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Philosoph zu Denkmalstürzen
"Wir brauchen auf jeden Fall Helden"

Wenn man Geschichte von allem säubere, was verdächtig ist, bleibe nicht mehr viel übrig, sagte der Philosoph Dieter Thomä im Dlf. Fruchtbarer für das Selbstbild der Gesellschaft sei die Auseinandersetzung und sich an umstrittenen Personen zu reiben statt sie zu stürzen.

Dieter Thomä im Gespräch mit Doris Schäfer-Noske |
Einem Denkmal von Christoph Columbus in Boston fehlt der Kopf - Demonstranten gegen Rassismus haben die Statue zerstört.
Kopflos nach Rassismusprotesten: Christoph Columbus in Boston. (imago images / AFLO / Keiko Hiromi)
Aktuell fehlt dem Columbus in Boston bereits der Kopf. Vor dem Weißen Haus in Washington mussten Aktivisten von der Polizei daran gehindert werden, das Denkmal des ehemaligen US-Präsidenten Andrew Jackson zu stürzen. Sie warfen Seile um die Reiterstatue, auf deren Sockel sie "Killer" geschrieben hatten.
Umstrittene Helden
Es werden an vielen Orten der Welt zurzeit Statuen vom Sockel geholt, Denkmäler von Sklavenhändlern, Missionaren und Kolonialherren geschleift - ein Bildersturm im Zuge der Demonstrationen gegen Rassismus. Diskutiert wird jetzt auch über historische Persönlichkeiten wie Sir Winston Churchill, die bisher als Helden galten. Dass sie als Identifikationspunkte auch umstritten sind, überrascht Dieter Thomä nicht: "Des einen Held ist des andern Unhold."
Statuen bleiben Bezugspunkte
Denkmalstürze sind für den Philosophen psychologisch verständlich, politisch aber letztlich falsch. Statt zu tun, als gäbe es keine Geschichte, seien Erinnerung und Streit um die Geschichte besser. Auch in einer Demokratie, so Thomä im Dlf, könnten Helden eine wichtige Funktion haben: Aufzeigen, dass man über sein eigenes Selbst hinauswachsen könne.
Protestierende rollen eine massive Statue über die Straßen von Bristol. Diese hatten sie zuvor demontiert.
"Koloniale Denkmäler auf den Kopf stellen" Die Statue eines ehemaligen Sklavenhändlers zu stürzen, hält der Historiker Jürgen Zimmerer für richtig. Das gelte allerdings nicht automatisch für alle deutschen Kolonialdenkmäler und Straßennamen, sagte er im Dlf.
Leute sogar auf Sockel zu stellen ist für Dieter Thomä keine Entscheidung für die Ewigkeit, sondern vielmehr "eine Einladung zu Identifikation, aber auch eine Einladung zu Auseinandersetzung." Thomä plädiert etwa bei Nelson Mandela, Martin Luther King und Mahatma Gandhi für einen entspannten Blick aufs Heldentum: Sie seien keine unfehlbaren gottgleichen Heiligen, sondern "Menschen, die auch ihre Schwächen haben, aber trotzdem von uns bewundert werden können für das, was sie getan haben."

Hier lesen Sie das Interview in voller Länge:
Dieter Thomä: Ja, wir brauchen auf jeden Fall Helden. Helden sind Identifikationspunkte, an denen wir uns ausrichten, aber die natürlich auch umstritten sind. Des einen Held ist des anderen Unhold. Der Streit, der jetzt geführt wird, den sehe ich insofern als fruchtbar, als dabei eben immer auch nicht nur ein Vorbild für die Gesellschaft, sondern auch ein Selbstbild der Gesellschaft geschaffen wird. Deshalb ist es gut, wenn wir uns auch an Personen reiben können, da entsteht Wärme, da entsteht zum Teil auch Aggression.
Was jetzt ganz konkret den Denkmalschutz betrifft, muss ich sagen, dass ich deshalb eigentlich das auch psychologisch verständlich finde, dass das gemacht wird, aber politisch letzten Endes für falsch halte, weil damit so eine Art Reinlichkeitswahn herrscht. Man will praktisch die Geschichte säubern von allem, was da vielleicht verdächtig ist. Dann bleibt uns natürlich nicht mehr viel übrig oder eigentlich gar nichts.
Ich glaube, dass es besser ist, wenn man sich an die Geschichte erinnert und um die Geschichte streitet, als dass man so tut, als gäbe es keine. Und wenn alle Denkmäler verschwinden, denn letzten Endes findet man überall irgendwas, dann entsteht praktisch so eine Art vergangenheitsloser Raum, und wir können uns auf die Schulter klopfen und sagen, wir sind jetzt darüber hinaus. Das sind wir aber nicht.
"Helden haben auch eine produktive Funktion"
Schäfer-Noske: Gemeinsam ist diesen Helden ja, dass sie Menschen sind und eben keine Heiligen. Warum brauchen wir denn in einer Demokratie trotzdem Helden, wenn wir sie dann, sobald ihre Schattenseiten bekannt werden, wieder vom Sockel stoßen müssen?
Thomä: Wir können uns ja vielleicht mal vorstellen, was passiert, wenn überhaupt solche Figuren, die einem irgendwie größer vorkommen als man selbst, verschwinden würden. Dann würden wir mit unserem kleinen Selbst um uns selbst kreisen und hätten eigentlich nicht mehr diese Möglichkeit, zu überlegen, wie man über sich hinauswachsen kann. Über sich hinauszuwachsen, ist zwar organisch-biologisch doch sehr kompliziert, aber doch eine sehr verführerische Vorstellung.
Wenn man über sich hinauswachsen will, dann muss man aber auch überhaupt – so wie das auch Kinder und Jugendlich haben – Figuren haben, an denen irgendwie beweisbar demonstrierbar ist, da geht noch mehr. Deshalb glaube ich, dass Helden durchaus eine produktive Funktion auch in einer Demokratie spielen können.
Schäfer-Noske: Aber sollte man Menschen dann überhaupt auf Sockel stellen? Sind solche Heldenstatuen, wie sie zurzeit gestürzt werden, als Zeichen der Heldenverehrung noch zeitgemäß?
Thomä: Es gibt einen schwarzen, amerikanischen Künstler, Titus Kaphar, der wahnsinnig interessante Sachen genau zu diesem Thema gemacht hat, Kunstwerke, Debattenbeiträge. Und er sagt, wenn er vor der Entscheidung steht, sollen wir die Denkmäler jetzt zum Beispiel der Südstaatengeneräle abreißen oder nicht, dann würde er sagen, man sollte sie abreißen. Aber eigentlich hält er das für die zweitbeste Lösung.
Die beste Lösung aus seiner Sicht ist, dass sie auf ihrem Sockel bleiben, aber ergänzt werden, kontextualisiert werden, vielleicht auch konterkariert werden durch Dinge, durch Kunstwerke, die dann an die Schattenseiten dieser Figur erinnern. Das heißt, wenn man die Helden auf dem Sockel lässt, heißt das ja nicht, dass man ihnen Autorität gewährt, aber sie bleiben Bezugspunkte.
Oft werden sie ja achtlos umgangen auf der Straße, oft weiß man gar nicht, wer da oben steht. Aber wenn sie weg wären, dann würde man letzten Endes so tun, als gäbe es praktisch diesen Teil der Geschichte nicht. Leute auf Sockel zu stellen, ist keine Entscheidung für die Ewigkeit, sondern eine Einladung zur Identifikation, aber auch eine Einladung zur Auseinandersetzung.
Greta Thunberg nicht auf Sockel stellen
Schäfer-Noske: Ich stelle mir nur gerade vor, wenn jetzt jemand vorschlagen würde, Greta Thunberg auf den Sockel zu stellen als eine zeitgenössische Heldin oder Carola Rackete. Das würde ja nicht lange dauern, dann würden die ersten Schmierereien dort stattfinden oder?
Thomä: Ja, es wäre auch falsch die jetzt auf einen Sockel zu stellen. Jemand hat vorgeschlagen, einen Südstaatengeneral in den USA abzuräumen und dann Dolly Parton, die Countryikone, stattdessen daraufzustellen. Die Figuren, die zu Helden taugen, die sind auch immer so ein bisschen durch die Wetter der Zeit gegerbt worden gewissermaßen. Also, man wird nicht zu Lebzeiten zum Helden erklärt, und das ist auch immer gefährlich, wenn man auf solche Moden aufspringt.
Deshalb finde ich diese Vorschläge mit Dolly Parton oder auch Greta Thunberg eben ziemlich abwegig. Das heißt, es ist so, dass wir einerseits eine lebendige aktuelle Auseinandersetzung haben, andererseits haben wir natürlich aber auch so Figuren wie Mandela, nehmen wir den. Der Mann hat einige Schwachstellen, einige dunkle Seiten, aber was heißt das? Sollen wir deshalb nun verzichten, ihn auf einen Sockel zu heben? Sollen wir da so eine Art Reinlichkeitspolizei, wo wir alles screenen, und dann brechen uns am Schluss all diese Figuren weg.
Das gilt für Martin Luther King, Mandela, im Zweifelsfall sogar für Mahatma Ghandi. Das heißt, ich würde dazu einladen, tatsächlich nicht in Helden die unfehlbaren, gottgleichen Heiligen zu sehen, sondern Menschen, die auch ihre Schwächen haben, die aber trotzdem von uns dafür bewundert werden können, was sie getan haben.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.