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20 Jahre danach
Wie das islamistische Attentat von Djerba bis heute nachwirkt

Die tunesische Regierung stellte es als tragischen Unfall dar, doch durch das Bekennen Al-Quaidas wurde klar: Das Selbstmordattentat auf Djerba vor 20 Jahren war ein islamistischer Anschlag. Bis heute wirkt er nach - bei den Angehörigen der überwiegend deutschen Opfer, aber auch in der tunesischen Gesellschaft.

Von Sarah Mersch | 10.04.2022
Die La Ghriba-Synagoge in Djerba am Tag nach dem Anschlag
Die La Ghriba-Synagoge in Djerba am Tag nach dem Anschlag (AP PHOTO/Hassene Dridi)
Der 11. April 2002 ist ein Donnerstag. In einigen deutschen Bundesländern sind noch Schulferien. Auf der Insel Djerba im Süden Tunesiens, damals ein beliebtes Urlaubsziel vieler Deutscher, ist am Morgen gegen halb zehn der zweite Bus mit Touristen gerade an der La Ghriba-Synagoge angekommen. Einige der überwiegend deutschen Besucher befinden sich schon im Gebetsraum, andere stehen noch im Vorraum des Gotteshauses, nahe an der Tür. Direkt davor explodiert um 9.35 Uhr ein Kleinlaster, der mit 4.000 Litern Flüssiggas beladen ist.
Reiseleiter Jamil Denguir ist zu diesem Zeitpunkt mit einer weiteren Gruppe auf dem Weg zur Synagoge, als der Bus an einem Kreisverkehr von Polizisten eilig umgeleitet und ins Hotel zurückgeschickt wird. 
„Der Tag des Attentats: Vor mir waren zwei Busse, ich hatte den dritten. Es folgen alle dem gleichen Programm. Es hätte mich treffen können, anstelle des Kollegen, den ich verloren habe. Es hätte gereicht, dass ein paar Gäste zu spät kommen. Das hätte alles ändern können.“ 
René Trabelsi, franko-tunesischer Tourismusunternehmer, ist am Morgen des 11. April in Paris bei der Arbeit. Sein Vater Perez ist der Vorsteher der Synagoge. 
„Ich habe einen Anruf meiner Mutter erhalten. Sie konnte meinen Vater nicht erreichen. Ich hatte meinen Pass bei mir und hab ein Taxi zum Flughafen genommen. Ich hatte nicht mal einen Koffer dabei. Als ich angekommen bin, habe ich schon aus der Ferne schwarzen Rauch gesehen. Ich bin reingegangen. Ich habe meinen Vater angeschaut, ihn in den Arm genommen. Fünf Minuten, bevor der Laster explodiert ist, war er noch an dessen Stelle gestanden.“ 

Die älteste Synagoge in ganz Nordafrika, die noch in Betrieb ist

René Trabelsis Vater entgeht dem Anschlag mit Glück, weil er sich Minuten vorher auf den Weg zu einem Termin macht. Die La Ghriba-Synagoge stammt aus dem 6. Jahrhundert: Die älteste Synagoge in ganz Nordafrika, die heute noch in Betrieb ist – wenn auch das aktuelle Gebäude erst im 19. Jahrhundert errichtet wurde. Jedes Jahr im Frühjahr pilgern nicht nur die rund 1500 tunesischen Jüdinnen und Juden, sondern auch Tausende aus dem Ausland dorthin. Auch außerhalb der Wallfahrt ist sie eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten der Insel. Jede Inselrundfahrt, die für Touristen angeboten wird, macht dort Halt. So auch der Bus, in dem 2002 die Angehörigen von Bettina Fischer sitzen. Wenige Tage vorher hatte sie sich in Worms von der Familie ihres Bruders verabschiedet, die in die Ferien nach Djerba fliegt. 
„Ich habe denen dann auch noch einen schönen Urlaub gewünscht und habe auch noch mal gefragt, wo sie hinfahren. Und dann gab es bei mir schon so einen Stich, wo ich gesagt habe: Müsst Ihr da jetzt hinfahren? Nicht, weil es ein arabisches oder muslimisches Land ist. Aber eben mit Hinblick auf den 11. September, der ja gerade mal ein halbes Jahr oder sieben Monate her war. Aber die waren so euphorisch, haben sich auf den Urlaub gefreut. Meine Bedenken sind da in keiner Weise angekommen.“ 
Am Nachmittag des 11. April steht bei Bettina Fischers Eltern ein Polizist vor der Tür und informiert sie, dass ihr Bruder, die Schwägerin und ihr nicht einmal zwei Jahre alter Neffe Niklas bei dem Anschlag verletzt wurden. Dutzende Menschen erleiden teils schwere Brandverletzungen. Einige sterben noch an Ort und Stelle, andere später im Krankenhaus in Tunesien oder in Deutschland: mindestens 19 unschuldige Menschen sowie der Attentäter. Unter den Opfern sind 14 deutsche und ein französischer Tourist, der franko-tunesische Reiseleiter des Busses und zwei tunesische Maler, die gerade die Außenwand der Synagoge für die anstehende Pilgerfahrt gestrichen haben. Über die genaue Anzahl der tunesischen Opfer gehen die Angaben immer noch auseinander.
Der durch Ruß geschwärzte Innenraum der Synagoge "La Ghriba" in Tunesien am Tag nach dem Terroranschlag, bei dem ein Tankwagen vor der Synagoge explodierte  auf Djerba nach Explosion
Der durch Ruß geschwärzte Innenraum der Synagoge "La Ghriba" in Tunesien am Tag nach dem Terroranschlag, bei dem ein Tankwagen vor der Synagoge explodierte (picture-alliance / dpa / dpaweb | Fethi Belaid)
Heute, nach 20 Jahren, wollen viele Überlebende oder Angehörige der Todesopfer nicht mehr über das Erlebte sprechen. Auch der Opferschutzbund, ein Zusammenschluss von deutschen Überlebenden und Angehörigen, existiert heute quasi nur noch auf dem Papier. Erst zwei Tage nach dem Anschlag werden Bettina Fischers Angehörige mit einer Spezialmaschine der Bundeswehr ausgeflogen. 
„Ich habe gedacht: Ach, wenn das einer schafft, dann mein Bruder, ein großer, starker Mann, gesund. Ja, dann dachte ich:  Man hat dann eben Hoffnung, man hofft bis zum Schluss. Das ist so. Ist vielleicht auch gut so.“ 
Am Ende überlebt nur ihr Neffe. Im August, vier Monate nach dem Attentat, wird Niklas aus dem Krankenhaus entlassen. Er braucht ständige medizinische Betreuung. Bis ins Teenageralter muss er Dutzende Male operiert werden. Bettina Fischer, die selbst zwei Kinder hat, entscheidet sich, den kleinen Jungen bei sich aufzunehmen. 
„Niklas hat nach wenigen Tagen, wo er hier war, dann zu mir Mama gesagt. Da zerreißt es einem schon das Herz.“
Die deutschen Behörden und internationale Medien gehen schon wenige Stunden nach der Explosion von einem Attentat aus. In Tunesien ist lange von einem Unfall die Rede. Der Laster sei aus Versehen gegen die Mauer der Synagoge geprallt. Die streng kontrollierten Medien des autoritären Regimes halten das Thema klein. Denn der Anschlag kratzt am Image des Landes als stabile, tolerante Urlaubsdestination in unmittelbarer Nähe Europas. Ein Bild, das der damalige Machthaber Zine El Abidine Ben Ali um jeden Preis bewahren will.

„Das tunesische Regime hat versucht, den sozialen Frieden zu erkaufen“

Im Juni 2002 bekennt sich Al-Qaida zu dem Anschlag. Es ist ihr erstes Attentat im Westen nach dem 11. September. Schon in den 1980er- und 1990er-Jahren haben sich auch Tunesier djihadistischen Netzwerken angeschlossen, so der Politologe Hamza Meddeb von der Denkfabrik Carnegie Middle East Center.
„Das tunesische Regime hat versucht, den sozialen Frieden zu erkaufen, den Mangel an Freiheiten durch wirtschaftliche Versorgung zu kompensieren. Die tunesische Jugend hat die Hoffnung verloren, sie hatte keine Aufstiegschancen, keinen Lebenssinn. Es gab eine Leerstelle, religiös und politisch.“ 
Über Nizar Nawar, den 24-jährigen Attentäter, ist wenig bekannt. Er stammte aus Ben Guerdane, einer trostlosen Kleinstadt an der Grenze zu Libyen. Keine Infrastruktur, keine Industrie, keine Perspektive. Die meisten Bewohner leben damals vom Schmuggel, den das Regime von Ben Ali toleriert, um die Region ruhig zu halten. Nawar ist ein Schulabbrecher, dessen Familie wenige Jahre zuvor nach Frankreich gegangen ist. Denen erzählt er, dass er in Kanada eine Ausbildung im Tourismus macht, während er in Wirklichkeit in Afghanistan ist. Dort ist er mit dem engsten Umfeld von Osama Bin Laden im Kontakt, das den Anschlag von Djerba schon seit 1999 vorbereitet. Das Regime von Ben Ali glaubt sich damals fest im Sattel.
Ein deutscher Rettungswagen auf einem Flugfeld beim Transport von Schwerverletzten
Mehrere schwerverletzte Deutsche wurden kurz nach dem Anschlag nach Deutschland ausgeflogen und versorgt. (picture alliance / ASSOCIATED PRESS)
„Es hatte den Eindruck, allmächtig zu sein, jegliche Opposition ausgelöscht zu haben. Damals war die internationale Sicherheitszusammenarbeit in vollem Gange, Tunesien galt als zuverlässiger Partner. Obwohl in Europa alle wussten, dass die Situation in Tunesien erdrückend war. Das Attentat hat dann gezeigt, dass die reine Sicherheitsstrategie nicht erfolgreich war.“ 
Weder den tunesischen noch ausländischen Geheimdiensten fällt Nizar Nawar auf. Dabei durchzieht das Netzwerk, dem er angehört, ganz Europa: es gibt Verbindungen nach Frankreich, Spanien, in die Schweiz. Doch gesteuert wird das Attentat aus Afghanistan – und Deutschland, wie die Ermittlungen später zeigen werden.
Die Instruktionen und Kontakte erhält der Attentäter allen Indizien nach von Chalid Scheich Mohammed. Dieser gilt als maßgeblicher Planer der Anschläge vom 11. September 2001. Am Tag des Attentats von Djerba telefoniert Nizar Nawar um 6.16 Uhr mit einem Kontakt in Deutschland: Christian Ganczarski, Deutscher polnischen Ursprungs, Konvertit, im engsten Umfeld der Al-Qaida-Spitze für Technik und Kommunikation zuständig. Das vom BKA abgehörte Gespräch dauert keine zwei Minuten. Der Attentäter bittet Ganczarski um seinen Segen. 
In Deutschland wird Ganczarski nach dem Anschlag mehrfach verhört, aber nicht verhaftet. Es heißt, die deutschen Sicherheitsbehörden hätten dafür zum damaligen Zeitpunkt keine rechtliche Handhabe gehabt. Ganczarskis späterer französischer Anwalt gibt an, den deutschen Ermittlern habe es schlicht an Beweisen gefehlt. Was auch immer die genauen Gründe gewesen sein mögen, Ganczarski kann ungehindert mit Frau und Kindern mit einem Pilgervisum nach Saudi-Arabien reisen. Als das Visum abläuft, soll er abgeschoben werden. Im Hintergrund koordinieren sich französische und amerikanische Geheimdienste, denn auch die USA haben Interesse an Ganczarski. Statt ihn direkt nach Deutschland zurückzuschicken wird er auf einen Flug über Paris gebucht. Da zwei der Opfer des Anschlags von Djerba Franzosen sind, ist auch die dortige Staatsanwaltschaft zuständig. Sie nimmt Ganczarski am 3. Juni 2003 fest. Nicolas Sarkozy ist damals Innenminister.

140 Seiten Anklageschrift der französischen Staatsanwaltschaft

„Und er hat dann gesagt ‚Je m’en occupe‘. So nach dem Motto ‚Ich kümmer mich darum‘. Ich denke mir, dass die Franzosen dann gesagt haben‚ okay, ihr Deutschen, wir nehmen euch das ab, weil es mit dem BKA irgendwie schiefgelaufen ist.‘“
Judith Adam-Caumeil ist Rechtsanwältin und vertritt Deutsche in Frankreich – im Prozess um das Attentat von Djerba als Nebenklägerin mehr als zehn deutsche Opfer und Angehörige. 140 Seiten umfasst die Anklageschrift der französischen Staatsanwaltschaft. 2009 kommt es zum Prozess. Vier Wochen lang wird nahezu täglich verhandelt. 
„Ganczarski selbst hat so gut wie nichts ausgesagt. Er hat sich dann immer in Schweigen gehüllt. Und natürlich die Strafverteidiger sind dann auch sehr viel interveniert und wollten versuchen, da das Beste für ihren Mandanten da rauszuholen.“ 
Der in Frankreich lebende Bruder des Attentäters, der ihm unter anderem ein Satellitentelefon beschafft hat, um anonym mit den Hintermännern kommunizieren zu können, wird zu zwölf Jahren Haft verurteilt. Ganczarski wegen Beihilfe zum Mord zu 18 Jahren. 
Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily beim Besuch der Synagoge nach dem Attentat.
Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily beim Besuch der Synagoge nach dem Attentat. (picture-alliance / dpa / Fethi Belaid)
„Letztendlich war der Hauptbeweis ein Telefonat, das er führte mit dem Kamikaze-Attentäter. Das BKA hatte die Aufzeichnung von diesem Telefonat und die haben das wohl dann nicht richtig interpretiert und haben sich gedacht: Na ja, eine Segnung heißt ja nicht ‚Mach das mal!‘. Also die Franzosen sind natürlich -  gebranntes Kind scheut das Feuer - sind da weniger naiv als die Deutschen.“ 
Den deutschen Nebenklägern werden 1,8 Millionen Euro Schadensersatz zugesprochen. Doch das Geld erhalten sie nie – anders als eine Entschädigung des tunesischen Hotellerieverbandes und Gelder eines deutschen Sonderfonds. Denn die Verurteilten sind mittellos und Zahlungen aus dem französischen Fonds gehen, da der Anschlag nicht in Frankreich stattgefunden hat, nur an französische Staatsbürger. 
2018 geht Christian Ganczarski im Gefängnis mit einem Messer auf drei Wärter los, woraufhin er erneut verurteilt wird. Eine kalkulierte Aktion, schätzen Beobachter. Denn nach seiner Haftentlassung in Frankreich droht ihm eine Abschiebung in die USA, wo er im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. September gesucht wird. 
Für den Tourismus in Tunesien wiederum sind die Folgen des Anschlags dramatisch, insbesondere auf Djerba. Die ganze Insel lebt direkt oder indirekt vom Tourismus. Reiseleiter Jamil Denguir:
„Djerba nannte man damals ‘die Insel der Deutschen’. Sie waren die Basis des Tourismus dort.“

„Die Drahtzieher des Anschlags wollten Tunesien in die Knie zwingen“

Die Zahl der deutschen Besucher geht nach dem Anschlag schlagartig zurück: Mehr als 270.000 Deutsche hatten im Jahr vor dem Attentat die Region in Südtunesien besucht, im Jahr danach sind es noch 120.000. Auch aus anderen Ländern gehen damals die Reservierungen zurück, erinnert sich Reiseunternehmer René Trabelsi, Sohn des Vorstehers der Synagoge. 
„Das war mitten in der Buchungszeit, kurz vor den Ferien. Die Leute hatten Angst. Die Drahtzieher des Anschlags wollten Tunesien in die Knie zwingen. Wir haben teuer bezahlt. Die jüdische Gemeinde auf Djerba ist bekannt. Das gute Zusammenleben mit der muslimischen Bevölkerung ist ein Symbol der Ko-Existenz.“
Ein Symbol, dessen sich Nizar Nawar nur allzu bewusst war. Seinem Onkel, der in Tunesien wegen Beihilfe beim Anschlag zu 20 Jahren Haft verurteilt wird, habe er gesagt, „er wolle sich an den Juden rächen und das palästinensische Volk unterstützen“, so heißt es in den französischen Ermittlungsakten. Die jüdische Gemeinde auf Djerba setzt dennoch alles daran, dass wenige Wochen später die jährliche Wallfahrt wie geplant stattfinden kann. 
„Es sind vielleicht 50 Pilger aus Frankreich angereist. Normalerweise empfangen wir Tausende. Dafür haben damals 300, 400 Polizisten die La Ghriba-Synagoge bewacht. Aber ich glaube, die Botschaft ist angekommen. Wir wollten der Angst, dem Terrorismus nicht nachgeben.“ 
Bis zum Tag des Anschlags war die Synagoge offen zugänglich, jüdische und muslimische Bewohner des nahegelegenen Dorfes gingen auf dem Weg zur Arbeit oder nach Hause durch das Gelände des Gotteshauses. Heute ist die Synagoge abgeriegelt. Besucher dürfen sie nur zu festen Zeiten betreten, müssen ihren Ausweis vorlegen, einen Metalldetektor passieren. Ein Dutzend Polizisten bewacht das Gebäude Tag und Nacht. Bei der jährlichen Pilgerfahrt kreisen Polizeidrohnen über den Gläubigen. Auch das jüdische Viertel in Houmt Souk, dem Hauptort Djerbas, steht unter Polizeischutz. 
Jüdische Pilger bei einer Prozession an der Ghriba-Synagoge
Gut zweieinhalb Wochen nach dem Anschlag: rund 1.000 jüdische Pilger fanden sich zu einer Prozession am 29. April 2002 an der Ghriba-Synagoge zusammen. (picture-alliance / dpa / Fethi_Belaid)

Viele Mitglieder der Gemeinde verhalten sich diskret. Über Probleme oder politische Fragen wollen sie nicht sprechen. Doch es gibt sie durchaus, berichtet René Trabelsi. Der Unternehmer und Sohn des Vorstehers der Synagoge war 2018 für anderthalb Jahre Tourismusminister seines Landes – der erste jüdische Minister in Tunesien seit den 50er Jahren, damals der einzige in der arabischen Welt. Er spricht offener als viele andere über die Schwierigkeiten, mit denen Juden im mehrheitlich muslimischen Tunesien konfrontiert sind. Mehrfach gab es seit den 1960er-Jahren Angriffe auf Mitglieder der jüdischen Gemeinde, in der Regel nach israelischen Angriffen auf Palästinenser. 1985 wurde dabei unter anderem ein Neffe Trabelsis getötet. Doch der Anschlag von 2002 habe die Gemeinde auf Djerba besonders nachhaltig verstört, meint Trabelsi.
„Seitdem herrscht Misstrauen. Selbst wenn man jemanden im Café sieht, den man nicht kennt, sagt man der Polizei Bescheid. Die Leute passen sehr auf, wen sie einstellen.“ 
Nach dem Anschlag von Djerba verschärft das Regime seine Antiterrorgesetzgebung. 2003 tritt ein neues, extrem repressives Antiterrorgesetz in Kraft. Tausende junge Leute landen im Gefängnis. Prävention wird völlig außer Acht gelassen, zugunsten eines rein sicherheitspolitischen Ansatzes, kritisiert der Politologe Hamza Meddeb.  
„Das Gefängnis ist in den 2000er Jahren eine Brutstätte für eine radikalisierte Jugend geworden. Diese ist nach der Revolution 2011 auch in der Öffentlichkeit sichtbar geworden.“ 

Konkrete Strategie der Prävention und Deradikalisierung fehlt

In Syrien und im Irak stellten die Tunesier in den letzten Jahren die größte Anzahl sogenannter Foreign Fighters, also ausländischer Kämpfer. Zwar sei inzwischen auch in Tunesien die Bedeutung von Prävention und Deradikalisierung ein Thema. Doch eine konkrete Strategie fehle nach wie vor, kritisiert Meddeb. Dass das Attentat auf die Synagoge 2002 ein Terroranschlag war und nicht etwa ein Unfall wird nach der Revolution endlich anerkannt. Reiseleiter Jamil Denguir trifft sich jedes Jahr am 11. April mit einigen Kollegen, um am Ort des Geschehens in kleinem Kreis der Verstorbenen zu gedenken. Zehn Jahre nach dem Anschlag waren auch der damalige deutsche und französische Botschafter sowie Präsident Moncef Marzouki zu Gast. Eine Gedenktafel erinnert an die Verstorbenen. Jamil Denguir:

„Wir wollten nur von einem Verantwortlichen hören, dass es ein Anschlag war. Der damalige Präsident hat es getan, öffentlich und eindeutig, direkt vor der Synagoge hat er sich entschuldigt und gesagt, dass es ein Attentat war. Das hat für uns viel geändert.“

Bettina Fischers Neffe Niklas ist heute 21 Jahre alt. 

„Ich bin eigentlich sehr, sehr glücklich über seinen Weg. Er macht im Moment ein duales Studium mit Pilotenausbildung und das ist jetzt etwas, was ich mir vor 20 Jahren eben so nicht hätte vorstellen können. Und er geht heute einen sehr selbstbewussten und guten Weg. Und das macht mich ein Stück weit stolz.“