Samstag, 11. Mai 2024

Archiv


Schwerpunktthema: Der Kitaplatz als Herausforderung

Ab dem 1. August dieses Jahres haben Eltern von Kindern ab einem Jahr den gesetzlichen Anspruch auf einen öffentlichen Kinderbetreuungsplatz. Das ist ein Meilenstein in der sich vor allem seit den 70er-Jahren stetig ändernden Landschaft der frühen Bildung und Erziehung.

Von Barbara Leitner | 18.07.2013
    Eingewöhnung in einer Kita. Einige Wochen bereits besucht ein 14 Monate altes Mädchen gemeinsam mit seiner Mutter die Kindergruppe. Die Mutter geht aus den Raum und überlässt ihre Tochter nun der Erzieherin. Alle drei üben, wie es demnächst sein wird, wenn die Mutter wieder arbeiten geht.

    "Was uns da immer wieder auffällt, ist, dass so ein Aufbau einer Beziehung zu einem fremden Menschen, nachdem das Kind von einer Mutter getrennt wird, dass das einen ungeheuren psychischen Aufwand bedeutet für so ein Kind."

    Liselotte Ahnert ist Professorin für Entwicklungspsychologie an der Universität Wien. Seit mehr als 30 Jahren forscht sie über über Bindung, Stress und Verhaltensanpassung in der frühen Kindheit. Sie weiß, was einem einjährigen Kind bei solch einem Übergang abverlangt wird. Gerade hat sich das Baby an Mutter, Vater und andere Familienmitglieder gebunden. Es hat gelernt, deren Zeichen zu lesen, weiß, welche Reaktion es auf sein eigenes Verhalten erwarten kann und beide stimmten ihre Kommunikation aufeinander ab. Dann kommen - ungefähr ab einem Jahr - in der Kita, der Krippe oder Tagespflege neue Personen hinzu und oft ist es eben nicht nur eine.
    "Und da sagen wir klar von unserer Studie, es muss mehr um dyadische Strukturen am Anfang gehen, nicht gleich, dass man das Gefühl hat, man ist in einer Gruppe verloren und man ist einer unter den anderen. Die Bedingungen müssen so sein, dass es zentrale Zeitfenster gibt, wo das Kind das Gefühl hat, hier ist eine Person, mit der kann ich kommunizieren über eine gewisse Zeit, der kann ich meine Bedürfnisse mitteilen und sie hat auch die Möglichkeit zu reagieren, dass das Kind das Vertrauen kriegt, dass es in diesem neuen Kontext, dass da jemand ist, der ähnlich betreut wie die Mutter, ähnlich."

    Für ihre Forschung gehen Liselotte Ahnert und ihr Team dorthin, wo die Kinder sind – in die Familien und die Kitas. Sie videografieren den Alltag und messen den Cortisolspiegel daheim, beim Abschied, beim Spiel. Er verrät, wie gut es den Kindern wirklich in all den Situationen geht - auch wenn sie beispielsweise nicht weinen. Die Forscher sehen: Die Kinder selbst tun viel, um sich zu beruhigen und sich neugierig auf die Umgebung einzulassen. Ist allerdings zu viel oder gar nichts los – und das unterscheidet sich in der Kita nicht von zu Hause – geraten die Kleinsten in Stress. Dringend brauchen sie Hilfe, um sich emotional zu balancieren. Von der Art der Zuwendung, die sie in dem Moment erhalten, ist abhängig, welche Stessmuster die Kinder erwerben.

    "Es ist nicht so, dass ein menschliches Wesen diese internen Regulationsmuster mitbekommt. Das Stesssystem muss sich erst einmal etablieren und dazu braucht es die Außenregulation, sodass sich intern, man spricht auch von Schleifen, dass sie sich zentralnervös da bilden müssen, sodass die internen Schleifen sich erst mal etablieren können, stabilisieren und zum Einsatz kommen."

    Dieses Stresssystem bildet sich in den ersten Lebensjahren. Individuelle Unterschiede sowohl im Verhalten und als auch in der Physiologie bei Stress gehen - oft ein Leben lang - auf frühe Betreuungserfahrungen zurück. In ihren Messungen sehen die Wissenschaftler, dass der Cortisolspiegel als Hinweis auf Stress in der öffentlichen Betreuung höher als zu Hause ist. Allerdings ist der Wert nicht deutlich anders, wenn die Betreuung gut ist. Eine – wie die Wissenschaftler es nennen – reparierende Feinfühligkeit hilft den Jüngsten dann, ihre Welt wieder in Ordnung zu bringen und zu emotionaler Ausgeglichenheit zu finden. Unter diesen Bedingungen lernen und bilden sich die Kinder in Ruhe aus sich selbst heraus – so wie es sich Eltern und Pädagogen wünschen. Bei ihren Untersuchungen in Berlin, Stendal, Köln und jetzt in Wien allerdings erlebt Lieselotte Ahnert oft Kinder unter Stress – zu Hause und in der Kita. Sie zeigen es verschieden.

    "Es gibt Kinder, die ziehen sich völlig zurück und schotten sich ab – sind still, bleiben an ihren Lieblingsobjekten kleben und haben nicht diese Aufgeschlossenheit. Andere Kinder sind übererregt und sind überaktiv, sind eigentlich ganz oberflächlich in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt. Wo man den Eindruck hat, das Kind ist aktiv und aufgeschlossen, aber die eigentlichen Verarbeitungsleitungen, die Denkstrukturen, die wir später sehr gut analysieren können, bleiben sehr oberflächlich. Das geht bis hinein in die Sprachanwendung, wo die Kinder dann, wo Kinder etwas plappern, aber nicht richtig erfassen, worum es geht. Also diese soliden grundlegenden tiefgründigen Gedächtnisstrukturen bleiben auf der Strecke."

    Wie viele Möglichkeiten gibt es zum einen für die Eltern, die beide berufstätig sein wollen oder müssen, auf das Bindungs- und Stressverhalten ihres Kindes Rücksicht zu nehmen? Und wie viele Möglichkeiten haben zum anderen die Erzieherinnen in Kita und Tagespflege, die notwendige reparierende Feinfühligkeit zu geben – in der Regel mit zu vielen Kindern in einer Gruppe, auch bereits bei den Kleinsten?

    "Es geht nicht in erster Linie um die Kinder"
    "Denken Sie daran, dass die große Diskussion um den Ausbau der Kindertageseinrichtungen zunächst einmal unter den Gesichtspunkt der Vereinbarung von Familie und Beruf geführt wurde, dass es dabei um die Umsetzung von europäischen Beschlüssen handelt, die vor allem arbeitsmarktpolitische Bedeutung hatten. Die Kinder kommen eigentlich immer erst hinterher. Wenn man als Forscher an die Realität von Betreuung ran geht, muss man sehen, dass es nicht nur, vielleicht auch nicht in erster Linie um die Kinder geht."

    Michael-Sebastian Honig ist Erziehungswissenschaftler, Kindheitsforscher und Professor für Soziale Arbeit an der Universität Luxemburg. Er verweist darauf, dass Themen der frühen Kindheit gegenwärtig im bildungs- und sozialpolitischen Diskus Konjunktur haben. Kinder sind dabei die Adressaten von pädagogischen Programmen. Diese zielen darauf, die kindliche Entwicklung im Interesse der Erwachsenengesellschaft zu optimieren. Das schlägt sich auch in der Theorie nieder.

    "Man muss zunächst einmal sagen, dass es eine Theorie der Frühpädagogik eigentlich nicht gibt. Was es gibt, ist Forschung und diese Forschung beschäftigt sich beispielsweise damit, wie man Kinder optimal fördern kann."

    Michael-Sebastian Honig hingegen bemüht sich, die Frühpädagogik in eine wissenschaftliche Disziplin zu verwandeln und zunächst den Alltag in einer Kita zu erfassen. Er definiert die Frühpädagogik als eine soziale Praxis, die überhaupt erst dadurch entsteht, dass Kinder bereits früh in eine Einrichtung gehen und dort ihr Leben gestalten. Das hat oft wenig mit der bildungspolitisch gedachten Programmatik zu tun.

    "Was ich in den Blick zu rücken versuche, ist: Wie funktionieren Institutionen, wie funktionieren Organisationen der Erziehung und wie bestimmen sie, was die handelnden Akteure in den Einrichtungen hier Kindergärten und Krippen, was sie tun und was sie wollen."

    In seinem Überlegungen greift Honig auf Siegfried Bernfeld und sein Konzept der Instituetik zurück. 1925 schrieb der Reformpädagoge, Psychoanalytiker und Mitbegründer der modernen Jugendforschung den Artikel "Sisyphos und die Grenzen der Erziehung". Darin erklärt er für die Schule: Nicht zuerst die Pädagogen erziehen einen Schüler, sondern die Schule als Institution, als Ort mit vielfältigen, auch widersprüchlichen Beziehungen. In diesem Sinne nimmt Michael-Sebastian Honig auch die Kita als ein Gehäuse für viele Möglichkeiten wahr. Allerdings dürfen deren Grenzen nicht übersehen werden. Sie liegen zum einen im Entwicklungs- und Reifegrad der Kinder – auch in ihren Stressreaktionen. Zum anderen in den Erwachsenen. Deren Konflikte und Projektionen fließen immer in die Erziehung ein. Gleichzeitig hält es Michael-Sebastian Honig für wichtig, die Unverfügbarkeit der Kinder anzuerkennen.

    "Aus welchen Gründen sind Kinder in Kindertageseinrichtungen? Weil sie erzogen werden wollen? Glaube ich nicht. Sie sind da zum Beispiel da, weil sie Freunde treffen oder weil sie eine gute Beziehung zu der Erzieherin haben oder weil sie keine Wahl haben und die Eltern sie da hin bringen. Das sind alles Hinweise dafür, dass es eine eigene soziale Welt der Kinder gibt, dass es eine Aktivität der Kinder gibt, sich eine eigene Sinnwelt zu erzeugen.

    Das ist ein eigenes Sinnzentrum, das aus der Perspektive der Erzieherin, auch solchen, die dem Kind in seiner Eigenmächtigkeit und Selbstorganisation viel zutrauen, häufig übersehen wird. Ich denke, man muss radikal die soziale Kinderwelt als Gegenüber der pädagogischen Ambitionen denken und sich dann damit beschäftigen und das gehört zum instituetischen Blick. Wie findet diese Auseinandersetzungen von Erzieherinnen und Kinder eigentlich statt? Und welche Wirklichkeit wird in dieser Auseinandersetzung erzeugt? Und dann wäre interessant, welche Rolle pädagogische Programme dabei spielen."

    Mindestens ein Viertel der fast 2,5 Millionen Kinder in Krippe und Kita haben heute ihre kulturellen Wurzeln außerhalb Deutschlands. Zwar profitieren Eltern mit Migrationshintergrund gegenwärtig noch weniger als deutsche Eltern vom Ausbau der Kinderbetreuung für Kinder ab einem Jahr. Doch ab drei Jahren drängen auch Mütter und Väter mit anderen kulturellen Erfahrungen darauf, dass ihre Söhne und Töchter eine Kita besuchen.

    "So drei Jahre muss in die Kita gehen. Kultur von Deutschland. Malen. Ist sehr wichtig. Zu Hause sie macht gar nicht. Vielleicht Fernseher. Spielen. Aber in der Kita mit anderen Kindern spielen – das ist sehr wichtig."

    Maria, Mutter von zwei Kindern, ist in Angola geboren. In der bäuerlich-traditionellen Kultur, der sie entstammt, werden andere Anforderungen an die Entwicklung des Potenzials von Kindern gestellt, als es in der westlich städtischen Mittelschicht üblich ist. Was bedeutet es, wenn Kinder mit einer anderen kulturellen Prägung in Deutschland in die Kita oder Schule gehen? Was bringen sie mit und was wird ihnen abverlangt, um in der neuen Kultur zu bestehen? Mit diesen Fragen beschäftigt sich die Forschungsgruppe "Entwicklung, Lernen und Kultur" der Universität Osnabrück.

    Die Wissenschaftler untersuchen, welche unterschiedliche Vorstellungen Menschen mit verschiedener Herkunft über Entwicklung und Erziehung von Kindern haben. Gerade bei den grundlegenden Bedürfnissen nach Autonomie und Gemeinschaftssinn entdecken sie große Unterschiede.

    "In unserem vertrauten Bild hat Autonomie sehr viel zu tun mit Selbstbestimmung – das Individuum steht im Mittelpunkt, das Recht auf eine Meinung hat und sich in allen Bereichen realisieren soll und entsprechend sind Beziehungen von dieser individuellen Perspektive definiert."

    Heidi Keller ist Professorin für Psychologie an der Universität Osnabrück und leitet die Forschungsgruppe "Kultur, Lernen und Entwicklung". Die vergleicht das Aufwachsen in deutschen Mittelschichtfamilien beispielsweise mit dem Alltag traditioneller Bauern in einem afrikanischen Dorf in Westkamerun.

    "Dort ist Autonomie natürlich auch wichtig, aber nicht in Form von Selbstbestimmung oder wie kann ich mich am besten realisieren oder ausdrücken, sondern wie kann ich am besten meiner Gemeinschaft helfen und dort selbstständig beitragen und das ist ein Konzept, das nennen wir Handlungsautonomie, wo Kinder sehr früh lernen, Pflichten zu übernehmen, auf Geschwister aufzupassen oder im Haushalt zu helfen oder bei der Gartenarbeit zu helfen und das selbstständig und selbstbestimmt tun und bei uns ist es eben wichtig, dass ein Kind seine Bedürfnisse und Gefühle ausdrücken kann. Ob es sich dann die Jacke anziehen kann, ist eine ganz andere Frage. Das ist für uns nicht so wichtig."

    Seit mehr als 20 Jahren forscht Heidi Keller über Entwicklung von Kindern. Die Wissenschaftlerin kritisiert nicht nur, dass ihrer Meinung nach hierzulande Autonomie und individuelle Entwicklung der Persönlichkeit überbetont werden und das soziale Verhalten der Kinder in der Gruppe und für die Gemeinschaft auf der Strecke bleiben. Sie sorgt sich auch darum, dass Familien aus anderen Kulturen an einer Norm gemessen werden, die nicht ihre ist und sich deshalb von den deutschen Institutionen wie Kita und Schule distanzieren. Mit ihrer Forschung will Heidi Keller Brücken schlagen. Mit ihrem Team untersucht sie beispielsweise: Wie wird mit Kindern gesprochen?

    In Kamerun fällt ihnen auf, dass die Erwachsenen viel auf die Kinder einreden und ihnen Anweisungen geben. Dabei wird stets der Bezug zur Gemeinschaft hergestellt. Das Kind lernt, während es zuhört. Es selbst hat wenig Anlässe zum Sprechen. Das bemerken auch Erzieherinnen in den Kitas bei Kindern mit türkischen, arabischen, afrikanischen, asiatischen Wurzeln. Selbst wenn sie bereits etwas Deutsch können, reden sie weniger mit.

    Ganz anders das Verhalten in deutschen Mittelschichtfamilien. Dort wird ein sogenannter elaborierter Gesprächsstil gepflegt. Das Kind wird als gleichwertiger Partner betrachtet. Auf dessen Themen wird eingegangen. Mit vielen W's wird gefragt und genau das hilft, den Wortschatz zu erweitern und zu lernen, kompetent einen Sachverhalt zu schildern. Die Osnabrücker Wissenschaftler kombinieren nun diese beiden verschiedenen Haltungen in ihrem Konzept für eine alltagsbasierte Sprachbildung. Es berücksichtigt vor allem die Situation von scheuen, unsicheren Kindern, die in einer Kita zum ersten Mal allein der deutschen Kultur ausgeliefert sind.

    "Diese Kinder müssen wir erst mal dazu bringen, sich sprachlich zu beteiligen. Und das können wir nicht, wenn wir diese Kinder ständig in den Mittelpunkt rücken, was sie nicht gewohnt sind, und sage mal, was du fühlst und was du denkst und was hast du gesehen und was willst du machen und mit wem willst du spielen. Das verschüchtert die Kinder, wenn sie so in den Mittelpunkt gerückt werden und was macht ein verschüchtertes Kind? Es zieht sich zurück und sagt gar nichts mehr. Also müssen wir sie über ihre Geschwister, ihre Familie, ihre Gemeinschaft ansprechen, dann bringen wir sie auch dazu, etwas zu sagen. Und in dem Moment, wo sie sich beteiligen, kann man auch an der Sprache arbeiten."

    Kinder sitzen beim Frühstück in einer Kindertagesstätte.
    Jedes Kind reagiert anders, wenn es neu in eine Kita kommt. (picture alliance / dpa)
    Die Kinder entfesseln
    "Wer hat die Brote geschmiert?" - "Ich habe es nicht gehört, es ist so laut." - "Julia, wer hat es gemacht?" - "Mama." - "Hat Mama auch für Shan die Brote gemacht? Oder ist der noch krank?"

    Kultur ist eben nicht nur Essen, Kleidung, Gesang und Tanz. Die Kultur bestimmt auch, wie man ein Kind hält, mit ihm spricht, es anregt, fördert, bildet und wie es sich selbst äußert. Darüber vor allem muss der Austausch gepflegt werden, wenn es um Inklusion geht.

    Kinder und auch Kinder mit verschiedenen kulturellen Hintergründen gestalten als Kinder den Alltag in einer Kita, agieren auf eigensinnige Weise miteinander und mit den Erzieherinnen. Oft geht es dabei nicht um die in den Bildungsprogrammen gesetzten Ziele. Die Mädchen und Jungen eigenen sich nicht nur die Erwachsenenwelt an. Sie haben auch bereits in der Kita ihre eigene Peerkultur und verändern durch ihre Ideen und Neuschöpfungen die Erwachsenenwelt. Darum kümmert sich die Forschung zur frühen Kindheit: wie Kinder nach ihren eigenen Regeln in der Kita an der Welt teilhaben. Ein instituetischer, alltagsorientierter Blick hilft, weg von Zielen und Ansprüchen der Erwachsenenwelt viel mehr die Leistungen der Kinder von den ersten Beziehungen bei der Eingewöhnung bis zu ihren eigenen Projekten beim langsamen Übergang zur Schule zu sehen.

    "Es ist sozusagen ein selbst evaluativer Blick, der sich auf die Bedingungen der Möglichkeiten der pädagogischen Praxis richtet und die Frage nach Verhaltensstrategien von Praktikern selbst entwickeln und ausprobieren lässt. Wenn Sie es so wollen, eine Art von Entfesselung."