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Zum Tod des Lyrikers Paulus Böhmer
Meister des dichterischen Großformats

Paulus Böhmer, geboren 1936 in Berlin, war einer der prägendsten Figuren der Frankfurter Literaturszene. Jetzt ist der Lyriker im Alter von 82 Jahren in Frankfurt gestorben. Böhmer habe "megalomanische, großartige, großräumige, großflächige Gedichte" geschrieben, sagte der Lyrik-Experte Michael Braun im Dlf.

Michael Braun im Gespräch mit Angela Gutzeit |
    Der Lyriker Paulus Böhmer ist am 4. Dezember 2018 im Alter von 82 Jahren in Frankfurt am Main gestorben. Er gilt als Großmeister der Wortschöpfung und war bekannt für seine großformatigen Gedichte.
    Der Lyriker Paulus Böhmer wurde 82 Jahre alt. Er starb am 4. Dezember 2018. (imago stock&people/gezett)
    Angela Gutzeit: Zunächst widmen wir uns einem Großmeister der poetischen Wortschöpfung. Aber: aus traurigem Anlass. Vorgestern ist der Lyriker, bildende Künstler und Übersetzer Paulus Böhmer im Alter von 82 Jahren in Frankfurt gestorben. Die Nachricht erreichte uns erst heute.
    Paulus Böhmer, 1936 geboren in Berlin und in der hessischen Provinz aufgewachsen, studierte zunächst Architektur. Er traf dann in den 60er-Jahren auf Walter Höllerer, der damals das Literarische Colloquium zum Zentrum des schriftstellerischen Lebens machte.
    In Frankfurt wurde Böhmer dann Leiter des Künstlerhauses Mousontum.
    Einen Namen aber machte sich Paulus Böhmer ab Anfang der 60er-Jahre als Lyriker der großen Form. Zeitlebens bezeichnete man Paulus Böhmer als "Außenseiter der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur.
    Ich habe vor der Sendung mit unserem Lyrik-Experten Michael Braun gesprochen und ihn zuerst gefragt, ob diese Zuschreibung denn richtig ist?
    Michael Braun: Ja, das trifft schon zu, weil er hat, und das ist sehr selten in der deutschen Dichtung, als Lyriker gewissermaßen das lyrische Großformat gewählt. Er schrieb lange Gedichte, epische Gedichte, Gedichte, die sich über 200 oder 300 Seiten hinziehen, Poeme, die mäandrieren wie Fließbewegungen eines Flusses, nach allen Seiten. Das haben wir in der deutschen Dichtung, das Long Poem, das in Amerika verbreitet ist, das haben wir in der deutschen Dichtkunst eigentlich bisher so nicht gehabt.
    "Eigentlich kann man ihn als deutschen Erben der Beat Poetry bezeichnen"
    Gutzeit: Paulus Böhmer gehört einer Gruppe von Gegenwartslyrikern an, die sich in eine von wie man immer so sagt amerikanischen Dichtern wie Walt Whitman oder Alan Ginsberg beeinflusste Tradition – Sie haben es eben erwähnt, des Langgedichts – eingeschrieben hat. In welchem Kontext ist er denn da angesiedelt? Das waren ja wohl die 60er-, 70er-Jahre, als auch unter anderem Rolf-Dieter Brinkmann im Bann der amerikanischen Avantgarde stand.
    Braun: Sie haben genau diese Bezugspunkte genannt, um die es geht. Eigentlich kann man ihn als deutschen Erben der Beat Poetry bezeichnen. Man muss da noch ein bisschen weiter zurückgehen, nämlich in die 50er-Jahre, als der sogenannte Open Verse von Charles Olson, dem Literaturtheoretiker und Dichter, in den USA propagiert wurde. Der offene Vers, der nur den Gesetzen des Atems folgt. Und der Paulus Böhmer hat ja mit einem seiner Großwerke, seiner bedeutendsten, direkt angeknüpft an einen Beat-Poeten, nämlich an Alan Ginsberg. Alan Ginsberg hat ja ein 20 Seiten etwa umfassendes Langpoem "Kaddisch" geschrieben, also nach dem jüdischen Totengebet. Paulus Böhmer hat daraus ein 20-teiliges "Kaddisch"-Poem gemacht, das eben insgesamt über etwa 600 Seiten sich entfaltet in zwei Bänden, die ersten zehn Teile 2003, die zweiten zehn Teile in 2008 veröffentlicht.
    Gutzeit: Darauf kommen wir jetzt auch zu sprechen. Böhmer hat die Form des Großgedichts über Jahrzehnte seines Schaffens – Sie haben es ja eben angedeutet – ins Extrem getrieben, muss man ja schon fast sagen. Die sogenannten "Kaddisch-Sammlungen" füllen Hunderte Buchseiten, Sie haben es eben angedeutet, bei der Trilogie "Am Meer. An Land. Bei mir" ist es ja ähnlich mit diesem Lang-Gedicht-Format. Sein Wasser-Poem, "Zum Wasser will alles Wasser will weg", für das er 2015 den Peter-Huchel-Preis erhielt, umfasst 240 Seiten. Ist da eigentlich eine Entwicklung über die Jahrzehnte zu erkennen, oder muss man sein Werk als einen einzigen opulenten Sprachfluss sehen?
    Braun: Dieses Werk hat Kontinuität, aber auch Entwicklung, würde ich sagen. Die Wucht der Schöpfungsgeschichten, die Paulus Böhmer quasi aufblättert in seinen Gedichten, die ist von Anfang an da gewesen. Vielleicht ist aber in diesen früheren Werken ein noch böserer, zornigerer Ton, ein wütenderer Gestus da, während, wenn Sie nun das schon erwähnte, preisgekrönte Poem nehmen, "Zum Wasser will alles Wasser will weg", da ist der Lobgesang, die Versöhnung mit der Schöpfung, die Versöhnung mit den Wiederfahrnissen der Zeitgeschichte stärker geworden. Hier ist nicht mehr der ganz zornige Ton da, sondern eher der epische, der elegische Ton.
    Rekonstruktion der deutschen Unheilsgeschichte
    Gutzeit: Wie zeigt sich denn der zornige Ton in der Vergangenheit?
    Braun: Der zornige Ton, da rekonstruiert er vielleicht die Unheilsgeschichte, die deutsche Unheilsgeschichte, die er als Kind – er ist ja 1936 geboren – noch miterlebt hat. Die Zerstörungen des NS-Staats, die Zerstörungen, die er miterlebt als Kind in den ersten zehn Lebensjahren in Hessen, wo er aufgewachsen ist. Da kommt ein sehr bitterer Ton. In dieses Kräfte der Zerstörung wird von ihm doch sehr gewaltig auch heraufbeschworen. Da wird sein Gedicht sehr dunkel, seine Zeilen, seine poetischen Zeilen werden tiefschwarz.
    Und dann gibt es aber auch die Gegenbewegung eben, der Lobgesang auf die Schöpfung, auf die Naturgeschichte, auf die Erdgeschichte. Er ist ja, sozusagen sein Ich, das durch diese Gedichte geht, ist ja ein multiples Ich. Er nimmt quasi mehr oder weniger – auch die ganze Menschheitsgeschichte inkorporiert er in dieses lyrische Subjekt hinein.
    Immer neue litaneihaften Anläufe
    Gutzeit: Michael Braun, Sie haben über Paulus Böhmer und sein Wasser-Poem 2015 geschrieben. In diesem Artikel bezeichnen Sie dieses preisgekrönte Buch als ein "Meisterstück", als ein "visionäres Stück Literatur". Vielleicht sagen Sie uns mal, was sich denn hier Ihrer Meinung nach vollendet hat in der Dichtkunst des Paulus Böhmer?
    Braun: Es hat mich an diesem Gedicht eben fasziniert, dass hier ein Dichter mir mit einem Sprachreichtum entgegenkommt, wie ich es eben von anderen Autoren nicht kenne. Der deutsche Dichter mit dem weitaus größten Wortschatz ist Paulus Böhmer, so hat es Christoph Meckel einmal gesagt. Und das zeigt sich eben in den immer neuen litaneihaften Anläufen, mit denen Paulus Böhmer hier wörterenzyklopädisch durch dieses Gedicht geht.
    Gutzeit: Der 1936 geborene Paulus Böhmer wuchs in Nieder-Ofleiden in der mittelhessischen Provinz auf. Das könnte man ja vernachlässigen, denn Böhmer war später in Literatur- und Künstlerkreisen, Sie haben es eben schon gesagt, in Berlin und Frankfurt tätig. Aber das Ländliche, die Natur, die hat sich eingeschrieben in sein Werk.
    Braun: Er hat quasi jeden Strauch am Rande des Flusses, der ja hat diesen schönen Titel "Ohm", also den schönen Namen "Ohm" trägt in der mittelhessischen Provinz, der dort von Nieder-Ofleiden da auch durchfließt und irgendwann in die Lahn mündet, dieser Fluss treibt quasi auch oder ist der Movens dieses Wasser-Poems auch. Am Anfang war das Wasser, am Anfang war dieser mittelhessische Fluss. Und in der Strömung dieses Flusses wird die ganze Kindheits- und Herkunftsgeschichte, auch die ganze Naturgeschichte dieser Region mitgenommen.
    Gutzeit: Vielleicht sollten wir zuletzt noch die Frage nach dem Einfluss stellen, den Paulus Böhmer auf die jüngere Dichtergeneration ausübt. Denn wenn man schaut, wer sich alles zu ihm äußert und ihn verehrte, dann kann dieser Einfluss eigentlich nicht gering sein?
    Braun: Er hat ja etwa zwei Jahrzehnte gewirkt als Leiter dieses Hessischen Literaturforums oder des Literaturbüros damals in Frankfurt und war gewissermaßen auch das Kraftzentrum in Frankfurt für viele Autoren, die er da beeinflusst hat und mit ihnen im Gespräch gewesen ist. Jan Volker Röhnert beispielsweise, auch als Epiker Alban Nikolai Herbst ist mit ihm in gutem Kontakt gewesen. Und so gibt es eine ganze Reihe von Autoren, die gewissermaßen dem Frankfurter Kreis um Böhmer herum angehört haben.
    Im Unterschied zu Böhmer waren vielleicht diese Autoren sogar in der Öffentlichkeit bekannter, weil ein Autor wie Böhmer, der so megalomanische, großartige, großräumige, großflächige Gedichte schreibt, der hat eben nicht ein Massenpublikum.
    Gutzeit: Abmoderation
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.