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1120 vor der Normandie
Der Untergang des Weißen Schiffs

Dieser Schiffbruch hatte jahrhundertelange Folgen für die englische Geschichte: Am 25. November 1120 zerschellte das Schiff des einzigen ehelichen Sohns Heinrich I. vor der normannischen Küste. Der Thronfolger ertrank. Es folgten blutige Thronwirren – und der Aufstieg einer neuen Königsdynastie

Von Winfried Dolderer | 25.11.2020
    Ein schwarzweißer Druck aus dem 19. Jahrhundert zeigt den Untergang des Weißen Schiffs ( White Ship) an der normannischen Küste nahe Barfleur 1120 wobei bei William Ætheling, der einzige legitime Sohn von König Heinrich I. von England ertrank.
    Der Untergang des Weißen Schiffs nahe Barfleur 1120 in einer Zeichnung aus dem 19. Jahrhundert (picture-alliance/The Print Collector / Heritage-I)
    Der König erfuhr es als letzter. Einen Tag lang waren seine Höflinge um ihn herumgeschlichen. Schließlich schickten sie einen kleinen Jungen, um die Nachricht zu überbringen.
    "Augenblicklich stürzte Heinrich zu Boden, überwältigt von Gram. Er wurde in seine Kammer geführt und ließ der Bitternis seines Kummers freien Lauf." So schildert der Chronist Ordericus Vitalis die Reaktion Heinrichs I. auf die Mitteilung, dass sein einziger ehelicher Sohn und Thronerbe bei einem Schiffbruch vor der normannischen Küste ertrunken war.
    Es ging um den Fortbestand der Dynastie Wilhelms des Eroberers
    Jahrelang hatte Heinrich darauf hingearbeitet, sich und seinen Nachkommen, der Dynastie Wilhelms des Eroberers, die Herrschaft über England und die Normandie auf Dauer zu sichern. Im November 1120 hatte er sich am Ziel gesehen. Jetzt schien, wie der Kölner Historiker Dominik Waßenhoven erläutert, der große Plan in Trümmern zu liegen:
    "Er hatte eine große Nachkommenschaft eigentlich, Heinrich. Er hat mindestens acht Söhne, von denen man weiß, uneheliche Söhne, und auch noch mehrere uneheliche Töchter. Aber er hatte eben nur einen ehelichen Sohn und eine eheliche Tochter."
    Die Katastrophennacht des 25. November 1120 begann mit einem Gelage im Hafen von Barfleur. Vier Jahre hatte sich Heinrich I. in der Normandie aufgehalten. Rebellische Barone zur Raison gebracht. Einen Einfall des französischen Königs abgewehrt. Seinem Sohn die Nachfolge im Herzogtum gesichert. Jetzt war es Zeit zur Rückkehr nach England. Heinrichs Schiff lief mit der Abendflut aus. Es segelte in eine stockfinstere Neumond-Nacht.
    Viel Alkohol am Steuer
    Im Hafen lag noch ein anderes, das sogenannte Weiße Schiff. Für die Zeitgenossen ein nautischer Turbo, windschnittig, schnell, stabil. An Bord waren der 19-jährige Thronfolger Wilhelm, mehrere seiner Halbgeschwister und rund 300 junge Adlige aus Heinrichs Gefolge, allesamt ausgelassener Stimmung. Der Wein floss in Strömen. Gegen Mitternacht wurden die Segel gesetzt und die Passagiere drängten zur Eile. Sie wollten das Schiff des Königs einholen. Ordericus schreibt:
    Zitat "Als die betrunkenen Ruderer sich mit aller Kraft ins Zeug legten, während der Steuermann kaum auf den Kurs achtete, schrammte das Weiße Schiff auf Backbord heftig gegen einen riesigen Felsen, der bei Ebbe frei, bei Flut aber unter Wasser lag. Zwei Planken splitterten und (…) das Schiff kenterte ohne Vorwarnung. Die Menschen schrien in Panik, doch das einbrechende Wasser erstickte bald die Schreie und alle gingen unter." Dazu Historiker Dominik Waßenhoven:
    "Wenn jetzt Heinrich einen seiner unehelichen Söhne zum Nachfolger gemacht hätte, dann wären die anderen möglicherweise auch Konkurrenten dieses Nachfolgers gewesen. Insofern hatte er da nicht so furchtbar viele Möglichkeiten."
    Eine bildliche Darstellung der Schlacht von Hastings am 14. Oktober 1066 zwischen Normannen und Angelsachsen.
    Vor 950 Jahren - Sieg der Normannen über die Angelsachsen bei Hastings
    Die Schlacht bei Hastings hat der Geschichte Englands und Westeuropas eine neue Richtung gegeben. Kurzfristig entschied sie den Streit zweier Anwärter auf den englischen Thron - hatte aber Folgen für die nächsten Jahrhunderte.
    Um seine Dynastie zu retten, traf der König eine für die Zeit ungewöhnliche Entscheidung. Er ernannte seine einzige eheliche Tochter Mathilde zur Thronerbin. Sie war mit 25 schon Witwe Kaiser Heinrichs V. und in zweiter Ehe mit Graf Gottfried von Anjou verheiratet. Der hatte eine Vorliebe für den Ginster, lateinisch "planta genista", und nannte sich deshalb "Plantagenêt".
    Doch als Heinrich im Dezember 1135 starb, war seine Tochter nicht zur Stelle.. Denn, so Dominik Waßenhoven: "Ein weiteres Problem, das Mathilde hatte, als ihr Vater starb, war, dass sie zum einen schwanger und zum anderen in Anjou war, weit weg von England, und deswegen nicht schnell reagieren konnte." So hatte sie das Nachsehen, als ihr Vetter zulangte:"Stephan von Blois, ein Neffe von Heinrich, hat die Gelegenheit sozusagen beim Schopfe ergriffen und h sich bereits im Dezember 1135 dann zum König krönen lassen."
    Verbissener Erbfolgekrieg
    Die Folge waren jahrelange Kriegswirren. Mathilde setzte 1139 mit Truppen nach England über, wo ihr Halbbruder Robert von Gloucester an der Spitze einer oppositionellen Adelsfraktion auf ihre Seite trat. Dazu Dominik Waßenhoven "Es gab immer einige, die Mathilde unterstützt haben, und es gab immer viele, die Stephan unterstützt haben, aber längst nicht alle, und so hat sich militärisch niemand durchsetzen können. Das zog sich eigentlich die gesamten 1140er Jahre dann hin."
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    Am Ende stand ein Kompromiss. Stephan von Blois fand sich 1153 bereit, Mathildes ältesten Sohn Heinrich als Nachfolger anzuerkennen. Dieser bestieg ein Jahr später den Thron als erster in der Reihe der Monarchen aus dem Hause Plantagenet, das bis 1485 in England herrschte. Ohne den Untergang des Weißen Schiffes wäre die Geschichte anders verlaufen.