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Städteplanung
Eine Stadt ist nur so gut wie ihre öffentlichen Räume

"Die dritte Dimension der Stadt", unter diesem Titel haben Experten in Zürich über die Zukunft des Städtebaus diskutiert. Besonderes Augenmerk galt den Straßen und öffentlichen Plätzen, die aus ihrer Sicht einen entscheidenden Beitrag zum Wohlfühlfaktor in der Stadt leisten. Ein weiteres Thema: Digitalisierung und ihr Einfluss auf die Stadt.

Von Jennifer Rieger | 26.05.2016
    Familien-Idyll: Prenzlauer Berg in Berlin
    Öffentliche Räume bestimmen den Wohlfühlfaktor in einer Stadt, hier im Prenzlauer Berg in Berlin (picture alliance / dpa / Wolfram Steinberg)
    "Zu unseren schönsten Träumen gehören angenehme Reiseerinnerungen. Herrliche Städtebilder, Monumente, Plätze, schöne Fernsichten ziehen vor unserem geistigen Auge vorüber, und wir schwelgen noch einmal im Genusse alles Erhabenen oder Anmutigen, bei dem zu verweilen wir so glücklich waren."
    So schreibt der österreichische Architekt und Stadtplaner Camillo Sitte in seinem Buch "Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" im Jahr 1889.
    "Zu verweilen! – Könnten wir das öfter wieder an diesem oder jenem Platze, an dessen Schönheit man sich nicht sattsehen kann; gewiss, wir würden manche schwere Stunde leichteren Herzens tragen und, neu gestärkt, den ewigen Kampf des Lebens weiterführen."
    Vor seinem Erscheinen ist Sitte noch relativ unbekannt – doch sein Buch wird ein Bestseller. Es beeinflusst den Städtebau so nachhaltig, dass es den Ausgangspunkt für die Tagung "Die dritte Dimension der Stadt" an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich bildet – im Jahr 2016, mehr als 120 Jahre später.
    Camillo Sitte gehört zu den ersten, die sich kritisch mit dem Städtebau des beginnenden Industriezeitalters auseinandersetzen. Ihm missfallen die geometrischen, technisch orientierten Erweiterungen der rasant wachsenden Städte.
    "Moderne Systeme! – Jawohl! Streng systematisch alles anzufassen und nicht um Haaresbreite von der einmal aufgestellten Schablone abweichen, bis der Genius totgequält und alle lebensfreudige Empfindung im System erstickt ist, das ist das Zeichen unserer Zeit."
    Mit dem Ende des Krieges kam das Geld
    "Vor allem in Deutschland ist es der Fall, das mit der Gründerzeit um 1871 mit dem Ende des Deutsch-französischen Krieges und den Reparationszahlungen beginnt, es ist einfach Geld da, das verbaut wird."
    Rainer Schützeichel ist Architekt und Architekturhistoriker an der ETH Zürich. Camillo Sittes Buch, so Schützeichel, war die Initialschrift für den künstlerischen Städtebau, eine Strömung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Das Instrument der Künstlerarchitekten war der Raum zwischen den Gebäuden: Plätze und Straßen.
    "Der Raum selbst ist kein Material, aber er lässt zu, durch seine Gestaltung in Form von Baukörpern und Fassaden und Häusern, Plätze nach dem damaligen Verständnis als wohlwollend erscheinen zu lassen, geborgen oder gemütlich, es gab da verschiedene Konnotierungen. Aber die Idee war, einen geborgenen Stadtraum zu schaffen."
    In "Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen" befasst sich Camillo Sitte intensiv mit historischen Plätzen von Rom bis Kopenhagen, "... und versucht daraus Regeln nahezu für einen zeitlosen und guten Städtebau herauszudestillieren."
    Auch Vittorio Magnago Lampugnani arbeitet an der ETH Zürich. Er ist Architekt und Professor für Geschichte des Städtebaus.
    Leben zwischen Gebäuden
    "Für Sitte sind die wichtigsten Eigenschaften eines guten städtischen Raumes, dass er nicht zu groß ist, dass er geschlossen ist, dass die Straßen an den Ecken einmünden, dass die Geschlossenheit des Platzes nicht beeinträchtigt wird. Die Mitte des Platzes muss freigehalten werden und der Raum sollte, darf, muss eigentlich möglichst unregelmäßig sein.
    So weit würde ich zum Beispiel nicht gehen, das ist jetzt seine Auffassung. Aber diese Kriterien, wie groß darf ein Platz sein, wie symmetrisch oder asymmetrisch muss er sein, wie verhält sich die Platzmitte zum Betrachter, das sind eine Reihe von Fragen, die wir uns immer wieder stellen müssen."
    Denn das öffentliche Leben in der Stadt findet letztlich nicht nur in Gebäuden statt, sondern auch in den Räumen dazwischen.
    "Aber schon wenn Sie sagen: Zwischenräume zwischen Gebäuden werde ich leicht nervös. So werden sie gegenwärtig behandelt, tatsächlich als Zwischenräume. Und ich meine, dass es genau umgekehrt sein sollte, dass die Stadträume zunächst entworfen werden sollten, dass die gestaltet werden müssen und dann die Gebäude natürlich auch gestaltet werden."
    Stadt sollte Repräsentation einer Gesellschaft sein
    Jede Stadt, glaubt Lampugnani, sei nur so gut wie ihre öffentlichen Räume – doch dieses Bewusstsein sei im Laufe der Zeit abhandengekommen.
    "In der Regel, wenn der Architekt ein Haus baut - vor allem heute, das war bis zum 18. Jahrhundert nicht so - ist für ihn das Wichtigste, dass dieses Haus ein möglichst gutes, schönes, eindrucksvolles Gebäude wird. Die Frage, wie sich das Haus einfügt in einen städtischen Kontext, also wie es mit seinen Nachbarn spricht, was für Räume es bestimmt, ist in der Regel zweitrangige Frage."
    Doch woher kam dieser Wandel?
    "Das ist eine sehr gute und schwierige Frage. Es ist letztlich ein gesellschaftliches Problem. Es ist sagen wir eine der negativen Folgen der Aufklärung, die ja sonst ein dezidiert positives Phänomen, zumindest in meinen Augen, ist - dass das Individuum immer mehr Bedeutung erhalten hat und das Individuum will sich auch in der Stadt darstellen. Immer mehr, so sehr, dass dann die Darstellung der Gemeinschaft in den Hintergrund tritt. Und das ist, denke ich, ein Fehler, weil die Stadt zunächst einmal die Repräsentation einer Gesellschaft sein sollte."
    Können Architekten und Städteplaner heute von Camillo Sittes Städtebauprinzipien lernen? "Die Übertragung ist nur begrenzt möglich."
    Stephan Günzel, Professor für Medientheorie an der Berliner Technischen Kunsthochschule, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit dem Raum und versucht zwischen verschiedenen Disziplinen zu vermitteln. Heutzutage, meint Günzel, sei es kaum mehr möglich, die alten Städtebaumodelle anzuwenden, da die Innenstädte ja schon längst bebaut seien. Er sieht allerdings eine neue Herausforderung für die Stadtplaner von heute:
    "Was die Diskussion vor 100 Jahren natürlich noch nicht im Blick haben konnte, ist eine Revolution, die die Menschheitsgeschichte gerade betrifft und das ist die Digitalisierung. Vor 100 Jahren war es die Industrialisierung, die ihre Auswirkungen zeigte - jetzt ist es die Digitalisierung. Und hier tritt uns Raum unter völlig neuen Bedingungen entgegen."
    Physisch in der Stadt, trotzdem unterwegs in virtuellen Räumen
    Erstmals hielten sich Menschen zwar physisch in der Stadt auf, gleichzeitig seien sie aber oft in virtuellen Räumen unterwegs. Ein Teil der Aufgabe von Plätzen – nämlich die, Gesellschaft und soziale Interaktionen herzustellen – werde damit ins Internet verlagert.
    "Das Merkwürdige dabei ist, dass selbst unter Leuten, die in der digitalen Welt selbstverständlich zu Hause sind, trotzdem ein Bedürfnis zu bestehen scheint, diesen Anschein des existierenden, gebauten öffentlichen Raums zu wahren und ihn auch zu nutzen - so als ob man sich vergewissern muss, dass man eben noch leiblich, körperlich im natürlichen Raum existiert."
    Die Orientierung im Internet, im Computerspiel oder in anderen virtuellen Welten funktioniere genauso wie die Orientierung im physischen Raum, sagt Stephan Günzel. Architekten müssten also künftig Räume so gestalten, dass sie die Stadtbewohner zum Verweilen einladen – egal ob das Baumaterial aus Stein und Beton oder aus Einsen und Nullen besteht.