Archiv

Sondierungspapier
"Kontinuität in kleinen Schritten"

Nach Ansicht von Michael Vassiliadis, Vorsitzender der IG Bergbau, Chemie, Energie, steckt in den Sondierungsergebnissen von Union und SPD "eine ganze Menge drin". Wichtige Leitprojekte der SPD würden vorangetrieben, sagte Vassiliadis im Dlf. Es fehle aber ein großer Zukunftsentwurf.

Michael Vassiliadis im Gespräch mit Tobias Armbrüster |
    Der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie: Michael Vassiliadis
    Im Verhandlungsergebnis seien eine ganze Menge Themen, die für die Gewerkschaften und im Kern auch für die SPD wichtige Leitprojekte waren (imago / IPON)
    Tobias Armbrüster: Im Sondierungspapier, da geht es viel um Arbeitsplätze, um Steuern und natürlich auch um Geld. Wie sieht man das alles jetzt bei den Gewerkschaften? – Am Telefon ist Michael Vassiliadis, der Vorsitzende der IG Bergbau, Chemie, Energie, und er ist selber Mitglied in der SPD. Herr Vassiliadis, wer liegt da falsch in der SPD, die GroKo-Befürworter oder die Gegner?
    Michael Vassiliadis: Na ja. Ich muss schon sagen, dass natürlich nach der Wahl für die SPD die Frage stand, hat sich die GroKo, die zurückliegt, bewährt und hat das bei den Wählern Zustimmung gefunden. Und man muss sagen: Nein! Aus der letzten GroKo heraus haben die Wähler der SPD mit vielen Projekten, die umgesetzt worden sind, zumindest keine Unterstützung in Form eines besseren Wahlergebnisses beschert. Deswegen ist die Partei natürlich sehr, sehr kritisch, ob man in eine neue GroKo geht. Dass das diskutiert wird, dass das kritisch gesehen wird, dafür habe ich Verständnis. Allerdings bei dem vorliegenden Sondierungspapier hätte ich erwartet, dass man genauer hinschaut. Da steckt nämlich eine ganze Menge drin.
    "Wichtige Leitprojekte der SPD"
    Armbrüster: Das müssen Sie uns erklären. Was ist da besonders gut dran für die SPD?
    Vassiliadis: Na ja. Es gibt ein paar SPD-Projekte, übrigens auch viele davon Gewerkschaftsthemen, die lange diskutiert worden sind, auch in der letzten GroKo, in der letzten Regierung, beispielsweise die Stabilisierung des Rentenniveaus, beispielsweise die Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung, beispielsweise eine Änderung in der Europapolitik, beispielsweise die Frage, wie wir die Gleichberechtigung von Frauen und Männern und so weiter und so weiter. Wenn man das Papier durchgeht, finde ich zumindest eine ganze Menge Themen, die für die Gewerkschaften und im Kern auch für die SPD wichtige Leitprojekte waren, die hier einen Schritt nach vorne gehen. In der Sache würde ich dieses Sondierungsergebnis auch der SPD empfehlen, nicht zu schnell vom Tisch zu wischen, sondern genau hinzuschauen.
    Armbrüster: Jetzt haben wir allerdings auch verzeichnet, es gibt keine zusätzliche Besteuerung für Reiche, kein neuer Spitzensteuersatz, keine Bürgerversicherung. Es bleibt bei prekärer Beschäftigung, bei sachgrundloser Befristung. Muss man da nicht eigentlich festhalten, dass sich die SPD immer weiter von denen in unserer Gesellschaft entfernt, die nicht so viel haben?
    Vassiliadis: Na ja. Insgesamt - das würde ich auch so formulieren - ist natürlich die Frage, wie man das Land nach vorne bringt, wie man es zukunftsfähig macht. Das habe ich immer wieder auch unterstrichen. Es fehlt ein Konzept - übrigens ist das eine Botschaft auch an die Union -, dass die beiden großen Parteien einen Zukunftsentwurf machen, wie man aus der heutigen, wirtschaftlich stabilen Situation, in der die Eckpunkte, wenn man sie dann an Börsenkursen und Gewinnen festmacht, ideal sind für Deutschland, wenn man sie allerdings an anderen Parametern festmacht, soziale Realität, Zukunftsinvestitionen, Infrastruktur, Bildung, all diesen Themen, kleine Tippelschritte gemacht werden. Ein großer Wurf fehlt. Diese Kritik ist ja nicht neu. Das ist sicherlich auch mit dem jetzigen Ergebnis nicht erkennbar, sondern es ist eine Kontinuität in kleinen Schritten. Man muss jetzt abwägen, ist der Zeitpunkt jetzt da, wo man einen solchen großen Entwurf, den die SPD sucht, aber jetzt auch noch nicht erkennbar gefunden hat, ob man den jetzt in den nächsten Wochen findet, oder ob man sich in einer schrittweisen Modernisierung, wie es jetzt in diesem Sondierungspapier erkennbar ist, zunächst einmal auf den Weg macht. Die zweite Debatte, was ist sozialdemokratischer Zukunftsentwurf, ist damit ja nicht vom Tisch.
    Armbrüster: Warum fällt dieser erste Punkt, warum fällt dieser große Wurf so schwer? Liegt das möglicherweise daran, dass die SPD es sich auch so schön eingerichtet hat im Berliner Politikbetrieb?
    Vassiliadis: Ich habe das ja gerade schon mal getan; ich würde das unbedingt noch einmal tun. Ich würde das, bitte, auf beide große Parteien oder beide Parteien, die die GroKo repräsentieren, übertragen.
    "Opposition ist keine Reha"
    Armbrüster: Ich spreche jetzt nur mit Ihnen, weil ich schätze mal, dass die SPD Ihnen sehr genau zuhören wird.
    Vassiliadis: Ja, natürlich. Ich verstehe das schon. Aber beide große Parteien müssen natürlich, weil sie die Mitte und weil sie die Mehrheit und weil sie die Große Koalition darstellen, auch große Politik machen. Die SPD darin ist natürlich dafür verantwortlich, dass man die sozialen, dass man die ausgewogenen nachhaltigen Themen einer Gesellschaft nach vorne bringt, und ich bin schon der Meinung, dass das in der letzten Großen Koalition an vielen Stellen passiert ist und dass auch in dem Sondierungsergebnis einiges vorliegt. Die großen Themen, schaffen wir es, international den Klimaschutz, die Nachhaltigkeit zu verankern, schaffen wir es, die Finanzmärkte unter Kontrolle zu bringen, schaffen wir große Impulse für Frieden und Sicherheit und Stabilität, alles große Projekte der Sozialdemokratie, da ist viel programmatische und wichtige Arbeit geleistet worden vom ehemaligen Außenminister, vom jetzigen Außenminister. In der operativen Arbeit, in der täglichen Arbeit ist das gar nicht so zu kritisieren. Ob ein Entwurf, eingeklemmt zwischen Linkspartei und Union, ob der jetzt erkennbar ist und ob der erkennbar sein wird in den nächsten Wochen, ob in der Opposition oder in der Regierung, das ist eine andere Frage. Das ist eine Frage an die Führung der SPD, diesen programmatischen Erneuerungsprozess voranzubringen. Ich kann nur nicht erkennen, ich habe das ja gleich nach der Wahl gesagt, Opposition ist keine Reha, in der man die besseren Möglichkeiten, die größere Kraft hat, diese programmatische Erneuerung vorzunehmen.
    Armbrüster: Herr Vassiliadis, wir reden heute Morgen immer wieder über die SPD-Basis. Was hören Sie denn von Ihrer eigenen Basis, von der Gewerkschaftsbasis?
    Vassiliadis: Es ist zumindest eins klar: Man erwartet auch große Schritte. Anerkenntnis findet, zumindest wenn ich mit meinen Mitgliedern spreche, und da sind viele sozialdemokratische Wähler dabei, Anerkenntnis findet schon, dass man eine Überraschung hatte, wie viele Schritte in diesem Sondierungspapier enthalten sind. In der Sache wird das gar nicht so kritisch gesehen. Es ist eher eine Abwägung, ob man mit dem Schritt, in die Regierung zu gehen, als SPD parteistrategisch und parteitaktisch einen richtigen Schritt macht. Ich glaube, dass die Mitgliedschaft, wenn sie dann befragt wird, nicht ganz so eine kritische Einschätzung hat, wie das vielleicht jetzt, was ich verstehen kann, viele Funktionsträger haben.
    "Keine Absage an den Klimaschutz"
    Armbrüster: Wir müssen noch über einen wichtigen Punkt sprechen: die Absage an die Klimaziele 2020. Ich nehme mal an, das hat Ihnen sehr gefallen?
    Vassiliadis: Ja, das hat mir gefallen. Ich sage mal, ich nehme den Klimaschutz sehr, sehr ernst. Was mir gefallen hat ist, dass man realistisch geworden ist. Die Absage an die Klimaziele 2020 ist ja nicht die Absage an den Klimaschutz. Es ist Realismus, der den Weg freimacht, den Blick auf die richtigen Dinge zu lenken. Wenn wir das 2020er-Ziel, das sich ja nur Deutschland gesetzt hat, quasi herbeiregulieren mit aller Gewalt, hat man am Ende solche Lasten und solche Kraft einzubringen, dass die eigentliche Verpflichtung aus Paris dann wahrscheinlich zwischen Kernenergieausstieg, Kohleausstieg oder was immer dann da erzwungen worden wäre ins Hintertreffen geraten ist.
    Armbrüster: Aber das Signal, Herr Vassiliadis, das ist doch verheerend.
    Vassiliadis: Nein, das Signal ist nicht verheerend. Das Signal ist, Realismus findet in Deutschland wieder mehr Unterstützung. Und wir können dann darüber nachdenken, wie wir es vernünftig machen. Ich will es Ihnen sagen: Wenn wir nicht weiterkommen beim Netzausbau, bei den Erneuerbaren und bei den offenen Fragen der Energiewende, dann nützt uns der Kohleausstieg auch nichts, weil die Ziele, die dann kommen, sind ja noch größer. Das heißt, mein Plädoyer war nie, nichts zu tun, sondern das Richtige, und ich finde, das was da steht - es wird ja nicht nichts gemacht; es ist der Kommission, die vor einem Jahr schon gegründet worden ist, ein klarer Auftrag gegeben und der beinhaltet viele, viele offene Fragen, die noch nicht zu beantworten sind. Aber mit einer Beschlusslage, wie die Grünen sie in Jamaika eingebracht haben - die hatten ja drei Beschlusslagen zum Kohleausstieg -, das ist auch ein bisschen beliebig. Insofern glaube ich, dass dieses Ergebnis eine Arbeitsgrundlage ist, es besser zu machen. Es ist keine Absage an den Klimaschutz.
    "Das Land braucht die SPD"
    Armbrüster: Herr Vassiliadis, können wir das alles, was Sie gesagt haben, dann so zusammenfassen: Sie empfehlen der SPD eine GroKo?
    Vassiliadis: Ich empfehle der SPD, dass sie diese wichtigen Projekte für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nach vorne bringen. Das kann man in der GroKo jetzt machen. Gleichzeitig empfehle ich aber auch, den programmatischen Erneuerungsprozess anzugehen, sie auch mit den Partnern, die die SPD in vielen Bereichen hat, nicht nur die Gewerkschaften, in der Gesellschaft im Dialog zu diskutieren. Dieses Land braucht auf lange Sicht eine andere Politik und wir haben im Moment sehr, sehr gute Rahmenbedingungen. Hier sollten wir uns nicht Sand in die Augen streuen, dass wir jetzt nicht Zukunftsvorsorge voranbringen. Das empfehle ich auch der SPD und da braucht das Land auch die SPD.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.