mich, sondern es geht um die Bestaufstellung, die und über die zu einem gegebenen Zeitpunkt zwischen der CSU und dem CSU-Vorsitzenden und der CDU und dem CDU-Vorsitzenden zu befinden ist.
Detjen: Sie preisen den innerparteilichen Wettbewerb, die Diskussionsfreude in der CDU. Würde es diesen Wettbewerb, die Diskussion in der Partei bereichern, wenn in der kommenden Woche noch eine Frau den Hut in den Ring werfen würde?
Röttgen: Zunächst muss ich da sagen, ich preise nicht das, wie es stattfindet, sondern ich würdige und preise, dass wir uns auf diesen Ansatz verständigt haben. Ich würde mir durchaus wünschen, wenn die Diskussion, was wollen die Kandidaten eigentlich in der Sache, was sind eigentlich ihre Aussagen, noch intensiver werden würde. Ich finde, wir haben immer noch mehr Wettbewerb um die Person als um die Themen und die Thesen und wofür die Personen stehen. Und ob eine weitere Kandidatin, ich finde das sehr paternalistisch.
Ich habe meine Kandidatur erklärt, andere auch und jeder und jede hat ja die Möglichkeit, das zu tun, aber es ist ja jetzt nicht an uns Kandidaten, Wünsche zu äußern für andere Kandidatinnen und Kandidaten, sondern wir haben Chancengleichheit für alle und es gibt drei Kandidaten und das ist die Situation.
Deutschland muss "eigene Stärkungsstrategie definieren"
Detjen: Herr Röttgen, es ist ja gar nicht so einfach, jetzt im Augenblick vorherzusagen, welche Themen uns in den nächsten Wochen am stärksten beschäftigen werden. Wenn wir vorausschauen, im Dezember, wenn der CDU-Parteitag dann in Stuttgart stattfindet, liegen die US-Präsidentschaftswahlen hinter uns. Die Corona-Pandemie wird möglicherweise eine zweite Welle erreicht haben, das deutet sich ja schon an. Die Wirtschaft wird dann wahrscheinlich unter neuen Einschränkungen leiden. Ist in dieser Zeit außenpolitische Kompetenz das entscheidende Thema in der CDU?
Röttgen: Es ist jedenfalls eine wichtige Kompetenz und ich würde sie auch nicht als rein außenpolitische Kompetenz beschreiben, sondern die Kompetenz, die ganz wichtig neben anderen ist, besteht darin, dass wir verstehen und dass auch der Vorsitzende, der neue Vorsitzende der Partei verinnerlicht, wie sehr wir als Land, gerade als Deutschland, verwoben sind mit dem, was um uns herum geschieht. Das haben wir erlebt in den letzten rund zehn Jahren. Die Weltfinanzmarktkrise fing in Amerika an als ein Zusammenbruch bestimmter amerikanischer Banken, die bis dahin kein Mensch kannte, und auf einmal war es eine Weltfinanzmarktkrise, die auch Europa und Deutschland erschüttert hat.
Vor ein paar Jahren kamen die Flüchtlinge aus den Kriegs- und Krisengebieten im Mittleren Osten und Afrika zu uns. Das heißt, die Kriegs- und Krisenregionen weit weg, aber unsere Gesellschaft, unsere Städte werden dadurch verändert. Und die jüngste Entwicklung ist das Virus, das seine erste Verbreitung in einer chinesischen Region, in Wuhan, genommen hat. Das heißt, diese Verbindung von Außeninstabilität, die zu uns kommt und auch zur Gefahr der Instabilität in unserem eigenen Land wird, das ist, glaube ich, ein großer Trend unserer Zeit und dafür muss man verstehen, was geht um uns herum vor und wir müssen unsere eigene strategische Antwort, unsere eigene Stärkungsstrategie bestimmen und definieren. Das, glaube ich, ist eines der großen Themen, die uns nicht mehr loslassen werden.
Detjen: Wie sollte vor dem Hintergrund dessen, was Sie jetzt skizziert haben, eine deutsche Strategie, die Strategie einer deutschen Regierung gegenüber den USA sein? Viele sagen ja, auch wenn Joseph Biden die Wahlen gewinnt, wird jedenfalls im transatlantischen Verhältnis nicht alles ganz anders werden als jetzt in den letzten Jahren unter Trump. Was kann, was sollte Deutschland tun, um nach der Wahl auf die neue US-Regierung – Frage: egal wer sie führt? - zuzugehen?
Röttgen: Es macht schon einen Unterschied, wer sie führt, aber ich nehme mal Ihr Beispiel an, dass Joe Biden diese Wahlen gewinnt.
Detjen: Das halten Sie für das Wahrscheinlichste?
Röttgen: Nein, Sie hatten auch darauf angespielt und es illustriert, wir können aber über beide Fälle natürlich sprechen, aber ein möglicher Wahlsieg von Joe Biden illustriert ganz deutlich, was sich verändern würde, aber das was auch bleiben würde und auf uns zukommen würde. Verändern würde sich, es würde wieder Rationalität und partnerschaftlicher Geist in das transatlantische Verhältnis einkehren. Wir würden wieder vernünftig miteinander umgehen. Das ist eine nicht zu unterschätzende Veränderung, die damit verbunden wäre.
Aber zu glauben, es würde jetzt eine vermeintlich gute alte Zeit wiederkehren, die man darin sieht, dass die USA sozusagen sich um die Welt kümmert und wir können uns wieder nur um uns kümmern, das ist eine blanke Illusion. Es ist gar nicht auszuschließen - oder es ist absolut sicher, dass auch Joe Biden als Präsident sich erst einmal um das eigene Land kümmern muss, um die Gräben, um die Verletzungen, um die Wirtschaft, um die Millionen von Arbeitslosen, die in den USA auf den Straßen leben. Sie haben nicht unseren Sozialstaat. Und ganz sicher zu erwarten ist, dass auch eine Administration Biden sagen wird, für uns ist der Indopazifik im Allgemeinen und China im Besonderen die Nummer-1-Herausforderung und darum laden wir euch ein zu mehr Partnerschaft in Führung, zu einer Arbeitsteilung. Eure Region ist Europa, die Nachbarschaft, auch der Nahe und Mittlere Osten.
Das heißt, es könnte sein, dass der Ball in unser Spielfeld gespielt wird von Joe Biden und dann werden sie fragen: ‚Seid ihr bereit mitzuspielen, Verantwortung wahrzunehmen für internationale Führung?‘ Diese Frage, auf die sollten wir uns vorbereiten. Meine Antwort ist, ja, wir sollten dazu bereit sein, aber wir müssen dann uns vorbereiten und uns auch verändern in dem, was wir erbringen.
"Müssen so antworten, dass Putin es versteht"
Detjen: Führungsfähigkeit, internationale Reaktionen sind auch im Verhältnis zu Russland gefordert. Sie haben sich seit Langem, aber besonders nach dem Mordversuch an Alexej Nawalny, für einen Stopp der Nord Stream 2 Pipeline ausgesprochen. Das Thema scheint vom Tisch zu sein. Deutschland und Frankreich wollen sich jetzt gemeinsam für europäische Sanktionen gegen einzelne Personen aus Russland einsetzen, die man in Zusammenhang mit dem Anschlag auf Nawalny bringen kann. Das Thema wird in der bevorstehenden Woche die Außenminister beschäftigen der EU. Ist das dann eine angemessene Antwort?
Röttgen: Wichtig ist, dass man sieht, dass es sich bei diesen Vergiftungen und Mordanschlägen zum einen um Einzelschicksale von Menschen handelt, die ermordet oder vergiftet werden, aber zum anderen um viel mehr, nämlich um ein Handlungsmuster von Putin’scher Politik der Unterdrückung im Innern, auch der Einschüchterung der Bevölkerung, indem man ein Exempel statuiert, dass man die, die es wagen, Kritik zu üben, öffentlich vergiftet, sozusagen sie einem öffentlichen qualvollen Sterben aussetzt, als Abschreckung und Einschüchterung der Bevölkerung. Und es ist auch ein Handlungsmuster der Außenpolitik der Ausdehnung, der gewaltsamen Ausdehnung der eigenen Macht jenseits der Grenzen, Stichwort Ukraine oder auch Syrien oder auch Belarus oder Georgien. Diesem Handlungsmuster und dieser Politik müssen die Europäer aus unserem Wertverständnis, aber auch aus unseren Interessen, entgegentreten und die Empörung über die Vergiftung und Mordversuch an Alexej Nawalny hat ein europäisches Momentum geschaffen, dass es jetzt eine europäische Antwort gegen diesen Ansatz von Politik gibt. Das ist, glaube ich, jetzt die Erwartung und die Möglichkeit.
Wenn am Ende es dabei bliebe, dass einzelne Geheimdienstmitarbeiter irgendwelche Sanktionen erfahren würden, dann kann ich Ihnen sagen, was Wladimir Putins Reaktion ist: Er würde sagen, ‚ich kann also alles machen und am Ende passiert nichts, was irgendwie bedeutsam ist‘. Er würde sich geradezu ermuntert fühlen und es geht darum, dass wir nun antworten gegenüber einem Politikansatz, und zwar so antworten, dass Putin es versteht. Das ist das europäische Momentum. Das ist eine europäische Frage, die weit über die Verantwortung von Geheimdienstmitarbeitern in Russland hinausgeht.
"Wir werden das Virus nicht ausrotten"
Detjen: Lassen Sie uns am Ende des Gesprächs, Herr Röttgen, noch einmal über Corona, auch mit Blick auf Deutschland, sprechen. Nächste Woche stellen die führenden Wirtschaftsforschungsinstitute ihre Konjunkturprognose für den Herbst vor. Zuletzt gab es ja Zeichen, die für eine relativ schnelle Erholung der Wirtschaft im neuen Jahr hindeuteten. Jetzt steigen die Infektionszahlen wieder dramatisch an, es gibt neue Einschränkungen. Rechnen Sie auch mit einem tieferen Einbruch in der Wirtschaft, auf den wir uns jetzt einstellen müssen?
Röttgen: Das ist alles nicht langfristig vorauszusehen. Das Einzige, worauf ich mich einstelle, ist, dass wir als Gesellschaft, als Wirtschaft, Volkswirtschaft und Staat lernen müssen, für eine längere Zeit mit dem Virus zu leben, und zwar ganz systematisch. Wir werden es nicht ausrotten.
Und darum müssen wir uns anpassen und einstellen. Und das wird auch mit dem Virus als Ursache, das dazu führt, dass die Menschen nicht in die Öffentlichkeit gehen, dass sie nicht zusammenkommen, das heißt, also ganze Wirtschaftsbranchen durch die gebotene Zurückhaltung der Menschen ihre Schwierigkeiten haben, sich noch weiter fortsetzen und es wird nicht schlagartig wieder nach oben gehen. Das ist ja die berühmte V-Annahme, also es geht ganz schnell tief runter zum Punkt des V und dann geht es aber auch nach ganz kurzer Zeit wieder schnell hoch. Dieses V habe ich immer für sehr wagemutig gehalten und das V sehe ich nicht in der wirtschaftlichen Entwicklung, sondern das wird unten eine etwas längere Linie geben.
Detjen: Dann muss die Politik jetzt konkrete Antworten geben und da gibt es ja auch ganz konkrete Vorschläge. Lassen Sie uns zum Schluss vielleicht noch mal ein, zwei von den anschauen, die man vielleicht auch ganz schnell bewerten kann aus Ihrer Sicht. Der Bundesarbeitsminister hat einen gesetzlichen Anspruch auf Heimarbeit vorgeschlagen. Sollte es das geben?
Röttgen: Das ist gut in der Intention, fehlerhaft im Vorschlag, weil es unterstellt, dass das etwas ist, was der Arbeitnehmer im Wege des Rechtsanspruchs gegen den Arbeitgeber durchsetzen können muss. Das ist eine Bürokratisierung, die auch Folgen hat, die man nicht braucht. Der Ort ist die Betriebsvereinbarung und dann ist die betriebliche Partnerschaft, die Betriebsvereinbarung, der Ort, es zu machen und nicht das kontradiktorische Denken, das in diesem Rechtsanspruch sich ausdrückt, ist der richtige Ansatz, sondern partnerschaftlich.
Detjen: Sollte die Reduzierung der Umsatzsteuer, die befristet ist, am Ende des Jahres auslaufen oder sollte sie verlängert werden?
Röttgen: Sie war gedacht, dass sie einen Konjunktur- und Konsumimpuls gibt, indem sie befristet ist. Wenn sie nicht befristet ist, ist es eine dauerhafte Senkung und kein befristeter Konjunktur- und Konsumimpuls und insofern ist mit dieser Idee, die ja einen zweistelligen Milliardenbetrag als Steuerausfälle kostet, sozusagen ein Konjunktur- und Konsumimpuls verbunden und diesem Vorschlag, dem wohnt die Befristung in seinem Zweck inne.
Detjen: Letzte Frage, Herr Röttgen, angesichts der steigenden Zahlen, die wir jetzt täglich vom Robert Koch-Institut bekommen haben, was ändert sich da für Sie ganz persönlich? Ändern Sie Ihr Verhalten, ändern Sie jetzt auch in den bevorstehenden Wochen im parteiinternen Wahlkampf Ihre Reisepläne oder Ihre Gesprächstermine?
Röttgen: Das war im Grunde schon immer darauf eingestellt und angepasst. Es finden jetzt schon mit Kreisverbänden und Mitgliedern Video-Konferenzen statt, die es früher überhaupt natürlich nie gegeben hat, das ist jetzt schon ein Fall. Wenn Diskussionen sind, sind es überschaubare Größenordnungen von 20 Personen, 30 Personen in größeren Räumen. Das ist eine völlig andere Art, Kommunikation auch in einer Partei zu betreiben, aber man kann flexibel sein, man kann sich anpassen und immer noch die eigentlichen Ziele, Diskussionen und Kennenlernen und Austausch erreichen, das geht.