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Soziale Medikation in Großbritannien
Spaß auf Rezept

Britische Allgemeinmediziner haben die Möglichkeit, Gesellschaft zu verschreiben. Soziale Medikation bringt Patienten mit Helfern in Kontakt, die sich um Aktivitäten kümmern. Das Kalkül: Wer Wandergruppen oder Kunstkurse besucht, entlastet das bereits überstrapazierte Gesundheitssystem.

Von Marten Hahn |
Senioren wandern in Großbritannien
Soziale Kontakte und gemeinsame Aktivitäten sollen helfen, gesund zu bleiben (dpa / Hinrich Bäsemann)
Seit mehr als zehn Jahren kümmert sich Ruth Tucker um die Patienten in der College Surgery in Cullumpton. Nur eine Berufsbezeichnung gab es bisher nicht für ihre Rolle in der Gemeinschaftspraxis. "It kind of was: Well, you’re a health and wellbeing facilitator or something like that."
Aber Vermittlerin für Gesundheit und Wohlbefinden war Tucker zu lang. Also machte sie nur Health Facilitator daraus, Gesundheitsvermittlerin. "Auf meiner Visitenkarte steht, ‘Ich helfe dir, dir selbst zu helfen’. So verstehe ich meine Rolle."
Social Prescribing: Betreuung statt Medizin
Alison Knott nennt Ruth Tucker nur Fixerin, eine Mittelsfrau, die Zugang verschafft. "I just think you’re a kind of fixer." Alison kam vor fünf Jahren ins Krankenhaus. Ihr Arzt schickte sie zu Tucker, mit dem Ziel, Gewicht zu verlieren. Ruth Tucker sprach mit der Patientin, hörte zu und schickte Alison dann in einen Kurs für Kreatives Schreiben.
"Ich leide auch unter Depression. Und Ruth steuerte mich dann in Richtung der Gruppen, die sie hier haben. Erst fand ich das beängstigend. Aber dann fühlte sich das gut an. Es fehlte mir lange an Selbstwertgefühl. Zuhause habe ich wenig Unterstützung. Mein Mann ist sehr krank. Eins kam zum anderen. Aber Ruth hat mir da durch geholfen."
Manche Menschen brauchen keine Medizin, sondern Betreuung, Beratung und andere Menschen. Das merkte Michael Dixon schon vor Jahrzehnten. Dixon ist einer der Ärzte der College Surgery. Und er ist es, der Ruth Tucker vor zehn Jahren eingestellt hat.
Ruth Tucker (li) und Alison Knott (r.)
Ruth Tucker (li) und Alison Knott (r.) (Deutschlandradio / Marten Hahn)
"Meine Partner in der Praxis nannten mich den Pfarrer. Sie sagten: ‚Es ist nicht deine Aufgabe, dich um das Wohlbefinden und das Glück der Patienten da draußen zu kümmern. Wir sollten ihre Arthritis, Herzkrankheit oder Depression behandeln.‘ Die Gesundheit der Gemeinde im Allgemeinen, das ist jenseits unserer Verantwortlichkeit."
Dixon kümmerte sich trotzdem und begann Verbündete in anderen Arztpraxen zu suchen. Von dem Ergebnis ist er selbst überrascht: Social Prescribing, soziale Medikation, ist seit Mitte 2019 offiziell eine Behandlungsmöglichkeit im britischen Gesundheitssystem. Und Ruth Tuckers Job hat nun eine offizielle Bezeichnung: Link Worker. Eine Person, die Patienten mit sozialen Angeboten verbindet.
"It's become national policy far quicker than we ever thought it would do."
Dass Dixon und Kollegen bei der Politik Gehör fanden, liegt auch am Social Prescribing Network – eine Organisation, die der Arzt 2016 mit der Wissenschaftlerin Marie Polley gründete.
"Wir brachten Leute aus England und Irland zusammen, die dieses Verschreiben sozialer Angebote schon praktizierten, aber leise, weil es nicht in das System passte, in dem sie arbeiteten."
Mehr chronisch Kranke und weniger Geld
Die meisten Mediziner hielten Social Prescribing für eine Mode, die vor allem eins versprach: Mehr Arbeit. Marie Polley forscht an der Universität von Westminster in London. Mehr als 30 wissenschaftliche Konferenzen haben sie und Dixon in den vergangenen drei Jahren durchgeführt und für größere Aufmerksamkeit gesorgt. Das aber ist nicht der einzige Grund für die jüngste Anerkennung von Social Prescribing, glaubt Polley. Auslöser sei auch der Zustand des öffentlichen Gesundheitssystems.
Dieser Beitrag gehört zur fünfteiligen Reportagereihe "Allein auf der Insel - Großbritannien und die Einsamkeit".
"Wir haben eine Zeit der Sparpolitik durchlebt. Und das bedeutete, dass viele Bereiche mit sehr viel weniger Geld auskommen mussten. Und wenn du weniger Geld hast, schaust du dich um, was die anderen so machen. Auf merkwürdige Art und Weise hat das die Leute dazu gezwungen, zusammenzuarbeiten."
Immer mehr chronisch Kranke und immer weniger Geld haben den National Health Service in die Knie gezwungen. Michael Dixon glaubt, dass Social Prescribing das kostenlose, öffentliche Gesundheitssystem entlasten kann.
"Behandelt man diejenigen, die das System am häufigsten nutzen, mit sozialen Maßnahmen, reduziert das Krankenhausbesuche und Termine beim Hausarzt um 20 Prozent. Diese Zahlen sind für Politiker, die das Gesundheitssystem aufrechterhalten wollen, sicher von großem Interesse."
Michael Dixon ist jedoch mehr an langfristigen, gesellschaftlichen Entwicklungen interessiert. Auch weil er vor der eigenen Haustür erlebt, dass sich da etwas verschiebt.
"Es ist traurig, aber wir leben in einer sehr entfremdeten Gesellschaft. In dieser Stadt zum Beispiel, wurden unheimlich viele neue Häuser gebaut. Aber die Zahl der Leute, die in jedem Hause wohnen, wird kleiner und kleiner."
Und wer einsam ist, geht nicht nur häufiger zum Arzt, weil dieser vielleicht der einzige soziale Kontakt ist. Er wird irgendwann auch wirklich krank.
"Loneliness and lack of social interaction is fatal."
Einsamkeit ist tödlich und so schädlich wie Rauchen.
Am liebsten wäre es Dixon, wenn sich Social Prescribing irgendwann selbst wieder abschafft. Der Arzt hofft, dass wir irgendwann in einer Gesellschaft leben, die die Menschen gesund statt krank macht. Dass nun bald jede Gemeinde in Großbritannien eine Ruth Tucker bekommt, die Kontakte vermittelt, ist für ihn ein Schritt in die richtige Richtung.