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Sachbücher
Die "Spiegel"-Bestsellerliste im September

Zeit für den literarischen Menschenversuch im Deutschlandfunk: Was geschieht mit einem Gehirn, das Monat für Monat abwechselnd die zehn in Deutschland meistverkauften Romane und Sachbücher von der ersten bis zur letzten Seite tatsächlich liest?

Von Denis Scheck | 04.09.2015
    Dieses Gehirn beschäftigt ein Gedankenspiel: könnte es nicht sein, dass so wie auf der Seitensprung-Website "Ashley Madison" hinter den allermeisten weiblichen Benutzerprofilen Bots standen, auch hinter den meisten synthetischen Bestsellern längst nur seelenlose Computerprogramme stecken? Dass also statt Hape Kerkeling und Dalai Lama Algorhythmen Texte generieren? Was aber, wenn vielleicht auch das Rezensentengehirn längst durch ein Computerprogramm ersetzt ist? Höchste Zeit, dass da mal einer den Stecker zieht!
    Die aktuelle Spiegel-Bestseller-Liste Sachbuch.
    Diesmal mit Elaboraten griechischer, tibetischer und australischer und Evangelimans, einem Bericht über einen Ausflug ins Paradies auf Erden des Islamischen Staates, einem Buch über eine Beziehung zwischen Mensch und Habicht, Kindheitserinnerungen eines Unterhaltungsfachmanns sowie - o la la - einer Anleitung, wie man die Pariserin in sich entdeckt.
    HALALI
    In diesem Monat bringen die zehn meistgelesenen Romane der Deutschen luftige 3.074 Gramm auf die Waage: zusammen 2.341 Seiten.
    Platz 10. Yanis Varoufakis: "Time for Change" (Deutsch von Birgit Hildebrand. 184 Seiten, 17,90)
    Dieses Buch arbeitet mit denselben Strategien des Pop und des Guerilla Branding, mit denen Yanis Varoufakis zu einer Ikone der Linken weltweit geworden ist. Zunächst überrascht die leicht lesbare, auf dem Niveau eines Kinderbuchs gehaltene Einführung in die Ökonomie, die selten Karl Marx, häufig aber das Universum der Populärkultur von Star Trek bis Matrix zitiert. Dann aber kippt diese Erklärstunde in eine erstaunlich verbohrte und paranoide Weltsicht geoffenbarter Wahrheiten, die in dem Satz gipfelt, dass "derjenige, der diese Wahrheit sieht und ausspricht, gnadenlos von der Gesellschaft bestraft wird, die es nicht erträgt, sich selbst im Spiegel der Logik und des kritischen Denkens ins Auge zu sehen."
    Am Ende ging mir der Doppelsinn des Titel "Time for Change" auf: der Autor meint damit das Kleingeld, das er seiner Leserschaft mit dieser Broschur aus der Tasche zu ziehen gedenkt.
    Platz 9. Ajan Brahm: "Die Kuh, die weinte" (Deutch von Martina Kempf, Lotos, 2.239 Seiten,15,99 Euro)
    Es mag an meiner religiösen Unempfänglichkeit liegen, aber diese moralische Lehrstückchen aus dem Leben eines buddhistischen Mönchs über im Garten vergessenes Werkzeug oder das Schwimmen mit dem Strom finde ich wahnsinnig läppisch. Ein schlichter Zettel mit dem Kategorischen Imperativ Immanuel Kants wiegt Wagenladungen solcher Druckwerke auf.
    Platz 8. Hape Kerkeling: "Der Junge muss an die frische Luft" (Piper, 320 Seiten, 19,99 Euro)
    Warum bleibt diese Kindheitsgeschichte eines der größten Entertainer unseres Landes im bräsig Anekdotenhaften stecken, obwohl im Mittelpunkt der Suizid seiner Mutter steht? Weil Hape Kerkeling an keiner Stelle ein kritisches Verhältnis zu sich selbst entwickelt und just jene "unterhaltsame Autobiographie eines schillernden deutschen Showstars" schreibt, die er im letzten Kapitel negiert.
    Platz 7. Helen Macdonald: H wie Habicht (Deutsch von Ulricke Kretscher, Ullstein, 416 Seiten, 20 Euro)
    Ein Bildungsroman über eine Frau und einen Vogel, ein Buch darüber, wie die Natur dem Menschen beim Trauern hilft, eine beobachtungsscharfe und gedankenreiche Meditation über die Wildnis in uns: sicher das ungewöhnlichste und stärkste Buch, das sich seit langem auf eine deutsche Bestsellerliste verirrte.
    Platz 6. Wilhelm Schmid: "Gelassenheit" (Suhrkamp, 118 Seiten, 8 Euro)
    Ein überaus einleuchtender Essay darüber, was angesichts des für uns alle nach wie vor unausweichlichen Todes beim Älterwerden hilfreich ist.
    Platz 5. Jürgen Todenhöfer: "Inside IS" (C. Bertelsmann, 288 Seiten, 17,99 Euro)
    Eine zehntägige Reise durch das vom Islamischen Staat kontrollierte Territorium erfordert große Tapferkeit. Diese muss man Jürgen Todenhöfer bescheinigen, ebenso wie sein schon als CDU-Politiker und späterer Burda-Manager bewiesenes Talent zur Selbstinszenierung. Weil Todenhöfer eindrücklich Dummheit und Brutalität des IS schildert, ohne dabei "westliche Ungerechtkeiten und Anmaßungen" zu vergessen, und am Ende konstatiert, "nur einen Anitislamischen Staat" kennengelernt zu haben, ist sein Buch eine lohnende Lektüre.
    Platz 4. Anne Berest, Caroline de Maigret, Audrey Diwan und Sophie Mas: "How to be Parisian wherever you are" (Deutsch von Carolin Müller, btb Verlag, 272 Seiten 14,99 Euro)
    Kleidungs-, Flirt- und Ernährungstips von vier Pariserinnen. Doch Vorsicht, ein Spritzer Parfum zu viel und und das Buch verwandelt sich in den Ratgeber: "How to be a Trampel whereever you are".
    Platz 3. Ajan Brahm: Der Elefant, der das Glück vergaß (Deutsch von Karin Weingart, Lotos Verlag, 240 Seiten, 16,99 Euro)
    Noch mehr esoterische Gschichteln über Wasserbüffel, Sechsjährige, die ihr Zuhause verlassen und Geistererscheinungen thailändischer Könige. Das spirituelle Pendant zu Junk Food.
    Platz 2. Peter Wohlleben: "Das geheime Leben der Bäume" (Ludwig Verlag, 224 Seiten, 19,90 Euro)
    Ein studierter Forstwirt klärt auf über die Sprache der Bäume, Neubürger im Wald, den Altersrassismus in unseren Nutzwäldern und die Schattenseiten industrieller Massenbaumhaltung. Ein eindrucksvolles Beispiel jener unprätentiösen Sorte Sachbuch, die daran erinnert, warum es kein besseres Medium für den Transfer von Wissen gibt als das Buch.
    Platz 1 der aktuellen Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch
    Dalai Lama, Franz Alt: "Der Appell des Dalai Lama an die Welt" (Benevento Verlag, 56 Seiten, 4,99 Euro)
    Keine Frage, der Dalai Lama hat mit diesem beherzigenswerten Plädoyer für mehr Ethik und weniger Religion in der Sache recht.
    "Seit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant… Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen", so der Dalai Lama im Vorwort auf Seite 9. Aber was antwortet der Dalai Lama dann auf Seite 15 dieses Interviewbüchleins auf Franz Alts erste Frage? Erraten:
    "Seit Jahrtausenden wird Gewalt im Namen von Religionen eingesetzt und gerechtfertigt. Religionen waren und sind oft intolerant. Deshalb sage ich, dass wir im 21. Jahrhundert eine neue Ethik jenseits aller Religionen brauchen."
    So sind Redundanz und Religion eben mitunter schwer unterscheidbar.