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Religion
China findet zurück zum Glauben

Spiritualität ist in China wieder sehr verbreitet. Weder Parteisystem noch Wirtschaftsboom bieten den Menschen offenbar genügend Orientierung. Der kanadische Journalist Ian Johnson hat seine Jahre langen Recherchen darüber in "The Souls of China" zusammengetragen.

Von Ruth Kirchner | 21.08.2017
    Das chinesische Neujahrsfest: Am Guiyuan Tempel verehren Einwohner Caishen, den Gott des Reichtums - hier in Wuhan in der Provinz Hubei am 01. Februar 2017.
    Verehrung des chinesischen Gottes Caishen an der Guiyuan Tempelanlage: Im China des 21. Jahrhunderts suchen die Menschen nach einem moralischen Kompass. (imago/China Foto Press)
    Eine Tempelfest in der westchinesischen Provinz Shanxi: Eine Gruppe schwarz gekleideter Männer musiziert mit traditionellen Blasinstrumenten, mit Trommeln und Zimbeln. Es ist ein daoistisches Musik-Ensemble, das sich auf jahrhundertealte Rituale und Traditionen beruft.
    Solche Zeremonien gehören in vielen Teilen der Volksrepublik wieder zum Alltag und sind mehr als reine Folklore. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung erlebt die Religion eine Renaissance. Daoistische Priester, christliche Hauskirchen, Zen-Buddhisten und verloren geglaubte Volksreligionen haben einen enormen Zulauf. Im China des 21. Jahrhunderts suchen die Menschen nach einem moralischen Kompass, sagt Buchautor Ian Johnson:
    "Ich glaube, das ist eine Folge der Kulturrevolution, auf der einen Seite, die fast alle traditionellen Werte zerstört hat. Und auch auf der anderen Seite diese rasante, seit fast 40 Jahren laufende wirtschaftliche Entwicklung, diese brutale Art des Kapitalismus, den man in China findet, der auch viele Werte zerstört hat. Die Menschen fragen sich, wofür steht unsere Gesellschaft, welche Werte haben wir überhaupt? Die Menschen sind sehr verunsichert und suchen in der Religion eine Antwort."
    Es geht also nicht nur um Spiritualität, sondern auch um grundlegende Fragen von Identität und gesellschaftlichem Miteinander. Wie leben im modernen China, in einem System, in dem die Heilsversprechen der kommunistischen Partei hohl klingen, in dem Korruption und Selbstbereicherung der politischen Eliten das Diktum vom "Dienst am Volk" ad absurdum geführt haben.
    Pulitzer-Preis für Bericht über die Bewegung Falun Gong
    Johnson, der in Peking und Berlin lebt, kennt China seit den 80er Jahren und beschäftigt sich schon lange mit spirituellen Bewegungen. Für seine Berichterstattung im "Wall Street Journal" über die Verfolgung der Meditationsbewegung Falun Gong hat er 2001 einen Pulitzer-Preis gewonnen. Aber "The Souls of China" ist sicherlich sein aufwendigstes Projekt. Jahrelang hat er dafür recherchiert, viele Monate bei Religionsgemeinschaften verbracht und geduldig beobachtet.
    Sein Blick ist fast ein ethnographischer, manchmal der eines teilnehmenden Beobachters. Johnson macht mit bei daoistischen Begräbnissen, Zen-Meditationen und Pilger-Prozessionen - etwa in Gemeinden in der Nähe von Peking:
    "Ich habe Sachen in den Gebirgen westlich von Peking gesehen, die mich ein bisschen an die christlichen Feste in Bayern erinnert haben, zum Beispiel bei Oberammergau die Passionsfeste. Das gibt es auch in China, wo das ganze Dorf zusammenkommt und spielt fast ein Theaterstück, um das Böse aus der Gemeinde zu treiben. Man dachte, diese Sachen seien alle tot, besonders nach der Kulturrevolution, aber sie kommen alle zurück, teilweise auch mit der Unterstützung der Regierung."
    Die Kapitel seines Buches hat Johnson in Anlehnung an den chinesischen Mond-Kalender aufgeteilt. Das macht Sinn, denn selbst in Millionenmetropolen wie Peking und Shanghai spielt dieser Kalender eine wichtige Rolle. Etwa das Qingming-Fest im Frühjahr, wenn der Toten gedacht wird.
    Johnson zeigt, dass Spiritualität und Alltag in China schon immer zusammen gehörten - das haben die politischen Kampagnen der vergangenen 60 Jahre nicht zerstören können. Auf der Suche nach Sinn jenseits von Wohlstandsvermehrung gibt es also viele Anknüpfungspunkte. Zugehörigkeiten zu bestimmten Religionsgemeinschaften sind dabei zweitrangig:
    "Im Westen denken wir in ausschließlichen Begriffen. Dieser Mensch ist Katholik, jener ist Jude, ein anderer Moslem. [...] Vor allem ist Glaube exklusiv - man ist das eine oder das andere….Traditionelle chinesische Religion ist anders [...] Ein Dorf hatte früher seine Tempel und seine Götter, die an bestimmten Festtagen geehrt wurden. Es gab verschiedene Lehren wie den Konfuzianismus, Buddhismus und Daoismus - aber nicht als separate Institutionen mit jeweils eigenen Anhängern. In der chinesischen Geschichte haben die Menschen zumeist an eine Mischung dieser Lehren geglaubt."
    Religion zwischen Parteiideologie und Wirtschaftsboom
    In diesem Glaubens-Kosmos spielen spirituelle Verbindungen zwischen gestern, heute und morgen eine große Rolle, aber auch Harmonie, Moral und Gerechtigkeit. Und da wird es dann ganz schnell politisch. Wessen etwa darf man am Qingming-Fest öffentlich gedenken? Der Toten vom Tian’anman-Massaker von 1989 nicht. Johnson beschreibt eine alte Dame, die jedes Jahr nur allein und unter strenger Bewachung von Sicherheitsleuten zum Friedhof fahren darf, um das Grab ihres Sohnes herzurichten.
    Genau das macht das Buch von Johnson so außergewöhnlich: Seine Reportagen und Beobachtungen sind eingebettet in die aktuellen Entwicklungen in der Volksrepublik: die Anti-Korruptionskampagne von Staats- und Parteichef Xi Jinping, seine Ideologie-Kampagnen, die den Menschen moralisches, aber parteikonformes Verhalten aufdrücken sollen.
    Johnson zeigt, wie unter Xi die Toleranz gegenüber Religionen zwar vordergründig gewachsen ist: Wenn sie zur politischen Stabilität beitragen und konfuzianische Tugenden wie Gehorsam und Harmonie befördern, werden sie von der KP unterstützt, auch finanziell.
    Religionen wie das Christentum dagegen, die als westlich gelten und auf soziale Veränderung setzen, haben es weiterhin schwer. Johnson zeigt das anhand eines engagierten Pastors einer christlichen Hauskirche, der in der südwestchinesischen Stadt Chengdu vom 19. Stock eines schäbigen Bürohauses aus zwischen offizieller Toleranz und Repression navigiert.
    Die Perspektive von Staat und Religion
    Aber kann diese Rechnung aufgehen, kann die Förderung bestimmter Religionen langfristig zur Stabilität der Einparteienherrschaft beitragen? Johnson bleibt skeptisch:
    "Ich glaube, dass das kurzfristig die Regierung unterstützt, Xi Jinping ist bei vielen Anhängern von traditionellen Religionen wie Buddhismus, Daoismus et cetera sehr beliebt, wegen seiner Unterstützung für diese Religionen. Aber langfristig führt es dazu, dass die Menschen unabhängiger denken und unabhängiger werden von der Regierung. Sie entwickeln ihre eigenen Werte, ihre eigenen Ideen von Gerechtigkeit und das ist natürlich langfristig gesehen für die KP nicht von Nutzen."
    Es ist dieser langsame Emanzipationsprozess, in den Johnson mit seinem Buch einen seltenen Einblick gewährt. Wer die chinesische Gesellschaft jenseits der tagesaktuellen Berichterstattung verstehen will, findet in "The Souls of China" einen neuen Zugang und überraschende Einblicke. Und ganz nebenbei ist das Buch wirklich schön geschrieben und daher absolut empfehlenswert.
    Ian Johnson: "The Souls of China"
    Penguin Verlag, 361 Seiten, 19,99 Euro