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Sahra Wagenknecht
"Europa ist wesentlich unsozialer und brutaler geworden"

Nach dem britischen Votum für einen Brexit hat die Linken-Fraktionsvorsitzende im Bundestag, Sahra Wagenknecht, ein sozialeres Europa angemahnt. Gerade Regionen mit einer hohen Arbeitslosigkeit hätten für den Austritt aus der EU gestimmt, sagte sie im DLF. Der Sozialstaat dürfe nicht weiter zerstört, sondern müsse wiederhergestellt werden.

Sahra Wagenknecht im Gespräch mit Jasper Barenberg | 25.06.2016
    Die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht.
    Die Fraktionsvorsitzende der Linken im Bundestag, Sahra Wagenknecht. (Imago / Metodi Popow)
    Die Linken-Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht erklärte, die EU müsse sich jetzt fragen, warum sie Vertrauen verspielt habe. Es sei viel zu einfach, dem britischen Premier David Cameron oder den konservativen Torries die Schuld zu geben, weil sie eine falsche Kampagne für den Verbleib Großbritanniens in der EU gefahren hätten, sagte sie. "In anderen Mitgliedstaaten gibt es ähnliche Stimmungen." Das Votum gehe vor allem auf jene zurück, die seit Jahren viel zu kurz gekommen seien. Das Ergebnis habe mit einer schrumpfenden Mittelschicht und dem Abbau des Sozialstaats zu tun.
    Ein "Wegreden der Krise" sei dann jener Punkt, der die Menschen am Ende gegen die EU aufbringe. "Das einzige sinnvolle Modell kann ein soziales Europa sein." Wagenknecht betonte, dass die Europäische Integration ursprünglich ein soziales Projekt gewesen sei, das Wohlstand für alle bringen sollte. "Das ist völlig aufgegeben worden." Stattdessen mache die EU massiv Druck auf Staaten, Defizite abzubauen. Große Unternehmen würden dagegen nicht angemessen besteuert. "Europa ist wesentlich unsozialer und brutaler geworden."
    Darüber hinaus empfänden viele Leute Brüssel als eine demokratieferne Zone. Die EU werde als eine "Lobbykratie" gesehen, in der große Konzerne das Sagen und kleine Unternehmer und Bürger quasi keine Stimme hätten.

    Das Interview in voller Länge:
    Und mitgehört hat Sahra Wagenknecht, die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag. Schönen guten Morgen, Frau Wagenknecht!
    Sahra Wagenknecht: Guten Morgen!
    Barenberg: Wir haben ja gerade gesprochen über Großbritannien als eine Kraft innerhalb der EU, die sich für Marktwirtschaft eingesetzt hat, für Marktwirtschaft gekämpft hat, für Wettbewerb, für die Begrenzung von Aufgaben, also vieles, was Sie von der Linkspartei ja politisch bekämpfen. Sind Sie im Grunde froh, dass die Briten jetzt die EU verlassen?
    Wagenknecht: Nein, darum geht es nicht, dass ich irgendwie darüber froh sein sollte. Ich finde nur, dass die EU sich tatsächlich jetzt fragen muss, warum sie in diesem Grade Vertrauen verspielt hat, und da finde ich es viel zu einfach zu sagen, also da ist Cameron schuld oder da sind die Torys schuld, weil sie eine falsche Kampagne gefahren haben.
    Wir sehen ja in vielen anderen Mitgliedstaaten der EU, dass es eine ähnliche Stimmung gibt. Wenn man sich das Votum genauer anguckt, ist ja auch interessant, dass es vor allem die schlechter Gestellten waren, also die Ärmeren, vor allem die in den Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit, die für den Austritt gestimmt haben. Also es gibt ja nicht nur eine Altersdiskrepanz, also dass die Jüngeren eher dafür waren und die Älteren eher dagegen, jetzt in der EU zu bleiben, sondern es gibt ja auch eine ganz klare soziale Diskrepanz.
    Also es war natürlich auch ein Votum derer, die seit Jahren viel zu kurz gekommen sind, deren Wohlstand kaputt gegangen ist, und das hat natürlich was mit einer schrumpfenden Mittelschicht zu tun, die wir ja auch in anderen EU-Ländern haben. Genau das ist die Folge dieser Politik, die immer nur auf Sparen setzt, die soziale Leistungen abbaut, den Sozialstaat zerstört. Da ist sicherlich Großbritannien ein wichtiger Faktor in der EU, aber gerade Deutschland hat diese Politik immer vertreten und sollte jetzt doch irgendwann anfangen, darüber nachzudenken, also die deutsche Regierung, ob das so weitergehen kann.
    "Das ist eine handfeste Krise"
    Barenberg: Die Politik hat immerhin dazu geführt, dass, sagen wir, Irland aus der Krise wieder gut herausgefunden hat, dass Deutschland wirtschaftlich glänzend dasteht und beispielsweise auch Spanien, bei allen Schwierigkeiten ein Wachstum von drei Prozent hat. Davon wollen Sie sich verabschieden von dieser Politik?
    Wagenknecht: Ja, also der Verweis auf Irland, das sind ja wirklich völlig auf Sand gebaute Illusionen. Also Irland ist ein Sonderfall, die sind aus der Krise vor allem deswegen rausgekommen, weil sie in extremer Weise Steuersparmodelle für große Konzerne anbieten. Sie müssen sich mal die Leistungsbilanz von Irland angucken. Also die haben eine höhere Exportquote als im Grunde das Bruttoinlandsprodukt ausmacht. Das heißt, das sind natürlich fiktive Buchungen, und in Spanien, in Portugal, da sehen, wie die Jugendarbeitslosigkeit auf einem unglaublich hohen Niveau stagniert, wie wir eine Dauerarbeitslosigkeit haben und einen Exodus von hoch qualifizierten jungen Leuten, also gerade die Volkswirtschaften in der Peripherie haben ja wirklich jetzt seit Jahren einen Aderlass. Das zeigt natürlich, dass sie auch nicht auf die Beine kommen.
    Auch wenn man sich die Investitionsquoten anguckt, das ist eine handfeste Krise, und das Wegreden dieser Krise, das Ignorieren dieser Krise, das ist genau das, was die Leute am Ende auch gegen die EU aufbringt.
    "Ein Europa, das Sozialstaaten nicht zerstört, sondern wiederherstellt"
    Barenberg: Ich versuche nur rauszufinden, welchen Weg Sie einschlagen wollen. Nehmen wir das Beispiel Frankreich mit einer sozialistischen Regierung in einer wirtschaftlich desolaten Lage, mit einer hohen Arbeitslosigkeit, erdrückenden Schulden und der Unfähigkeit, überhaupt kleine Reformen zu initiieren, damit es wirtschaftlich etwas bergauf geht. Ist das Ihr Vorbild für ganz Europa?
    Wagenknecht: Nein, das, was Frankreich zurzeit macht, ist ja im Grunde die nachholende Wiederholung der deutschen Agenda 2010, also das versucht zumindest Hollande. Die Franzosen wehren sich dagegen, und sie haben völlig recht, dass sie sich dagegen wehren. Das ist kein Modell, sondern das einzig sinnvolle Modell kann doch nur ein soziales Europa sein, also ein Europa, wo die Kontraste nicht immer weiter auseinanderklaffen, wo es nicht eine immer weiter wachsende Ungleichheit gibt. Das heißt, ein Europa, das Sozialstaaten nicht zerstört, sondern wiederherstellt. Ich meine, das war ja mal der ursprüngliche Anlass. Also es ist ja mal von einem europäischen Sozialmodell die Rede gewesen, als damals die europäische Integration begann, da war das auch ein soziales Projekt, was sich gegen den angelsächsischen Kapitalismus gewandt hat. Das sollte Menschen Wohlstand für alle bringen. Das war ja auch in Deutschland damals der Anspruch der damaligen, sogar auch der CDU, und das ist doch völlig aufgegeben worden. Wir haben in Europa ja tatsächlich nicht nur eine Mittelschicht, die Abstiegsängste hat, sondern wir haben einen erheblichen Teil dieser Mittelschicht, die abgestiegen ist, und daraus speist sich natürlich ein Potenzial von Ohnmachtsgefühlen, von Wut und damit natürlich auch ein Potenzial, das rechte Parteien, auch nationalistische Parteien ansprechen können. Das sehen wir überall.
    "EU demotiviert Steuerflucht nicht im geringsten"
    Barenberg: Und wir haben, Frau Wagenknecht, über die Europäische Union Mittel für Sozialpolitik, für Regionalpolitik, für Beschäftigungsmaßnahmen und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren mit einem Budget von 308 Milliarden Euro. Wie viel mehr soll da noch drauf kommen, damit es in die Richtung geht, die Sie sich wünschen?
    Wagenknecht: Es geht nicht um das mehr, sondern es geht darum, dass das nicht so eingesetzt wird, wie es nötig ist. Sonst hätten wir ja nicht diese sich verfestigende Arbeitslosigkeit. Wir haben natürlich vor allem eine europäische Union, die immer massiven Druck macht, dass die Staaten ihre Defizite reduzieren, also ihre öffentlichen Haushalte, die Ausgaben kürzen. Wir haben gleichzeitig eine europäische Union, die nichts dafür tut, dass beispielsweise die Besteuerung von wirklich Reichen, also von großen Unternehmen, von großen Vermögen erleichtert wird, weil sie eben auch Steuerflucht und Steuersparmodelle nicht im geringsten irgendwie demotiviert, sondern die einzelnen EU-Staaten sich ja dort auch Konkurrenz machen. Das ist natürlich ein ganz gefährlicher Mix.
    Wagenknecht: Brüssel - eine demokratieferne Zone, eine Lobbykratie
    Wagenknecht: Wir haben auch immer wieder aus der EU natürlich Vorstellungen gehabt, Privatisierungen zu fördern, auch Sozialabbau natürlich unter dem großen Namen dann der Verträge und der Binnenmarktfreiheiten. Also das ist doch nicht ein Weg gewesen, der Europa sozialer gemacht hat. Also niemand kann behaupten, dass dieses Europa in den letzten Jahren sozialer geworden ist. Es ist wesentlich unsozialer geworden, es ist wesentlich brutaler geworden, das Leben ist unsicherer, wir haben sehr viele prekäre Jobs in den einzelnen europäischen Ländern, und das ist natürlich etwas, was die Menschen, also was sie auch als Bedrohung ihres Wohlstands empfinden.
    Oder nehmen Sie ein ganz konkretes Beispiel: Es geht ja jetzt zum Beispiel im Juli darum, ob über die europäische Ebene, vorbei an den nationalen Parlamenten, der CETA-Vertrag, also der Freihandelsvertrag mit Kanada, in Kraft gesetzt wird. Das heißt, das werden ganz bewusst die nationalen Parlamente, wo man weiß, dass es Widerstand gibt, brüskiert, indem die EU-Kommission möglicherweise sagt – also zumindest hat sie das bisher angekündigt, wenn das jetzt nicht überdacht wird –, das ist ein EU-only-Vertrag, und dafür brauchen wir keine Zustimmung in den nationalen Parlamenten.
    Das heißt, die Leute empfinden Brüssel auch als eine demokratieferne Zone, also eine Lobbykratie, wo vor allem große Konzerne das Sagen haben, wo kleine Unternehmen und auch Arbeitnehmer faktisch keine Stimme haben. Das bringt sie gegen diese EU auf. Das ist ja durchaus auch nicht ganz erstaunlich.
    Barenberg: Sagt die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei im Bundestag. Vielen Dank, Sahra Wagenknecht für die Zeit und das Gespräch heute Morgen!
    Wagenknecht: Sehr gerne!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.