Dienstag, 19. März 2024

Archiv

Roland Jahn
"Keine Gleichsetzung von NSA und Stasi"

Die Stasi-Akten seien ein Aufruf an alle in der Demokratie, dafür zu sorgen, dass Geheimdienste nicht außer Kontrolle gerieten, sagte Roland Jahn, Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen im "Interview der Woche" des Deutschlandfunks. Einen Vergleich von NSA und Staatssicherheit lehnt er aber ab.

Roland Jahn im Gespräch mit Birgit Wentzien | 10.08.2014
    Birgit Wentzien: Wie viel Zukunft, Herr Jahn, braucht die Vergangenheit, für die Sie zuständig sind? Brauchen wir 25 Jahre nach dem Mauerfall noch ein Stasi-Unterlagen-Archiv mit summa summarum - wenn es noch stimmt - 1.600 Mitarbeitern an 14 Standorten für einen Etat von knapp 100 Millionen Euro?
    Roland Jahn: Die Beschäftigung mit der Vergangenheit gibt uns die Chance, Gegenwart und Zukunft bestmöglich zu gestalten. Mit dem Einblick in dieses Archiv, die Stasi-Unterlagen, haben wir die Möglichkeit, ja durchaus auch zu lernen, uns zu schützen vor Ungerechtigkeiten und vor allen Dingen Freiheit und Demokratie zu schützen.
    Wentzien: Nun gibt es ein paar Daten, die man aber nicht wegwischen kann. Das ist 2019 nämlich, das Jahr, in dem die Stasi-Überprüfung von Mitarbeitern im Öffentlichen Dienst ausläuft, und zwar endgültig, das wurde ja ein paar Mal verlängert. Sie zögern vielleicht noch mit Verlängerung?
    Jahn: Das wird der Deutsche Bundestag entscheiden, ob hier eine Notwendigkeit besteht. Ich weiß nur, dass sozusagen die, die es anwenden - zum Beispiel im Land Brandenburg, die ja lange Jahre auf eine Überprüfung verzichtet haben in verschiedenen Bereichen -, dass die das gerne nutzen. Der Ministerpräsident von Brandenburg, Woidke, hat mir deutlich gesagt, dass er das gut findet, dass er die Möglichkeit hat, hier in die Akten zu schauen und wirklich dafür Sorge zu tragen, dass es Vertrauen in den Öffentlichen Dienst gibt.
    Wentzien: Das ist Brandenburg ...
    Jahn: Speziell in die Polizei.
    Wentzien: Aber Sie haben es schon gesagt: Eine Expertenkommission des Parlaments ist jetzt eingesetzt worden, und die soll Vorschläge bis zum Frühjahr 2016 vorlegen. Und noch ein endliches Datum und dann bitte Ihre Antwort, nämlich: Im Jahr 2016 endet Ihre Amtszeit - Sie könnten in die Verlängerung gehen? Aber das sind ja alles Enden - 2019, 2016 -, die man im Blick hat. Und die Expertenkommission wird jetzt arbeiten und schlussendlich im Frühjahr 2016 dann sagen, wo es lang geht.
    Jahn: Da hat gerade an diesem Tag der Deutsche Bundestag ein Zeichen gesetzt, dass jetzt eine Expertenkommission eingesetzt wird, um hier zukünftige Strukturen vorzuschlagen. Und der Deutsche Bundestag wird auf Grundlage dieser Vorschläge dann entscheiden. Wichtig ist doch, dass wir eine Entwicklung haben, eine Entwicklung gerade auch in den Bundesländern, wo eine Gedenkstättenlandschaft entstanden ist, wo viele gesellschaftliche Initiativen aktiv sind. Und dem muss man Rechnung tragen und muss schauen: Wie können die Aufgaben, die jetzt die Stasi-Unterlagen-Behörde erfüllt, wie können die in Zukunft eingebettet sein in diese Aufarbeitungslandschaft?
    "Ich bin immer offen für Verbesserung"
    Wentzien: Nun gibt es ja auch Interessenten von außerhalb, aus Koblenz zum Beispiel, das Bundesarchiv. Das sagt ganz klar: Wir könnten es besser und wir könnten es effektiver und wir könnten es günstiger. Was sagen Sie denen?
    Jahn: Das Bundesarchiv sagt nicht, dass sie es besser können, sondern es ist immer eine Frage der Strukturen. Wir sind ein Archiv des Bundes, ebenso das Bundesarchiv. Und da gilt es natürlich für Politik immer zu schauen: Wie kann das effizient organisiert sein? Wie können zukünftige Strukturen entwickelt werden, um die Stasi-Akten bestmöglich zu verwalten und auch zu nutzen? Und, ich glaube, das ist die Aufgabe auch der Expertenkommission, das genau zu prüfen. Ich bin immer offen für Verbesserung.
    Roland Jahn sitzt an einem Tisch vor einem Mikrofon in einem Studio des Hauptstadtbüro des Deutschlandfunks und lächelt in die Kamera.
    Der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen, Roland Jahn, im Hauptstadtstudio des Deutschlandfunks. (Deutschlandradio/Falk Steiner)
    Wentzien: Sie sind sogar noch mehr, denn Sie haben Vorschläge gemacht. Sie sind selber in die Spur gegangen und haben gesagt, die Behörde sei grundsätzlich offen in Fragen der künftigen Trägerschaft. Die Veränderungen müssten und dürften kein Schlussstrich sein. Und: Weniger Außenstellen seien mehr. Das heißt doch nichts anderes - ich muss das jetzt kurz zusammenfassen und sehr prägnant machen: Der Chef der Behörde ist offen für das Ende der Behörde?
    Jahn: Darum geht es nicht. Es geht um Zukunft, es geht um Weiterentwicklung und es geht um Strukturen, die effizient sind, die auch sicherstellen, dass diese Akten bestmöglich genutzt werden. Wir müssen doch immer auch beachten: Diese Stasi-Akten, das ist auch ein Symbol. Erstmalig in der Welt sind die Akten einer Geheimpolizei den Bürgern zugänglich gemacht worden, in deren Leben die Geheimpolizei eingegriffen hat. Und dieses Symbol gilt es natürlich auch für die Zukunft zu beachten. Zweitens ist natürlich wichtig, dass sichergestellt ist, dass Forschung und Bildung auf Grundlage dieser Akten weitergehen können - und das ist doch das Wichtige. Und drittens haben wir natürlich auch die Akten als ein Mahnmal über das Wirken von Geheimpolizei. Wir sind in aktuellen Debatten von Geheimdiensten. Wir haben Diskussionen über demokratische Kontrolle von Geheimdiensten. Und in dem Sinne ist die Beschäftigung mit der Vergangenheit, mit den Akten der Staatssicherheit etwas, was uns hier und heute auch helfen kann.
    Wentzien: Aber der Vorwurf an Sie lautete ja: Mit Ihrem Papier, mit Ihren Vorschlägen seien Sie quasi in die Vorhand gegangen und Sie hätten damit auch das, was die Behörde ausgezeichnet hat, aufgrund des ja einzigartigen Gesetzes - Sie haben es erwähnt -, die Unabhängigkeit der Behörde preisgegeben. Warum tun Sie das?
    Jahn: Ich denke in die Zukunft. Ich denke in eine Zukunft, die uns auch ermöglicht aufzuarbeiten, nicht nur fixiert auf Staatssicherheit. Das ist halt das Wichtige, dass wir das System insgesamt betrachten, dass wir uns beschäftigen mit SED-Diktatur insgesamt, dass wir uns beschäftigen mit DDR, mit den Herrschaftsmechanismen, die dort gewirkt haben, die es möglich gemacht haben, dass auch diese Diktatur so lange existiert hat. Und dabei ist wichtig, dass wir diese Akten zur Verfügung stellen, langfristig bestmögliche Struktur zur Verwaltung der Akten, bestmögliche Strukturen zur Nutzung der Akten und bestmöglich Strukturen zur Aufarbeitung dieser Akten. Und in dem Sinne glaube ich, ist eine Offenheit ganz, ganz wichtig. Und es liegt jetzt in der Hand der Expertenkommission, diese Vorschläge zu erarbeiten, die dann der Bundestag begutachten wird und auch zu einer Entscheidung kommen wird.
    Bestmögliche Strukturen für bestmögliche Aufarbeitung
    Wentzien: Das ist ja das, was man der Behörde nicht vorgeworfen hat, aber was in ihren Genen seit Beginn steht, nämlich dass sie sich erst mal um die Akten kümmert. Die SED steht in den Genen nicht drin. Und um die SED haben sich ganz, ganz viele, sagen wir mal, Partner der Aufarbeitung gekümmert. Sind das Ihre Konkurrenten? Und wollen die nicht, dass Sie auch auf dem Acker zugange sind?
    Jahn: Nein, im Gegenteil. Es geht ja darum, die Akten bestmöglich zur Verfügung zu stellen. Und das Stasi-Unterlagengesetz benennt das ja auch. Es geht in dem Unterlagengesetz um die Herrschaftsmechanismen bezogen auf die Nutzer der Akten, die die Möglichkeit haben, das zu betrachten. Und das gilt es weiter zu sichern, auch für die Zukunft. Und die Frage ist doch die: Was sind die Aufgaben, die wir jetzt haben? Und wie können die in der Zukunft eine Rolle spielen und sollen sie eine Rolle spielen? Und das gilt es jetzt zu betrachte. Wir haben einmal die Nutzung der Akten für die persönliche Akteneinsicht - das soll weitergehen. Wir haben die Möglichkeit, für die nahen Angehörigen von Verstorbenen, dass die hineinschauen, als sei es die nächste Generation - das soll weiter gehen. Wir haben die Akteneinsicht für Forscher und Medien - das soll weiter gehen. Und wir haben natürlich auch die Angebote, die wir jetzt in der Behörde haben, zur Unterstützung der Bildung. Und das ist etwas, wo natürlich geprüft wird: Wie ist das bestmöglich organisierbar? Ist es gut, wenn wir gemeinsam mit anderen das machen oder dass andere diese Trägerschaft übernehmen?
    Wentzien: Ist das alles so partnerschaftlich, wie Sie es schildern? Oder ist da schon eine Konkurrenz draußen im Aufarbeitungsfeld?
    Jahn: Das ist immer beides. Das ist partnerschaftlich, aber es ist natürlich auch eine Konkurrenz. Aber das ist ja so, dass natürlich jeder bestmöglich sich einbringen will. Aber entscheidend ist doch, dass wir hier Sorge tragen müssen, dass es auch um Effizienz geht, um das Nutzen von Steuergeldern. Und da müssen bestmögliche Strukturen geschaffen werden, um bestmögliche Aufarbeitung zu leisten.
    Wentzien: Was sagen die 1.600 Mitarbeiter ihrem Chef, wenn er von "bestmöglicher Effizienz" spricht, die vielleicht versteckt darin noch nicht vorhanden ist?
    Jahn: Ich denke, dass es wichtig ist, dass die Kompetenz und das Wissen dieser Mitarbeiter genutzt wird, auch für die Zukunft. Und da gilt es halt zu schauen: Wie kann dieses Wissen und die Kompetenz in welchen Strukturen genutzt werden? Und gerade im Bereich Forschung meinetwegen, da ist es wichtig, dass das, was da erarbeitet worden ist in den letzten über 20 Jahren, auch weiter genutzt wird, dass das nicht verloren geht. Oder auch gerade beim Zugang der Akten. Das ist ein besonderes Aktenmaterial. Da ist eine Erfahrung entstanden in über 20 Jahren, gerade darin, den Spagat zwischen Transparenz des staatlichen Handelns herzustellen und Datenschutz für die Betroffenen. Das sind Erfahrungen, die kein anderer hat. Und die gilt es weiter zu nutzen. Und dann ist es eine Frage des Türschildes, in welchen Strukturen das weiter genutzt wird. Entscheidend ist doch, dass es weiter geht.
    Wentzien: Aber hinterm Türschild "Bundesarchiv Koblenz, Lichterfelde" - da gibt es ja auch noch Außenstellen - steckt diese Kompetenz nicht - das sagen Sie ja damit -, sondern die gibt es nur bei Ihnen im Haus?
    Jahn: Die Kollegen des Bundesarchives machen das immer wieder deutlich, dass sie eine Hochachtung haben vor der Arbeit gerade in diesem Bereich, gerade im sorgsamen Umgang mit diesem besonderen Geheimdienstmaterial. Und ich glaube, wir haben ja eine gute Zusammenarbeit. Wir haben ja auch ganz konkrete praktische Zusammenarbeit mit dem Bundesarchiv. Und ich glaube, auch für die Zukunft wird das eine Rolle spielen. Und dann ist die Frage, ob man das unter einem Dach hat oder ob man das getrennt noch hat, eine Frage auch von effizienten Strukturen und auch der Beachtung natürlich der Symbolik dieses Stasi-Unterlagen-Archives. Denn diese Symbolik als Mahnmal, das muss man mit beachten.
    Erfahrung teilen mit anderen Ländern
    Wentzien: Das klingt nach Kooperation - das ist nicht ausgeschlossen?
    Jahn: Selbstverständlich kooperieren wir jetzt schon. Wir werden gerade auch im nächsten Monat eine Datenbank gemeinsam eröffnen, wo wir die Recherche für Wissenschaftler, für Journalisten erleichtern, wo es möglich sein wird, dass in den Beständen, die zur DDR angelegt sind, sowohl im Bundesarchiv, sowohl in der Stiftung Archiv der Parteien und der Massenorganisationen in der DDR, die auch unter dem Dach des Bundesarchivs sind, als auch im Stasi-Unterlagen-Archiv gemeinsam in einer Datenbank recherchiert werden kann. Und das zeigt, was bei uns im Mittelpunkt steht, nämlich der Nutzer der Akten.
    Wentzien: Herr Jahn, als Sie im März 2011 Ihren Posten angetreten haben, haben Sie gesagt: "Es ist eine Erfolgsgeschichte, wie in Deutschland in den letzten 20 Jahren unter Leitung von Joachim Gauck und Marianne Birthler" - Ihren beiden Vorgängern - "die Tätigkeit des Staatssicherheitsdienstes aufgearbeitet wurde". Das deutsche Modell für den Umgang mit dem Erbe der Geheimpolizei ist inzwischen zum Exportschlager geworden. Selbst in Ägypten gibt es jetzt Wünsche zur Aufbauhilfe. Wohin haben Sie das Gesetz noch exportiert?
    Jahn: Also es ist ja nicht so, dass wir da was exportieren und den Leuten sagen, wie sie es in ihren Ländern machen sollen, sondern wir teilen Ihnen unsere Erfahrungen mit. Und das geschieht ganz konkret. Wir haben sehr, sehr viele Besucher, die zu uns kommen. Nicht nur aus dem arabischen Raum, sondern weltweit, selbst aus Diktaturen wie Weißrussland oder China kommen Menschen zu uns und informieren sich über das, was wir an Arbeit hier leisten. Und ich glaube, das ist auch etwas - gerade diese internationale Anerkennung der Arbeit, die hier in den letzten über 20 Jahren geleistet worden ist -, was wir beachten sollten, wenn wir über Zukunft reden. Und es ist auch ganz konkret oft, dass zum Beispiel die Nationalversammlung Tunesiens bei uns war und sich informiert hat ganz konkret, wie die Gesetzestexte geschrieben worden sind, wie es halt möglich ist, dass man Transparenz von staatlichem Handeln und Datenschutz der Betroffenen gleichzeitig herstellen kann.
    Wentzien: Hat man in diesen Ländern - Ägypten, Tunesien, Weißrussland - schon Teile übernommen oder praktiziert man etwas Ähnliches? Wissen Sie da etwas von Folgewirkungen?
    Jahn: Ja, wir haben halt die Erfahrungen, dass dann in die Diskussionen in den Ländern unsere Erfahrungen mit einfließen. Und die tunesische Nationalversammlung ist halt ein Beispiel dafür, wo es ganz konkret in die Gesetzestexte gegangen ist. Aber eine Botschaft, die ich diesen Menschen immer mitgebe, ist etwa, dass die Akten erst einmal gesichert werden, dass es wichtig ist, dass hier unabhängige Institutionen entstehen, die sicherstellen, dass die Akten nicht vernichtet werden.
    Wentzien: Und Sie sagen - auch in unserem Interview: "Der Ort ist entscheidend, der Ort wo die Akten liegen. Dieses Material darf nicht in einem anderen Archiv versteckt werden. Es ist wichtig, die Akten an den Orten Ihrer Entstehung zu haben. Das Stasi-Archiv ist eine Beute der friedlichen Revolution und zugleich ein Mahnmal. Die Dokumente zeigen, wohin es führen kann, wenn ein Geheimdienst keiner Kontrolle unterliegt." Das, lieber Herr Jahn, klingt nicht nur historisch und zurückgewandt, sondern auch sehr nach vorne gewandt, wenn wir die gegenwärtige Gemengelage uns anschauen in Zeiten von Big Data, eines amerikanischen Geheimdienstes NSA. Was sagen Sie, brauchen wir irgendwann einmal mit der Erfahrung, die Sie gerade beschrieben haben, auch in Amerika eine NSA-Unterlagen-Behörde mit einem Gesetz, das besseres Verständnis, bessere Kontrolle und vielleicht auch für diejenigen, die abgeschöpft wurden, bessere Informationen beinhaltet?
    Jahn: Diese Akten der Geheimpolizei Staatssicherheit sind ein Mahnmal. Ein Mahnmal für uns alle hier in der Demokratie Sorge zu tragen, dass Geheimdienste nicht außer Kontrolle geraten. Und der Blick in die Vergangenheit schärft uns die Sinne, damit wir merken, wann Freiheit in Gefahr ist. Und es ist ja ein ständiger Prozess, der hier in der Politik auch stattfindet, in dieser Gesellschaft stattfindet: Wie viel Freiheit darf man einschränken, um Freiheit zu schützen? Und da, glaube ich, können uns auch die Akten der Staatssicherheit sehr helfen.
    "Nicht irgendwie in Panik verfallen"
    Wentzien: Sehen Sie, wenn Sie auf NSA und die Wirkmächtigkeit schauen, eine Gefahr für die Demokratie?
    Jahn: Wir alle sind besorgt, wenn wir die Informationen in den Medien zur Kenntnis bekommen. Wir alle sind besorgt, dass es doch sehr, sehr schwierig ist für die Politik, hier Regeln zu finden, die sicherstellen, dass nicht in die Grundrechte von Menschen willkürlich eingegriffen wird, dass sie verletzt werden. Und deswegen müssen wir alle gemeinsam Sorge tragen, aus der Erfahrung auch der Vergangenheit zu lernen.
    Wentzien: Wie hat Roland Jahn, der Bürgerrechtler, reagiert, als er die ersten Meldungen hörte von diesem Ausmaß an Registrierung, Kontrolle und vielleicht ja auch nicht mehr nur Politikkontrolle, die an dieser Stelle gegeben ist - in Amerika, in Großbritannien und wo anders? Wie haben Sie reagiert, als Sie das hörten?
    Jahn: Natürlich einerseits besorgt, aber auch andererseits versucht, es auch konkret zu betrachten und nicht irgendwie in Panik zu verfallen. Das ist ja das Wichtige, dass wir das so betrachten, dass wir genau hinschauen. Und das haben wir auch gelernt aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit, es uns nicht einfach zu machen, uns von einzelnen Schlagzahlen steuern zu lassen, sondern wirklich genau hinzuschauen. Gerade auch die Gleichsetzung von Staatssicherheit und NSA ist etwas, was ich ablehne, was uns einfach auch in der Beschäftigung mit der Vergangenheit deutlich wird. Man kann das nicht gleichsetzen. Die Staatssicherheit ist eine Geheimpolizei gewesen, die dazu da war, die Macht einer Partei zu stützen und sicherzustellen. Die Arbeit eines Geheimdienstes einer Demokratie hat den Auftrag, Freiheit und Menschenrechte zu schützen. Und das ist der prinzipielle Unterschied. Und wenn das sozusagen aus dem Ruder läuft in einer Demokratie, müssen die Instrumente der Demokratie genutzt werden, um das zu korrigieren.
    Wentzien: Also die Bundesregierung hat alles andere als panisch reagiert, sie hat einen Sommer und ein gutes Jahr danach gebraucht, um dann schnell eindeutig und energisch zu sein. Reicht Ihnen das als Reaktion? Oder hätten Sie da ein bisschen ein größeres Tempo, eine größere Wucht erwartet? Eine doppelte Frage - also an den Bundesbeauftragten und an den Bürgerrechtler.
    Jahn: Also ich denke, dass es wirklich wichtig ist, immer genau hinzuschauen. Und natürlich, eine kritische Begleitung von Politik ist in allen Belangen notwendig. Aber man muss auch genau hinschauen: Was ist möglich und wer ist für was verantwortlich? Und deswegen kann ich nur sagen: Wir alle gemeinsam müssen Sorge tragen, dass hier durchaus der Bürger geschützt wird, dass wir Veränderungen in der Gesellschaft herbeiführen, die sicherstellen, dass die Geheimdienste halt nicht in Grundrechte von Menschen willkürlich eingreifen.
    Wentzien: Wenn Sie "unter uns" - wir sind ja unter uns - mit der Kanzlerin jetzt zu diesem Thema sprechen könnten, was würden Sie ihr für drei zentrale Sätze mitgeben aufgrund Ihrer Erfahrung mit Geheimdienstpraxen für die gegenwärtige aktuelle Politik und die Gefahren, die wir schon beschrieben haben? Drei Sätze.
    Jahn: Der erste Satz ist: Bitte nicht treiben lassen und gleichsetzen. Keine Gleichsetzung von NSA und Stasi. Der zweite Satz ist: Alle Möglichkeiten der Demokratie nutzen, damit hier eine Kontrolle der Geheimdienste erfolgt. Und der dritte Satz ist: Durchaus auch nicht treiben lassen, sondern ruhig und besonnen handeln.
    Junge Leute haben Interesse an der Stasi-Geschichte
    Wentzien: Sie sind viel im Land unterwegs, Herr Jahn. Sie sind viel auch in Schulen, sprechen mit der jungen Generation. Wie erleben Sie deren Umgang mit Ihrem Thema und mit der deutsch-deutschen Geschichte? Wollen die von Ihnen dazu etwas wissen oder wollen die eher den Bürgerrechtler fragen, wie er es erlebt hat? Wie gehen junge Leute auf Sie zu?
    Jahn: Da ist beides. Wir haben natürlich die Frage immer bei jungen Leuten: Stasi oder DDR, was geht mich das an?! Und gerade in der Diskussion mit jungen Leuten merke ich, dass ein grundsätzliches Interesse da ist für diese Themen. Die interessieren sich für Vergangenheit dann, wenn sie merken, das kann ihnen helfen, Gegenwart zu gestalten und auch gerade sich vor Ungerechtigkeiten zu schützen. Und da ist dann plötzlich ein Interesse da. Sowohl ein Interesse an Biografien: Wie haben die Menschen in der DDR gelebt, wie sind sie zurechtgekommen in der Diktatur und vor allem, wie haben sie es geschafft, diese Diktatur zu überwinden? Zum anderen interessieren sie sich aber auch für Fragestellungen, die ihre eigene Umwelt betreffen. Natürlich, gerade die Diskussion von Datenschutz im Internet, gerade die Diskussion des Wirkens von Geheimdiensten auch in einer Demokratie ist etwas, wo die Diskussionen dann nicht enden wollen. Und die Jugendlichen nutzen schon den Blick in die Vergangenheit, um hier ihre Sinne zu schärfen in der Betrachtung dessen, was hier und heute geschieht.
    Wentzien: Gibt es da eigentlich noch einen Unterschied, wenn Sie jetzt im Westen Deutschlands und im Osten Deutschlands unterwegs sind? Es gab ja mal vor Jahren Studien, unter anderem der Freien Universität Berlin, die gesagt haben: Je weiter weg vom Osten Deutschlands, desto größer ist das Wissen bei jungen Leuten. Gibt es dieses Paradox noch? Erleben Sie das?
    Jahn: Ja und nein. Einerseits gibt es natürlich ja wirklich oft einen nicht festzustellenden Unterschied zwischen Ost und West, gerade, wenn es um gegenwärtige Problemstellungen geht. Da spürt man kaum noch einen Unterschied, da ist das Interesse gleich groß und das Unwissen auch gleich groß. Aber das ist ja immer eine Frage auch der Situation: Welchen Lehrer habe ich? Wie wird in meiner Schule das vorangetrieben, die Beschäftigung mit dem Thema? Und da haben wir alles. Wir haben auch oft Jugendliche, die sich sehr gut informiert haben, die sich mit dem Thema beschäftigt haben. Und im Osten ist noch einmal zusätzlich eine Komponente, nämlich: Wie wird das Thema zu Hause behandelt? Und was für ein Interesse ist dann da bei den Jugendlichen, zu wissen: Wie war das bei den Eltern oder wie war das bei den Großeltern? Und je nach dem, wie die Diskussion zu Hause stattfindet, werden dann auch die Frage in der Schule gestellt.
    Wentzien: Sprechen Sie im Westen mit jungen Leuten auch über die Westseite der Stasi-Medaille? Es gab Westarbeit der Staatssicherheit. Sie selber haben es am eigenen Leib erlebt. Sie wurden ausgebürgert, Sie wurden geknebelt, Sie waren in der Bundesrepublik und Sie haben aus Ihren Akten heraus identifizieren können, dass es genügend West-IM-Zuträger gab, die Sie weiter beobachtet haben.
    Jahn: Das Wirken der Staatssicherheit ist eine Sache, die in ganz Deutschland stattgefunden hat. Und die Aufarbeitung der Staatssicherheit, des Wirkens der Staatssicherheit, die Aufarbeitung der SED-Diktatur ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Wir praktizieren das gerade mit unserer Wanderausstellung, wo wir unterwegs sind in den westdeutschen Bundesländern. Wir waren gerade jetzt in Niedersachsen auf der Insel Borkum, wo wir unsere Wanderausstellung präsentiert haben, einerseits deutlich gemacht haben, wie die Stasi dort auch in Borkum aktiv war oder auf der Nordsee zum Beispiel Richtfunkstrecken der NATO abgehört hat, auf Borkum in Flüchtlingslagern versucht hat, Politik zu machen. Das ist gerade auch dort vor Ort sehr, sehr interessant. Und dann geht es natürlich um grundsätzliche Fragestellungen. Grundsätzliche Fragestellungen, die damit zu tun haben: Wie kann ich mich schützen vor Datenmissbrauch? Oder auch die Fragestellungen, die im Alltag eine Rolle spielen: Wann passe ich mich an oder wann widerspreche ich? Wo zeige ich Zivilcourage, um Ungerechtigkeiten nicht gesehen zu lassen oder auch das Bemühen, Gesellschaft zu verändern?
    "Stasi-Aktien spielen auch in Zukunft eine große Rolle"
    Wentzien: Bleiben wir noch mal bei der West-IM-Geschichte, die es gegeben hat. Wird der Westen genügend darauf aufmerksam gemacht? Und beschäftigt er sich genügend damit? Oder wird das ein bisschen weggedrückt?
    Jahn: Da wird eigentlich nichts weggedrückt. Natürlich gibt es immer wieder Leute, die wegdrücken wollen. Aber gerade mit unserer Arbeit machen wir deutlich, dass es nicht weggedrückt werden kann. Es ist eine gesamtdeutsche Angelegenheit. Wir haben gerade letztes Jahr ein Gutachten für den Deutschen Bundestag gefertigt über das Einwirken der Staatssicherheit in Richtung des Deutschen Bundestages. Dort ist klar analysiert worden, wie die Stasi versucht hat, Politik zu machen. Wie sie einerseits Bundesbürger angeworben hat und eingesetzt hat, um Informationen zu beschaffen, aber ganz konkret auch, um Politik mit zu beeinflussen.
    Wentzien: Dann bleibt mir bitte zum Schluss noch die Frage: In 25 Jahren - schauen wir mal so ein bisschen geradeaus -, Herr Jahn, wo sind die Akten dann? Und wer kann hineinschauen?
    Jahn: Also ich denke, die Akten dieser Geheimpolizei spielen auch in Zukunft eine große Rolle. Und Aufklärung ist eine Säule dieser Demokratie. Und Aufklärung hat kein Ende. Aufklärung hat kein Verfallsdatum. Und deswegen wird es immer weiter gehen. Die Frage ist doch: In welchen Strukturen können wir langfristig diese Akten zugänglich halten? Und darüber wird es nächstes Jahr und dieses Jahr schon eine Diskussion geben in einer Expertenkommission, auch im Deutschen Bundestag, und wir alle könne uns daran beteiligen. Entscheidend ist doch, dass die Akten offenbleiben und dass Forschung und Bildung und die Nutzung der Akten weiter gehen.
    Wentzien: Ich habe die Debatte beobachtet, zur Einsetzung der Kommission. Es gab sehr viel Lob, sehr viel Achtung vor Ihrem Tun, vor Ihrer Arbeit und natürlich der Arbeit der Vorgänger Joachim Gauck und Marianne Birthler, und immer wieder schwenkte die Kamera zu Ihnen hoch auf die Tribüne des Bundestages - Sie haben zugehört. Und, Herr Jahn, links und rechts von Ihnen war viel Platz, Sie saßen da so ein bisschen einsam - trügt dieser Eindruck?
    Jahn: Der Eindruck trügt. Hinter mir saß eine große Gruppe Jugendlicher, die im Bundestag sich informiert haben, wie Politik gestaltet wird im Parlament. Und ich denke, das mag ein Zufallsbild gewesen sein, dass ich da in der ersten Reihe allein saß. Aber wichtig ist doch für uns insgesamt: Welche Rolle spielt Aufarbeitung der Vergangenheit? Und ich glaube, da hat gerade an diesem Tag der Deutsche Bundestag ein Zeichen gesetzt. Ein Zeichen gesetzt: Die Aufarbeitung geht weiter, wir beschäftigen uns mit der Vergangenheit, damit wir Gegenwart und Zukunft gestalten können.
    Wentzien: Vielen Dank.
    Jahn: Bitte schön.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.