Mit Blick auf die Schiedsrichterleistungen sagte er, Deutschland sei bisher "glimpflich" davongekommen. Besonders im Fall des Brasilianers Neymar habe er sich gewünscht, dass der Taktiker besser geschützt worden wäre. Trotz der gewünschten einheitlichen Anwendung der Regeln sei bei dem Turnier aber auch klar geworden, dass die Schiedsrichter aus den klassischen Fußballnationen über eine andere Erfahrung und Praxis verfügten als beispielsweise asiatische Schiedsrichter.
Das Interview in voller Länge:
Dirk-Oliver Heckmann: Brasilien gegen Deutschland, so lautet die Begegnung heute im Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft in Belo Horizonte. Der brasilianische Superstar Neymar muss bekanntlich zuschauen. Er war vom Kolumbianer Juan Zuniga regelrecht umgerannt worden. Die Folge: ein Bruch des dritten Lendenwirbels, das Aus für die Hoffnung der Brasilianer. Für dieses Foul gab der Schiedsrichter nicht einmal die gelbe Karte. Ohnehin lief das Spiel ziemlich aus dem Ruder. Es gab 54 Fouls, aber nur vier gelbe Karten. Auch bei anderen Spielen zögerte der Schiedsrichter viel zu lange. Die „Bild"-Zeitung will die Ursache erfahren haben. Die Rede ist von einem geheimen Fifa-Erlass, wonach die Referees angehalten werden, möglichst wenige gelbe Karten zu zücken. Darüber habe ich gesprochen mit Walter Eschweiler, deutsche Schiedsrichterlegende, Sportrepräsentant im Auswärtigen Amt. Ihn haben wir vor der Sendung in der deutschen Botschaft in Brasilia erreicht und ihn habe ich zunächst gefragt, ob er es für möglich hält, dass es einen solchen Geheimerlass gibt bei der Fifa.
Walter Eschweiler: Ich kann mir das nicht vorstellen, aus dem einfachen Grunde: Die Fifa würde sich in die Hände der Schiedsrichter begeben, und ich weiß nicht. Dann wäre das Fair Play wahrscheinlich außer Acht gelassen. Wir dürfen eins nicht vergessen: Die Fifa hat jahrelang versucht, die Schiedsrichter und die Assistenten auf eine Regelauslegung auszubilden. Ich habe das selbst in Zürich bei den Vorbereitungen für die Weltmeisterschaft mal miterlebt. Und die Fifa hat alles Menschenmögliche getan. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Auch die Schiedsrichter aus den vielen Erdteilen der Welt sind Menschen und die Anwendung und Auslegung der Regel, die ist zwar einheitlich gewünscht, ist aber sehr schwer. Aber bitte berücksichtigen Sie: Wo Menschen über Menschen subjektiv richten, da können auch Fehler passieren. Draußen sitzen die besten Fußballspieler, die allerbesten Trainer und auch Schiedsrichter. Man weiß eben draußen vieles besser, was im Spiel anders ist.
Heckmann: Davon haben wir natürlich auch 80 Millionen, Schiedsrichter wie Bundestrainer.
Eschweiler: Bundestrainer!
Heckmann: Jetzt reden wir ja gerade mit einem leibhaftigen ehemaligen Schiedsrichter. Halten Sie denn die Schiedsrichterleistungen bisher in diesem Punkt für in Ordnung?
Eschweiler: Lieber Herr Heckmann, wir müssen das Fair Play berücksichtigen. Wir haben viel Licht und Schatten gesehen, leider bei den Schiedsrichterleistungen auch Schatten. Es wäre besser, das wäre nicht passiert. Und wenn ich an die beiden Spiele denke von Brasilien gegen Chile und gegen Kolumbien, wo man systematisch den Neymar versucht hat, in irgendeiner Form zu traktieren, da hätte ich mir gewünscht, dass die amtierenden Schiedsrichter Kraft ihrer guten Ausbildung und den Weisungen der Fifa den Techniker etwas mehr geschützt hätten. Denn es ist nicht gut, wenn ein namhafter Spieler da ausfällt. Aber bitte, es ist gekommen und jetzt müssen wir damit leben. Wir als deutsche Fußball-Nationalmannschaft sind bisher bei den Schiedsrichterentscheidungen noch glimpflich weggekommen. Es hat noch keine großen Probleme gegeben.
"Das ist die menschliche Unzulänglichkeit"
Heckmann: Dann wollen wir mal sehen, ob das auch so bleibt, auch bei dem heutigen Spiel. Aber es ist ja auch Tatsache, dass nicht nur Neymar betroffen ist von wirklich harten Herangehensweisen der gegnerischen Spieler. Wie ist denn das aus Ihrer Sicht zu erklären, dass die Schiedsrichter da so zurückhaltend sind?
Eschweiler: Ja, das ist die menschliche Unzulänglichkeit. Wissen Sie, Nobody is perfect, und der eine Schiedsrichter sieht das Foul so und der andere sieht es so. Sie dürfen nicht vergessen: Die klassischen Schiedsrichter aus den großen Fußballnationen, die haben jeden Samstag Kampftag, oder in der Woche auch noch. Das ist natürlich bei Schiedsrichtern aus anderen Erdteilen nicht immer so der Fall. Die sehen die großen Spiele im Fernsehen und im Fernsehen das Spiel sehen und auf dem Felde der Ehre zu amtieren, das sind große Unterschiede. Da hat die Fifa sich riesig große Mühe gegeben auf eine einheitliche Regelauslegung. Aber bitte, es sind nur Menschen.
Heckmann: Das ist ja in der Tat so, auch als normaler Zuschauer, wenn man das Spiel dann im Fernsehen sieht und die verschiedenen Zeitlupen aus den verschiedenen Perspektiven. Die Situation stellt sich ja oftmals völlig anders dar als beim ersten Anschauen. Aber Urs Meier, Ihr ehemaliger Kollege, der erhebt schwere Vorwürfe und sagt, die Fifa hat mit zu verantworten, dass Neymar ausfällt. Die Messlatte für gelbe Karten sei viel zu hoch.
Eschweiler: Ja gut. Ob das die Fifa zu verantworten hat, das ist eine andere Frage. Der Urs Meier ist ein renommierter Schiedsrichter. Er weiß ja, wovon er spricht. Aber andererseits: Der eine sieht das Foul so, der andere sieht das so. Die Schiedsrichter haben ja auch die Headsets und ich bin sicher, bei entscheidenden Situationen konferieren sie auch mit den Assistenten oder mit dem vierten Mann. Aber die letzte Entscheidung fällt der Schiedsrichter, und ein Schiedsrichter aus Asien hat einen ganz anderen Blickwinkel zu den Fouls bei Europäern als ein Schiedsrichter aus den klassischen Ländern. Damit müssen wir leben.
Heckmann: Inwiefern?
Eschweiler: Bitte?
Heckmann: Werden damit mehr die Techniken des asiatischen Nahkampfs berücksichtigt?
Eschweiler: Das könnte unter anderem der Fall sein. Einesteils dürfen Sie nicht vergessen, wie schon erwähnt: Den fehlerlosen Schiedsrichter, Spieler und Trainer wird es nicht geben. Was hätten die Stammtische sonst zu diskutieren?
"Jogi Löw wird seine Truppe schon entsprechend einstellen"
Heckmann: Dadurch hätten die wirklich ein Problem und wir möglicherweise auch. Aber das Thema stellt sich ja dennoch. Der Mexikaner Marco Rodriguez – auch er sicherlich nicht fehlerfrei – ist der Schiedsrichter heute Abend bei der Begegnung Brasilien-Deutschland. Der hatte nämlich die Beißattacke des Uruguayers Suarez übersehen. Worauf müssen sich die deutschen Spieler jetzt einstellen? Würden Sie empfehlen, möglicherweise Schutzmasken zu tragen?
Eschweiler: Nein, das nicht. Persönlich bin ich der Überzeugung, Jogi Löw wird seine Truppe schon entsprechend einstellen. Und wichtig ist auch bei Schiedsrichtern aus verschiedenen Hemisphären, dass man Entscheidungen nicht kritisiert, denn die Schiedsrichter sind meines Erachtens aus anderen Ländern sehr empfindlich bei Kritik gegen Entscheidungen, gegen die Person, und möglicherweise lassen sie in der einen oder anderen Form mal ein Auge zudrücken. Das ist eben die Erfahrung, die man machen muss, und es ist schade. Die Fifa hat immer wieder versucht, die einheitliche Regelauslegung anzustreben, aber es ist ein ganz schwieriges Unterfangen. Wir können nur hoffen und wünschen, dass diese Schattenseiten der Schiedsrichter in den letzten Spielen in den Hintergrund treten und dass wir dann wieder wunderbaren Fußball sehen, und das ist das, was wir wünschen. Mir persönlich tut es sehr leid für Neymar. Ich denke auch ein bisschen weiter. Der FC Barcelona und die anderen Vereine auch, die haben natürlich ihre Leute abgestellt in der Hoffnung, dass sie sie gesund wiederkriegen. Wir Deutsche können uns an und für sich über Schiedsrichterleistungen im Großen und Ganzen noch nicht beklagen, und jetzt wollen wir mal hoffen, dass der Fußballgott, wenn es ihn wirklich gibt, dass der heute Abend schützend die Hand über beide Mannschaften hält und der mexikanische Schiedsrichter eine Superleistung bringt.
Heckmann: Das weiß natürlich niemand, ob es diesen Fußballgott gibt. Wir werden es vielleicht nie erfahren. Schauen wir mal. Wir wünschen Ihnen und uns ein gutes Spiel. Letzte Frage aber in dem Zusammenhang: Wie wahrscheinlich ist, dass Deutschland ins Finale kommt und am Ende Weltmeister sein wird?
Eschweiler: Lieber Herr Heckmann, ich darf meine Prognose wiederholen. Ich habe immer gesagt, mit Glück und Können und Technik erreichen wir das Halbfinale, und alles andere wird der besagte Fußballgott mit dem nötigen Glück und Verve und auch dem Einsatz und dem Fair Play der deutschen Mannschaft richten. Natürlich hoffen wir, dass Deutschland ins Finale kommt und dass es dann auch alles gut geht, aber wie gesagt: es ist von vielen, vielen Fakten abhängig. Wir von der Botschaft und ich bin auch sicher, ganz Deutschland fiebert, dass wir ins Finale kommen und dass wir auch dann möglicherweise erster Sieger sind und nicht zweiter Sieger.
Heckmann: Herr Eschweiler, ganz herzlichen Dank für das Gespräch.
Eschweiler: Einen herzlichen Gruß an Ihre Hörerinnen und Hörer weltweit.
Heckmann: Danke Ihnen und schöne Grüße nach Brasilia. Bis dann!
Eschweiler: Danke gleichfalls! Tschüss!
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