Archiv

Reaktionen auf ostdeutsches Memorandum
Selbsttäuschung der evangelischen Kirche?

Die evangelischen Theologen Friedrich Schorlemmer und Christian Wolff haben mit einem Memorandum einigen Wirbel verursacht. Der Titel: "Reformation in der Krise - Wider die Selbsttäuschung". Die Chancen des Reformationsjubiläums seien verpasst worden.

Von Alexandra Gerlach |
    Der Theologe Friedrich Schorlemmer und der Pfarrer Christian Wolff (l) in einer Bild-Collage
    Die Theologen Friedrich Schorlemmer (l) und Christian Wolff (r) (picture alliance / ZB / Jens Wolf / Peter Endig)
    "Ich finde die Art und Weise, wie die beiden an die Öffentlichkeit gehen, das finde ich kritikwürdig." Andreas Beuchel, Superintendent des Kirchenbezirks Meißen-Großenhain, ist empört: "Ich sage: Warum, was bringt das jetzt? Als ob wir darüber nicht nachgedacht hätten, und das stimmt so nicht. In vielen, vielen Gremien, vielleicht nicht so medienwirksam wie die beiden, aber wir sind an den Fragen dran. Wir sind in einem so starken strukturellen Wandel, den hat glaube ich Kirche so noch nie erlebt!"
    Beuchels sächsischer Kirchenbezirk Meißen-Großenhain umfasst 135 Kirchen und zählt rund 43.000 Gläubige. Noch. Doch schon jetzt ist absehbar, dass sich im Zuge der demographischen Entwicklung die Zahl der Kirchenmitglieder in der Evangelischen Kirche in Sachsen innerhalb der kommenden 20 Jahre fast halbieren wird - von derzeit 714.000 auf unter 400.000. Die Landeskirche reagiert darauf mit drastischen Stellenkürzungen in den Pfarrämtern. Jede zweite Pfarrstelle soll bis 2040 wegfallen. Andreas Beuchel:
    "Das wird so, wenn die Zahlen weiter so sind, wird es wohl so bleiben, aber man muss sich ja der Realität stellen, das nützt ja nichts."
    "Mammutprogramm und leere Säle"
    Anders der ehemalige Leipziger Thomaskirchenpfarrer Christian Wolff: Er will diese Argumentation so nicht gelten lassen. Er sieht die Ursache für den drastischen Mitgliederschwund nicht allein in der demographischen Entwicklung Deutschlands und wirft der Kirchenführung vor, sich das Problem zu einfach zu machen. Er selbst habe - wie auch sein Mitautor Friedrich Schorlemmer - bei verschiedenen Reformations-Jubiläums-Veranstaltungen eine peinliche Leere erlebt. Der Kirchentagsapparat habe den acht mitteldeutschen Austragungsstädten der regionalen Kirchentage ein "Mammutprogramm übergestülpt", kritisierten Schorlemmer und Wolff. So seien die wahren Probleme überdeckt worden. Christian Wolff:
    "Die Krise liegt viel tiefer, und das schreiben wir ja auch, dass da etwas sichtbar geworden ist, für alle und wir bestreiten ja auch keinen Moment zwei Dinge: Erstens, dass es natürlich wunderbare Veranstaltungen gegeben hat und weiter gibt, in vielen Kirchgemeinden, dass wir Gott sei dank ganz viele Menschen in den Kirchengemeinden haben, die engagiert mitarbeiten. Das ist das eine, und das zweite ist, dass wir ja nicht von der Zuschauertribüne als Besserwisser das schreiben, sondern: Wir sind Teil dieser Krise."
    "Neue Formate gefunden"
    In einem Interview mit dem MDR widerspricht die Reformationsbotschafterin der EKD, Margot Kässmann, dem Vorwurf der beiden Pfarrer entschieden:
    "Das kann ich nun gerade gar nicht sehen und da - auch weil vom Apparat der EKD die Rede ist -, müssen wir sagen, dass ja gerade die evangelische Kirche in Mitteldeutschland sich sehr gewünscht hat, dass hier Kirchentage 'auf dem Wege' in Mitteldeutschland stattfinden, damit nicht das Gefühl entsteht, alles ist immer nur in Berlin oder München oder in Hannover, sondern wir nehmen schon sehr sensibel wahr, wie die Situation für Mitteldeutschland ist und wie schwierig es ist, Kirche in der Minderheitensituation zu sein. Wir haben auch neue Formate gefunden, dass das gelungen ist, Menschen in die Gespräche hineinzubringen, die selbst gar nicht kirchlich gebunden sind. Und das ist die Herausforderung, denke ich."
    Der Bedeutungsverlust der Kirche schreite voran, heißt es in dem Memorandum, zudem sei in vielen Gemeinden seit langem ein "dramatischer Traditionsabbruch" zu beobachten. Aber die Kirche reagiere nicht, klagt der aus Westdeutschland stammende Wolff:
    "Als ich hier 1992 herkam, nach Ostdeutschland, in diese, das ist ja ein Begriff von Friedrich Schorlemmer, 'ent-christianisierte Gesellschaft', da wurde mir noch einmal deutlich, wie sündhaft wir in den 70er und 80er Jahren in Westdeutschland damit umgegangen sind, dass – auf Mannheim bezogen – jedes Jahr eine komplette Gemeinde die Kirche verlassen hat. Wir haben darauf überhaupt nicht reagiert."
    "Was ist das Ziel der evangelischen Kirche?"
    Diese Entwicklung potenziere sich nun in den nachwachsenden Generationen, die keinerlei Bindung mehr zu Kirche haben. Statt Kürzungen im Personal-Etat fordern die beiden Theologen Schorlemmer und Wolff ein Umdenken der Kirchenleitung. Definiert werden müsse zuerst das Ziel der Kirche, dann müsse gefragt werden, welches Personal dafür nötig sei - und schließlich müsse über das Geld gesprochen werden. Nur so sei ein echter Reformprozess möglich. Wolff:
    "Wir müssen von unseren Grundlagen mehr reden - und zwar dort, wo es auch um Grundsätzliches geht, auch in der gesellschaftlichen und politischen Debatte!"
    Der Titel ihres Memorandums "Reformation in der Krise" sei in diesem Sinne durchaus doppeldeutig gemeint, sagen die Autoren, das Papier solle Grundsatz-Diskussionen anregen, sagt Wolff:
    "Vor 500 Jahren ist die Reformation nicht geschehen in einer Zeit, in der alles wunderbar war, sondern Voraussetzung sozusagen für die Reformation war der Niedergang der Gesellschaft, sprich auch der Kirche damals. Also Reformation in der Krise, die findet nur in der Krise statt, eine Reformation."
    Die für ihn erstaunlichste Reaktion erhielt Christian Wolff übrigens vom Propst der katholischen Kirche in Leipzig. Er schrieb:
    "Ein starker Text! Ich kann den fast eins zu eins auch auf unsere Situation anwenden und werde ihn deswegen im Pfarrkonvent verteilen."