Dienstag, 16. April 2024

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100 Jahre "Friede von Riga"
Ende eines nie erklärten Krieges

Am 18. März 1921 beendete der Friedensvertrag von Riga den Polnisch-Sowjetischen Krieg, der sich in den geopolitischen Wirren nach dem Ersten Weltkrieg entsponnen hatte. Im Westen ist der blutige Konflikt nahezu vergessen. Ganz anders in Polen.

Von Bernd Ulrich | 18.03.2021
    Ein Schwarzweiß-Foto zeigt etwa ein Dutzend Männer, teils in Uniform zumeist in Lederjacken und mit Schirmmützen ein großes, kyrillisch beschriebenes Banner hochhaltend
    Unterstützer der Roten Armee 1920 in Danzig (picture alliance / Ria Novosti/ Sputnik)
    "Es entwickelt sich hier ein Krieg, wo man gar nicht sagen kann, wer wirklich den angefangen hat. Die Sowjets drängen nach Westen, die Polen drängen nach Osten, und beide Seiten wollen expandieren."
    Stephan Lehnstedt, Professor für Holocaust Studien am Berliner Touro College hat Recht: Wer den in Westeuropa nahezu vergessenen, nie offiziell erklärten Polnisch-Sowjetischen Krieg eigentlich begonnen hat, lässt sich kaum ermitteln. Dessen Ende jedoch steht fest: Am 18. März 1921 war mit dem Friedensvertrag von Riga ein vorläufiger Schlussstrich unter diesen Konflikt gezogen worden.

    Zank um die Konkursmasse von Zarenreich und K.u.k.-Monarchie

    An dessen Beginn standen zwei Visionen. Im neu gegründeten Polen träumte Marschall Józef Piłsudski von einem Großpolen, das Litauen, die Ukraine und Teile Weißrusslands einschloss – allesamt Territorien, die wie auch Polen selbst aus der Konkursmasse des untergegangenen russischen Zarenreichs und der österreichisch-ungarischen Monarchie entstanden waren. Zum anderen schien die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik zwar ein durch Revolution und Bürgerkrieg ausgelaugtes Land. Das aber – zumindest in seiner Führung – über ein ausgesprochen revolutionäres Sendungsbewusstsein verfügte. Dazu Stephan Lehnstedt:
    "Was ihre Idee ist, ist nicht so sehr: Wir erobern die Welt. Sondern das ist eher, wenn wir an die Grenze von Deutschland kommen, wird es in Deutschland auch eine Revolution geben, wir können die deutsche Revolution dann unterstützen."

    Frankreich unterstützt Polen als Bollwerk gegen Deutschland

    Welchen Plan die Sowjets auch immer verfolgten – nach der zeitweiligen sowjetischen Besetzung des litauischen Wilna im Januar 1919 ergriffen zunächst Piłsudski und seine Armeen im April 1920 mit der Eroberung der ukrainischen Hauptstadt Kiew die Initiative – diplomatisch und logistisch unterstützt durch Frankreich. In dessen Sicht sollte ein starkes Polen als Bollwerk gleichermaßen gegen das besiegte, doch immer noch gefürchtete Deutschland stehen wie gegen den Bolschewismus.
    Die rasche Okkupation Kiews endete indessen in einem Desaster. Und nach wechselvollen Kämpfen stand die Rote Armee unter General Tuchatschewski Mitte August vor Warschau, mit einer kommunistischen Räteregierung für das Land im Gepäck und erfüllt von der Überzeugung, alle Ethnien des neuen Polens warteten nur auf ihre Befreiung:
    "Am Abend Attacke nahe einem Einzelgehöft. Wir bitten flehentlich, die Gefangenen nicht niederzumachen. Doch das Niedermachen hat eine schreckliche Rolle gespielt. Die Hölle. Wie wir die Freiheit bringen, schrecklich. Ein Gehöft wird durchsucht, man findet noch welche, - keine Patronen verschwenden, abstechen", so der Schriftsteller Isaak Babel im August 1920 in seinem Tagebuch. Er diente als Kriegsberichterstatter in der 1. Roten Reiterarmee des Semjon Budjonny.

    Etwa eine halbe Million Todesopfer

    Umgeben von Kosaken, die ihn nur als armseligen jüdischen Intellektuellen sahen, "der nicht töten konnte", beschrieb Babel die Mord- und Plünderungsaktionen beider Seiten, erbarmungslos vor allem gegenüber den Juden. Fast 300.000 von ihnen wurden ermordet, verhungerten oder starben an Krankheiten. Weitere über 150.000 nichtjüdische Zivilisten kamen während des Krieges zu Tode.
    Tausende Menschen feiern bei einer Kundgebung in warschau den Jahrestag der polnischen Unabhängigkeit  
    100 Jahre polnische Unabhängigkeit - Vereint und doch zerstritten
    Am 11. November 1918 wurde Polen unabhängig – nach gut einem Jahrhundert der Fremdherrschaft. Zum 100. Jahrestag der Staatsgründung streitet das Land über den richtigen Umgang mit der eigenen Geschichte.
    Dazu die Verluste der polnischen und der Roten Armee. Letztere verlor am Ende über 430.000 Mann, darunter allein über 100.000 Gefangene, die in polnisch geführten Lagern schlecht behandelt wurden. Auf polnischer Seite waren über 200.000 Soldaten tot, verwundet oder in Gefangenschaft geraten.
    Aber dennoch gelang es, dank eines riskanten Plans von Piłsudski und des vom polnischen Geheimdienst entschlüsselten sowjetischen Funkcodes, die Rote Armee vor Warschau vernichtend zu schlagen, ein Sieg, der bis heute im Erinnerungshaushalt der polnischen Nation eine zentrale Stelle einnimmt, Pawel Kosinski, Historiker am Institut des Nationalen Gedenkens in Warschau:
    "Ich meine, dass dieser Sieg bei Warschau hat den Polen gezeigt, dass sie in der Lage sind um eigene Unabhängigkeit auch in den extrem schweren Zuständen zu kämpfen. Und das haben die Menschen im Herzen gehabt."
    In der Selbstwahrnehmung der polnischen Nation wurde dieser Sieg für die Freiheit aller europäischen Nationen errungen. Die Erinnerung daran wird bis heute wachgehalten.