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Ukraine-Konflikt
Volmer kritisiert Aufstockung der NATO-Eingreiftruppe

Der frühere Grünen-Politiker Ludger Volmer hat dem Westen vorgeworfen, eine russische Aufrüstung zu provozieren. "Wir sehen den Beginn eines Kalten Krieges", sagte er im Deutschlandfunk. Irgendwann werde die Frage der atomaren Waffen wieder auf der Tagesordnung stehen.

Ludger Volmer im Gespräch mit Dirk Müller |
    Ludger Volmer, früherer Grünen-Politiker und Staatsminister a. D. im Auswärtigen Amt.
    Ludger Volmer, früherer Grünen-Politiker und Staatsminister a. D. im Auswärtigen Amt. (Imago / Christian Thiel)
    Der frühere Staatsminister im Auswärtigen Amt, Volmer, hat das Vorgehen der NATO im Ukraine-Konflikt kritisiert. Man müsse fragen, ob die Maßnahmen, welche die NATO nun ergriffen habe, nicht eher schädlich seien. Angesichts der Spannungen mit Russland hatte die NATO gestern entschieden, ihre schnellen Eingreiftruppen auf bis zu 40.000 Soldaten zu erhöhen.
    Volmer sprach von einem Sicherheitsdilemma, bei dem man sich gegen eine Gefahr wappne, die vielleicht gar nicht existiere. Durch die eigene Aufrüstung provoziere man erst auf anderer Seite militärische Maßnahmen, die dann eine Gefahr hervorriefen.
    Der Konflikt werde sich weiter aufschaukeln. "Wir sehen den Beginn eines Kalten Krieges", sagte der frühere Grünen-Politiker. Die Entwicklung werde so weit gehen, bis die Frage der atomaren Waffen wieder auf dem Tisch liege.

    Das Interview in voller Länge
    Dirk Müller: Die Amerikaner sind dabei, schweres Kampfgerät in die östlichen NATO-Staaten zu verlegen. Bereits seit Monaten trainieren NATO-Truppen für den Ernstfall, für den Fall, dass es zu einer direkten Konfrontation kommen sollte zwischen Russland und den NATO-Bündnisstaaten. Die Verteidigungsminister des westlichen Bündnisses haben gestern beschlossen, die Schnelle Eingreiftruppe auf 40.000 Mann zu verstärken. Zuvor waren es 13.000. Derweil droht Russland damit, seine Atomwaffen aufzustocken. Wir sind offenbar schon mittendrin in einer neuen Aufrüstungsrunde. Angefangen hat alles mit der Krim und mit der Krise in der Ukraine. - Am Telefon ist nun Grünen-Politiker Ludger Volmer, unter dem Kabinett Schröder-Fischer Staatsminister im Auswärtigen Amt. Er lehrt jetzt politische Wissenschaften an der FU Berlin. Guten Morgen.
    Ludger Volmer: Guten Morgen!
    "Wir sehen den Beginn eines Kalten Krieges"
    Müller: Herr Volmer, drehen beide Seiten an der Spirale?
    Volmer: Ja, das muss man leider so sagen. Jede Seite wirft zwar der anderen vor, zu eskalieren beziehungsweise das Völkerrecht nicht einzuhalten, und leitet daraus die Legitimation für eigene Schritte ab. Aber im Ergebnis führt dies dazu, dass wir am Beginn einer neuen Rüstungsspirale stehen, denn es ist ja absehbar, dass jede Seite reagieren wird auf Maßnahmen der anderen Seite, und so werden sich die Dinge aufschaukeln. Wir sehen den Beginn eines Kalten Krieges und der wird sich so weit entwickeln, bis die Frage der atomaren Waffen wieder auf der Tagesordnung steht, und man kann nur hoffen, dass der Prozess dann gestoppt wird wie schon 1989/90, als der Kalte Krieg wieder beendet wurde durch eine Beendigung der Blockkonfrontation. Was wir im Moment sehen, ist jedenfalls eine höchst gefährliche und ungesunde Entwicklung.
    Müller: Suchen wir nach den Schwarzen Schafen. Hat der Kreml mit allem angefangen?
    Volmer: Die Besetzung der Krim durch Russland war ein Bruch des Völkerrechts und es ist völlig klar, dass die internationale Gemeinschaft darauf reagieren muss. Aber man kann nicht sagen, dass dies der Beginn war. Die Krim wurde besetzt, nachdem in der Ukraine eine gewählte Regierung weggeputscht worden war. Wir im Westen nennen das demokratische Erneuerung, weil Demokraten diesen Putsch gemacht haben, allerdings in Verbindung mit vielen rechtsradikalen und nationalistischen Elementen. Und das Erste, was das Parlament damals gemacht hat, war zu beschließen, dass die russische Sprache in der Ostukraine verboten werden soll. Das wurde zwar einen Tag später wieder zurückgenommen, aber in Moskau wurde das wahrgenommen als aggressiver Akt, der sich gegen die russische Minderheit in der Ukraine richtet, und so hat man dann zu den Mitteln gegriffen, die man der eigenen robusten Mentalität entsprechend für naheliegend hielt. Das war ein Völkerrechtsbruch. Aber man darf nicht sehen, dass hinter dieser unrechtmäßigen Aktion doch ein legitimes Anliegen stand.
    "Heuchelei und die Doppelmoral der westlichen Politik"
    Müller: Um das noch mal festzuhalten. Das sagen ja nicht so viele westliche Politiker, auch heute nicht. Aber Sie haben es jetzt eben gesagt: Der politische Wechsel in der Ukraine war für sie ein klarer Putsch?
    Volmer: Ja, in der Tat. Was soll das sonst gewesen sein? Das war eine Revolution. Die hat eine gewählte Regierung aus dem Amt gejagt. Die gewählte Regierung war bestimmt schlecht, und es gab viele gute Gründe, sie loswerden zu wollen. Aber wenn eine Revolution von der Straße eine Regierung davonjagt, die vorher demokratisch gewählt worden war, was soll das sonst sein? Der Westen redet sich das gerne schön.
    Wenn dann aber ein anderer Teil des ukrainischen Volkes, nämlich die Ostukraine nicht mitmachen will und wiederum aus dem neuen ukrainischen Staatsverband austreten will, dann gilt das als illegitim, und das ist die Heuchelei und die Doppelmoral der westlichen Politik.
    Müller: Revolution hört sich ja meistens gut an für die meisten, ist ja positiv besetzt, sympathische Revolution von unten nach oben. In dem Fall sehen Sie das in der Interpretation dann anders?
    Volmer: Nein. Es waren ja tatsächlich Demokraten und sie hatten gute Gründe, diese alte Regierung los werden zu wollen. Aber immerhin war die vorher gewählt worden in einem demokratischen Akt, und nachdem die davongelaufen war, konnten die neuen Machthaber nicht unbedingt erwarten, dass nun alle Teile des ukrainischen Volkes diese Entwicklung bejubeln und mitmachen, und in der Ostukraine gab es nun mal überwiegend Kräfte, die das nicht mitmachen wollten. Denen wurde von russischer Seite geholfen, mit illegalen Mitteln.
    Aber was der Westen auch verschweigt: Wenn es in der Ukraine eine regelrechte Volksabstimmung gegeben hätte, unter Aufsicht der OSZE, nach allen Regeln des Völkerrechts, dann ist es höchst wahrscheinlich, dass auch dann die ukrainische Bevölkerung in der Ostukraine sich aus dem Staatsverband hätte lösen wollen und zu Russland hätte rüberorientieren wollen.
    Müller: Was macht Sie da so sicher? Es ist ja schwer, zu dieser Einschätzung zu kommen oder es zu verifizieren.
    Volmer: Ja, das ist ein bisschen spekulativ. Aber die Umfragen, die es vorher dort gab, die waren ziemlich eindeutig.
    Müller: Dann so ähnlich wie auf der Krim?
    Volmer: Ja, das meine ich ja. Ich meine jetzt mit der Ostukraine die Krim. Ich meine jetzt noch nicht Donbass als Ganzes. Die Frage ist ja noch offen.
    Volmer: Krim gehörte historisch immer zu Russland
    Müller: Da wäre es aber dann anders? Ich hatte das jetzt so verstanden, als meinten Sie die Ostukraine, Donbass im Mittelpunkt, worüber wir jetzt in den letzten Monaten sehr viel berichten.
    Volmer: Nein, die Frage ist offen. Aber die Krim, die auch historisch immer zu Russland gehörte und die nur durch einen Verwaltungsakt innerhalb der Sowjetunion in den 50er-Jahren der Ukraine zugeschlagen wurde. Und aus russischer Sicht sieht das so aus, dass der Machtwechsel in der Ukraine und die Orientierung der Ukraine weg von Russland und hin zum Westen im Grunde bedeutet, dass die Geschäftsgrundlage des damaligen Verwaltungsaktes weggefallen ist. So würden wir in unserem Rechtssystem formulieren. Man muss diese Haltung nicht teilen, aber man muss sie als realistisches Element einfach zur Kenntnis nehmen und in Rechnung stellen.
    Müller: Herr Volmer, Doppelmoral des Westens, haben Sie gesagt, ist es damals gewesen in der Argumentation. Meine Frage: Ist das heute immer noch so? Ist das Doppelmoral, einerseits Putin ein bisschen einzuladen, zum Dialog aufzufordern - wir haben eben Ursula von der Leyen gehört, die gesagt hat, kein Kalter Krieg, keine Frage, wir sind für den offenen Dialog -, und auf der anderen Seite jetzt mit der NATO massiv zu demonstrieren, wir sind stark?
    Volmer: Ich frage mich, welche Bedrohungsanalyse eigentlich dahinter steckt. Entweder ist Russland tatsächlich eine wieder gefährliche Macht; dann reicht das, was die NATO gerade gemacht hat, überhaupt nicht aus. Oder aber Russland ist nicht gefährlich, wie Putin ja auch nicht müde wird zu behaupten; dann muss man fragen, ob die Maßnahmen, die die NATO jetzt ergriffen hat, nicht eher schädlich sind. Denn es gibt das sogenannte Sicherheitsdilemma. Indem man sich gegen eine Gefahr wappnet, die vielleicht gar nicht da ist, provoziert man auf der anderen Seite militärische Maßnahmen erst, die diese Gefahr hervorrufen.
    Man kann auch reden von einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Das haben übrigens wichtige amerikanische Außenpolitiker Mitte der 90er-Jahre getan, zum Beispiel George Kennan, der Initiator des Marshall-Plans. Der hat vor der Osterweiterung der NATO gewarnt, indem er sagte, damit werden die Gefahren erst heraufbeschworen, gegen die man sich eigentlich wappnen will, nämlich ein neuer russischer Nationalismus, ein neuer Nationalchauvinismus, ein neuer Kalter Krieg, neue militärische Grenzen in Europa. Und der Prozess, der damals begonnen wurde, Mitte der 90er-Jahre, und der damals schon als eskalativ eingeschätzt wurde von vielen Fachleuten, der treibt heute zu dem Punkt, dass die Amerikaner Waffen an die russische Grenze vorschieben.
    Müller: Also wir sind selbst schuld?
    Volmer: Das kann man so nicht sagen. Von Schuld will ich nicht reden. Aber es gibt intensive Diskussionen in der Sicherheitspolitik über richtige und falsche Strategien, und meines Erachtens wurde hier die falsche ergriffen.
    "In strategischer Hinsicht ist Russland eher in der Defensive"
    Müller: Wir haben nicht mehr viel Zeit; ich muss Sie das doch noch mal fragen, weil Sie gesagt haben, entweder ist Russland gefährlich, oder Russland ist nicht gefährlich. Putin sagt, wir sind nicht gefährlich. Was glauben Sie?
    Volmer: In strategischer Hinsicht ist Russland eher in der Defensive und bei dem Versuch, sich dabei zu behaupten, machen sie nicht nur viele Fehler, sondern begehen auch Völkerrechtsbrüche, die man auch nicht tolerieren kann. Aber im Grunde schadet Russland sich selber, denn Russland braucht eine Modernisierungspartnerschaft mit dem Westen. Die Chancen hat Russland im Moment verspielt.
    Man muss allerdings auch sagen, dass starke Kräfte im Westen, insbesondere in den USA, diese Partnerschaft nicht wollten. Im Übergang von der Clinton- zur Bush-Regierung haben sich Kräfte durchgesetzt, die gesagt haben: Nachdem die Sowjetunion nun einmal gestürzt ist, werden wir Russland so stark schädigen, dass es sich nie mehr erholen kann. Und diese Kräfte sind leider heute immer noch wirksam in den USA.
    Müller: Bei uns heute Morgen im Deutschlandfunk Grünen-Politiker Ludger Volmer, viele Jahre Staatsminister im Auswärtigen Amt. Vielen Dank für das Gespräch, Ihnen noch einen schönen Tag.
    Volmer: Danke!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.