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25. Todestag des Theologen Helmut Gollwitzer
Jeder Obrigkeit misstrauen

Er polarisierte wie kaum ein anderer deutscher Theologe im 20. Jahrhundert: Helmut Gollwitzer opponierte gegen das NS-Regime, ließ Rudi Dutschke bei sich wohnen und besuchte RAF-Terroristinnen im Gefängnis. Auch durch heftige Kritik von Kohl oder Strauß ließ er sich nicht beirren. Er starb am 17. Oktober 1993 - vor 25 Jahren.

Von Christian Röther |
    Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer während einer großen Friedensdemonstration mit violetten Tüchern gegen den Nato-Doppelbeschluss beim evangelischen Kirchentag im Juni 1983 in Hannover. In der NS-Zeit wurde Helmut Gollwitzer mit Redeverbot belegt, in den 68ern sahen viele linke Studenten in ihm eine Leitfigur. Gollwitzer betrieb Theologie nicht im akademischen Elfenbeinturm. Sein Leben lang hat er sich in die Politik eingemischt. Am 17.10.1993, starb der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer.
    Der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer während einer Friedensdemonstration beim evangelischen Kirchentag im Juni 1983 in Hannover (imago stock&people)
    Eine Gruppe Langhaariger sitzt in einem bürgerlichen Wohnzimmer und singt – dirigiert von Theologieprofessor Helmut Gollwitzer. Der Hausherr mit Halbglatze und Gitarre in der Hand ist damals Anfang 60.
    "Für mich ist das äußerst wichtig, dass ich das Leben der Studenten aus nächster Nähe sehe und an ihm teilnehme", erklärte Gollitzer im "Sender Freies Berlin".
    Deshalb lassen die Gollwitzers Ende der 60er Studierende in ihrem Haus in Berlin wohnen – darunter auch den Wortführer der Studentenbewegung Rudi Dutschke und seine Familie. Dutschke und Gollwitzer erinnern sich ein paar Jahre später im "Sender Freies Berlin" an diese Zeit.
    Rudi Dutschke: "Du warst ein Transmissionsriemen zwischen Generationen, die nicht zueinander mehr Kontakt fanden, die total versuchten, den Gegensatz zu entwickeln, beidseitig."
    Helmut Gollwitzer: "Ich bin sehr überzeugt, dass wir in einem tiefen Generationsbruch leben. Aber es ist doch nicht nur Generation!"
    Rudi Dutschke: "No! Es war nie nur ein reines Generationsproblem, es war auch politische Differenz."
    Helmut Gollwitzer: "Eben. Habt Ihr eigentlich gemerkt, dass ich mich dann unter Eurem Einfluss auch wieder entwickelt habe?"
    Rudi Dutschke: "Ich glaube, wer das nicht gesehen hat, hat nichts gesehen."
    "Ein Grundsatz der Demokratie ist Misstrauen gegen Obrigkeit"
    Politische Kämpfe prägen das Leben von Helmut Gollwitzer. 1908 in ein fränkisches Pfarrhaus geboren, studiert er Philosophie und evangelische Theologie, promoviert bei Karl Barth. Ab 1933 wendet sich Gollwitzer gegen die Hitler-treuen Deutschen Christen und schließt sich der widerständigen Bekennenden Kirche an. Nach der Pogromnacht 1938 hält er in Berlin-Dahlem eine viel zitierte Predigt, in der er Kirche und Gläubige scharf kritisiert.
    "Es steckt ja in uns allen, dass man erleben kann, wie biedere Menschen sich auf einmal in grausame Bestien verwandeln; wir sind alle daran beteiligt, der eine durch die Feigheit, der andere durch die Bequemlichkeit, die allem aus dem Wege geht, durch das Vorübergehen, das Schweigen, das Augenzumachen, durch die Trägheit des Herzens." (Gollwitzer-Predigt von 1938)
    In den folgenden Jahren hilft Gollwitzer einigen Juden bei der Flucht aus Deutschland. Er wird mehrmals verhaftet und erhält Redeverbot. Diese Erfahrungen prägen ihn sein Leben lang – Anfang der 80er blickt er im NDR zurück:
    "Auch innerhalb eines Systems, das man grundsätzlich bejahen kann – und ich meine natürlich, dass man unsere bürgerlich-parlamentarische Demokratie viel mehr bejahen kann als den Kaiserstaat oder den Nazistaat – auch in einem solchen System ist es Aufgabe der Christen, nicht nur Beifall zu klatschen und nicht der Obrigkeit zu vertrauen. Ein Grundsatz der Demokratie ist Misstrauen gegen Obrigkeit."
    "Gollwitzer hat wirklich an allen Demos teilgenommen"
    Im Zweiten Weltkrieg muss Gollwitzer als Sanitäter an die Ostfront. Nach Kriegsende bleibt er fast fünf Jahre in sowjetischer Gefangenschaft – und erhält danach eine Professur für Systematische Theologie in Bonn. Er engagiert sich gegen Atomwaffen und die Wiederaufrüstung der Bundeswehr. Das führt in der evangelischen Kirche zu erheblichen Konflikten. Gollwitzer wechselt an die Freie Universität Berlin – und opponiert auch hier, gegen das Wettrüsten oder den Vietnamkrieg.
    "Es kam dann die Zeit, wo sehr viel, also beinahe jede Woche eine Demonstration war. Und Gollwitzer hat wirklich an allen Demos teilgenommen. Er war wirklich einer von denen – vielleicht der einzige Professor eigentlich, der immer dabei war", sagt Gretchen Dutschke-Klotz. Die Witwe von Rudi Dutschke studiert Ende der 60er bei Helmut Gollwitzer Theologie. In der Studentenbewegung genießt der Professor hohes Ansehen, auch wenn viele mit dem Christentum nichts anfangen können.
    "Die meisten Studenten im SDS, die haben das nicht verstanden: 'Warum seid ihr überhaupt religiös?' Aber Gollwitzer haben sie alle gut gefunden, weil er immer dabei war, immer das Richtige gemacht hat."
    Die Historikerin Katharina Kunter erklärt dieses Phänomen so:
    "Helmut Gollwitzer hatte natürlich eine große Glaubwürdigkeit aufgrund seiner Vergangenheit, weil er als Teil der Bekennenden Kirche eben eine glaubwürdige Autorität auch für diejenigen Studenten war, die abschließen wollten mit dieser nationalsozialistischen Vergangenheit ihrer Elterngeneration. Und das gab ihm moralische Autorität, dass er eben nicht zu denjenigen gehörte, die das NS-Regime unterstützt haben."
    "Eine sehr politische Figur des Linksprotestantismus"
    Gollwitzer habe als Sozialist der Studentenbewegung politisch nahe gestanden, so Kunter:
    "Er hat ihre Anliegen vorbehaltlos solidarisch unterstützt und hat das eigentlich immer verbunden mit dem Aspekt, dass die evangelische Kirche in Frage gestellt werden muss – dass ihre Verfasstheit aus dem 19. Jahrhundert, ihr Nationalismus, ihre Angepasstheit im Nationalsozialismus durch diese neue Generation in Frage gestellt wird und dass das richtig ist. Ich denke, positiv kann man sagen: Er wollte eigentlich die evangelische Kirche von innen demokratisieren und hat dieses Anliegen auch in der Studentenbewegung wiedergefunden."
    In der Kirche allerdings macht sich Gollwitzer damit nicht allzu viele Freunde – besonders in der westdeutschen EKD, sagt Katharina Kunter:
    "Da war man natürlich doch ein bisschen distanzierter zu alldem, was in Westberlin stattfand und konnte vielleicht mit einer Person wie Gollwitzer auch gar nicht so viel anfangen, so dass er da sicherlich eine Figur war, die außerhalb des kirchlichen evangelischen Mainstreams stand und allenfalls als eine sehr politische Figur des Linksprotestantismus wahrgenommen wurde."
    "Oben zu stehen und nach unten zu schauen – verächtlich nach unten schauen zu können. Darauf beruht unsere ganze Gesellschaftsordnung. Dadurch werden Leistungen hervorgerufen." (Gollwitzer-Predigt von 1971)
    Kapitalismuskritik von der Kanzel – Helmut Gollwitzer 1971 in Berlin-Dahlem. Sein politisches Engagement ist theologisch motiviert: Durch Jesus Christus habe die Revolution Gottes in der Welt begonnen – und an der müssten alle Christen mitwirken. Das lehrt Gollwitzer auch seine Studierenden wie Gretchen Dutschke-Klotz:
    "Er hat, denke ich, wirklich ernst genommen diesen Teil: Dass man den Nachbarn lieben soll, bedeutet, dass man die Menschheit lieben soll und dafür sich einsetzen soll, dass es den Menschen besser geht."
    "Riesenwut auf diese ganzen Terroristen"
    Mit seinem christlichen Sozialismus handelt sich Gollwitzer in der Bundesrepublik der 70er auch viel Ärger ein – denn das Land wird erschüttert von der linksterroristischen RAF.
    "Wer, meine Damen und Herren, wie Professor Gollwitzer die Motive terroristischer Bandenverbrecher als Ausdruck gesellschaftskritischer Haltung verständlich zu machen versucht, der kann sich auch nicht an der Mitschuld für die Verwirrung moralischer Maßstäbe und deren Folgen wieder lossprechen", sagt CSU-Politiker Franz Josef Strauß 1978.
    Auch die andere C-Partei zielt mit heftiger Kritik auf den Theologen – der wehrt sich im "Hessischen Rundfunk":
    "Helmut Kohl weiß genau, dass ich kein Sympathisant des Terrors bin, und Franz Josef Strauß ebenfalls. Sie haben wider besseres Wissen dies alles gesagt. Ich habe eine Riesenwut auf diese ganzen Terroristen, wegen allem, was sie uns in den Weg leiten an Verderbung unseres freiheitlichen Rechtsstaats, an dem ich brennend interessiert bin."
    Trotzdem hatte Gollwitzer zuvor zwei RAF-Terroristinnen nicht aufgegeben: Gudrun Ensslin und Ulrike Meinhof. Er schreibt ihnen Briefe und besucht sie mehrfach im Gefängnis, will sie abbringen vom Weg der Gewalt. Ensslins Vater Helmut kennt Gollwitzer noch aus der Bekennenden Kirche. Doch die Pfarrerstochter lässt sich nicht umstimmen, nennt Gollwitzer einen "Staatspfaffen".
    "Gudrun war ein so unerhört charaktervoller, ein ganz idealistischer Mensch. Für sie war es wichtig, immer die radikalsten Konsequenzen zu ziehen und die eigene Person für nichts zu achten, sondern sich aufzuopfern für das große Ganze. Und genau dieser Idealismus war ihr Verhängnis", erinnert sich Helmut Gollwitzer 1988 im "Sender Freies Berlin", fünf Jahre vor seinem Tod.
    Der evangelische Theologe hat viele der Bitterkeiten des 20. Jahrhunderts miterlebt – und galt trotzdem – oder vielleicht auch gerade deswegen – bis ins hohe Alter als begeisterter Sänger.