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70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention
"Die Angst vor einer Massenmigration ist völlig irrational"

Es gelänge derzeit kaum noch jemandem, Schutz in einem anderen Land zu finden, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus im Dlf. Die Genfer Flüchtlingskonvention sei im Koma. Stattdessen suggerierten "irreführende" Zahlen, dass Millionen Menschen auf der Flucht seien. Diese Zahlen würden politisch ausgenutzt.

Gerald Knaus im Gespräch mit Moritz Küpper | 28.07.2021
Ein Kind fährt vor Zelten auf einem für ihn zu großen Fahrrad, unweit steht ein kleineres Kind und schaut dabei zu
Wer im Flüchtlingslager Kara Tepe auf Lesbos hat es nach Europa geschafft – viele Menschen könnten ihr Land aber gar nicht mehr verlassen, so Migrationsforscher Knaus (picture alliance/ANE/Eurokinissi/Panagiotis Balaskas)
Die Genfer Flüchtlingskonvention wurde am 28. Juli 1951 verabschiedet und ist die Grundlage des internationalen Flüchtlingsrechts. Eigentlich garantiert sie Menschen Schutz und Aufnahme, die in ihrem eigenen Land verfolgt werden. Das Problem der Flüchtlingskonvention sei jedoch, dass sie nicht angewendet werde, sagt der Migrationsforscher Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative (ESI) am 70. Jahrestag der Unterzeichnung der Konvention im Dlf. Immer mehr Staaten der europäischen Gründungsväter der Flüchtlingskonvention wendeten sich davon ab. Darauf benötige es politische Antworten.
70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention - Wenn Schutz an Grenzen stößt
Die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951 räumt Geflüchteten in allen Unterzeichnerstaaten Schutz ein, zumindest auf dem Papier. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Europa schottet sich ab.
Auch bestünden wesentliche Probleme in der Kommunikation auch vonseiten der UN-Flüchtlingshilfe. Zahlen wie in dem letzten UNHCR-Jahresbericht von zuletzt 80 Millionen Geflüchteten seien irreführend. Man sehe daran nicht die geringe Zahl von Menschen, denen es überhaupt gelinge "über Grenzen hinaus in einen anderen Staat zu kommen und dort Schutz zu finden." Die Zahlen umfassten Menschen, die entweder schon vor Jahrzehnten geflohen sind, "oder sie – und das ist die größte Zahl – befinden sich im eigenen Land, können es nicht verlassen", so Knaus. Die Angst vor einer Massenmigration sei deshalb irrational und werde vor allem von Populisten verwendet.
Ein wahres Geschenk für die Flüchtlingskonvention wäre aus Sicht des Migrationsforschers ein verstärktes Resettlement. Dabei nehmen Erstaufnahmeländer Flüchtlinge aus und verteilen sie auf andere Länder weiter, "ohne dass sie sich lebensgefährlichen Wegen und Schleppern anvertrauen müssen, das müsste man ausbauen." Deutschland könnte dabei eine wichtige Rolle spielen.

Das Interview in ganzer Länge

Moritz Küpper: 70 Jahre Genfer Flüchtlingskonvention, ist das heute ein besonderer Tag, ein Tag, auf den man stolz zurückschauen kann?
Gerald Knaus: Ein besonderer Tag ist das auf jeden Fall, denn diese Konvention hat etwas in die Welt gesetzt, das tatsächlich bis dahin nicht bestand: ein Recht, das nicht davon abhängig war, ob es ein Jude oder Christ, ein Europäer oder Afrikaner war, der Schutz sucht, sondern ob es sich um einen Menschen handelt, der begründete Furcht vor Verfolgung hat, also universelle Kriterien.
Das echte Problem ist – das wurde in Ihrem Beitrag schon angesprochen -, dass sie von den meisten Staaten der Welt heute nicht angewendet wird, dass es Staaten gibt, die sie unterschrieben haben, aber trotzdem keinen Schutz vergeben seit Jahrzehnten wie Japan, dass es Staaten gibt, die Menschen trotzdem an den Grenzen ohne jedes Verfahren zurückstoßen, mittlerweile auch einige Länder in der EU, und dass die Zahl der Länder, die sie tatsächlich auch anwenden und Schutz vergeben nach diesen Kriterien, in den letzten Jahren immer kleiner geworden ist. Das ist die wahre Krise.

Knaus: Flüchtlingskonvention liegt im Koma

Küpper: Zum Feiern ist nicht zumute?
Knaus: Leider nicht. Und was beunruhigend ist, ist die Konzeptlosigkeit von vielen, die eigentlich Flüchtlingsrechte verteidigen wollen, denen aber nicht mehr sehr viel mehr einfällt derzeit als zu beklagen, dass immer mehr Staaten – und im letzten Jahr haben wir es gesehen – auch immer mehr der europäischen Gründerväter und Mütter der Flüchtlingskonvention sich davon abwenden.
Wir hören in Österreich einen Innenminister, der sagt, das Ziel ist null Asylsuchende in Österreich. Wir hören das gleiche aus Dänemark. Wir hören das gleiche aus dem Vereinigten Königreich. Australien hat seit acht Jahren, genau acht Jahren jetzt eine sehr harte Politik, wo niemand mehr Australien irregulär erreichen kann. In den Vereinigten Staaten wird die Politik von Donald Trump an der Grenze zu Mexiko de facto weitergeführt.
Die Gründerstaaten, die diese Konvention mit ins Leben gerufen haben, wenden sich ab, und darauf muss man Antworten finden und diese Antworten müssen politisch sein, denn ohne Mehrheiten in Demokratien, die sehen, wie wichtig es wäre und dass es möglich ist, diese Konvention zu schützen, wird sie, so wie leider derzeit, weiterhin im Koma liegen.
Porträt des Migrationsexperten Gerald Knaus
Migrationsexperte Gerald Knaus (European Stability Initiative/Francesco Scarpa)
Küpper: Woran liegt es denn, dass die Grenzen überall (und sei es nur rhetorisch) hochgehen?
Knaus: Ja, leider nicht nur rhetorisch. Und ich sehe hier auch ein Problem der Kommunikation auch von Seiten von Organisationen wie dem UNHCR. Diese Zahl der 80 Millionen Geflüchteten, die wir vor einigen Wochen und in dem Jahresbericht wieder gehört haben, ist zutiefst irreführend, denn was man daran nicht sieht und was die Zahlen des UNHCR zeigen, ist die Zahl der Menschen, denen es in den letzten vier Jahren gelang, über Grenzen hinaus in einen anderen Staat zu kommen und dort Schutz zu finden. Die ist in den letzten vier Jahren weltweit von 20 Millionen auf 20,7 Millionen gestiegen, knapp 700.000, und darunter sind sehr, sehr viele, die als Kinder in der Türkei oder in Deutschland als Kinder von Flüchtlingen geboren wurden.
Es gelingt derzeit kaum noch jemandem, Grenzen zu überschreiten, um Schutz zu finden, weltweit. Stattdessen haben wir aber eine Debatte, die von 50, 80, 100 Millionen Menschen auf der Flucht spricht. Tatsächlich sind die meisten dieser Menschen entweder schon vor Jahrzehnten geflohen, oder sie – und das ist die größte Zahl – befinden sich im eigenen Land, können es nicht verlassen. Die Angst vor einer Massenmigration von Flüchtlingen ist vollkommen irrational, aber sie wird leider von vielen Populisten dazu verwendet, in Amerika, in Europa und anderswo den Festungen das Wort zu reden und zu sagen, nur mit Brutalität müssen wir auch kleine Zahlen, um die es wirklich geht, mit aller Kraft daran hindern, unsere Länder zu erreichen.

"Resettlement muss man ausbauen"

Küpper: Aber warum verwendet das UNHCR unter anderem dann diese Zahl von über 80 Millionen Menschen auf der Flucht?
Knaus: Ich vermute, es geht darum – und das ist eine gute Intention -, dem Thema Aufmerksamkeit zu geben. Aber tatsächlich blicken wir doch auf die Zahlen für Europa. In den letzten vier Jahren ist es kaum noch jemandem gelungen, als Flüchtling Europa zu erreichen. Wenn in Deutschland heute Asylanträge gestellt werden, sind das in den allermeisten Fällen Menschen, die schon seit einigen Jahren in Europa sind. Im gesamten Mittelmeer kamen in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um die 35.000 irregulär nach Europa, darunter Tunesier, Marokkaner, Bangladeschis, die am Ende nicht anerkannt werden als Flüchtlinge. Ich halte das für einen Versuch, einen verzweifelten Versuch, Aufmerksamkeit auf ein Thema zu lenken, der aber tatsächlich eine falsche Botschaft transportiert.
Die echte Botschaft müsste sein, die Flüchtlingskonvention hindert ihre Unterzeichner daran, Menschen an Grenzen zurückzustoßen ohne Prüfung. Das ist in Gefahr, heute mehr denn je. Darauf muss man sich konzentrieren, Menschen in Demokratien zu überzeugen, das nicht zu tun. Und die Flüchtlingskonvention verpflichtet ihre Unterzeichner, weltweit Staaten zu helfen, die Leute, Flüchtlinge aufnehmen. Das ist die 2018 in New York verabschiedete Deklaration der Generalversammlung.
Dazu muss man aber den Erstaufnahmeländern systematisch besser helfen und man muss das Resettlement, was ja auch in den 50er-Jahren bei den Ungarn-Flüchtlingen schon groß angewandt wurde, das legale Aufnehmen von Flüchtlingen aus Erstaufnahmeländern und Verteilen, ohne dass sie sich lebensgefährlichen Wegen und Schleppern anvertrauen müssen, das müsste man ausbauen. Das wäre das wahre Geschenk für die Flüchtlingskonvention und realistisch sehen, wo wir heute stehen. Leider ein großartiges Dokument, aber kein Grund zum Feiern.
Küpper: Das, was Sie gerade skizziert haben, wie realistisch wäre das denn? Oder sind das idealistische Wünsche zum 70. Geburtstag?
Knaus: Ich halte das tatsächlich für realistisch. Nehmen wir das Resettlement.
Wie Flüchtlinge zum Sicherheitsrisiko gemacht werden
Die Flüchtlingspolitik der EU setzt in erster Linie auf Abschreckung und schnelle Abschiebung. Der Umgang mit Asylsuchenden ist über Jahre von einer humanitären Aufgabe zu einer Frage der inneren Sicherheit gemacht geworden – mit schwerwiegenden Konsequenzen.

"Hoffnung liegt auf der nächsten deutschen Bundesregierung"

Küpper: Wer müsste denn da aktiv werden?
Knaus: Eine große Hoffnung liegt auf jeden Fall auf der nächsten deutschen Bundesregierung. Deutschland hat in den letzten Jahren sehr vielen Menschen Schutz geboten. Das waren Ausnahmejahre, das war eine große Herausforderung. Wenn Deutschland jetzt sagen würde, man nimmt, sagen wir, jedes Jahr 40.000 Flüchtlinge auf in einem Resettlement-Programm, dann wäre das sehr viel weniger als in den letzten Jahren spontan kamen. Wenn Deutschland aber Frankreich und andere Europäer überzeugt und sich mit Kanada und den Vereinigten Staaten unter Präsident Biden zusammentut, dann wäre man schnell bei 250.000 bis 300.000 Flüchtlingen, die jedes Jahr, ohne ihr Leben zu riskieren, Schutz erhielten.
Das könnte man ausbauen, wenn da eine deutsche Bundesregierung vorangeht, gleichzeitig sagt, man will die lebensgefährliche irreguläre Migration reduzieren, allerdings ohne sich auf libysche Milizen zu stützen, aber durch Kooperation mit Herkunftsländern oder Transitländern, denen etwas anbieten, dafür nehmen die Leute zurück, die irregulär kommen.
Das Ziel muss sein, dass die, die Schutz brauchen, weltweit nicht vor verschlossenen Grenzen stehen und dass die Staaten, denen das ein Anliegen ist, sich hier weltweit engagieren. Ich glaube, die nächste deutsche Bundesregierung könnte hier wirklich ein Zeichen setzen, gemeinsam mit Verbündeten. Es gibt natürlich zum Glück noch andere Demokratien. Kanada ist ein Beispiel. Schweden ist ein Beispiel. Dort werden jedes Jahr 5.000 Menschen durch Resettlement aufgenommen, so viele wie in Deutschland, obwohl Deutschland achtmal größer ist.

"In der Türkei droht die Stimmung zu kippen"

Küpper: Schauen wir noch auf die aktuelle Situation, auf die aktuellen Herausforderungen. Ich habe es bereits angesprochen, das EU-Türkei-Abkommen aus dem Jahre 2016, Geld, auch Hilfe gegen Kontrolle von Flüchtlingen. So lautet ja in etwa der Deal. Das ganze basierte damals auf den Flüchtlingsbewegungen vor allem aus Syrien. Jetzt droht auch in Afghanistan eine ähnliche Lage. Wie belastbar ist das Ganze, oder wie wird sich das Ihrer Prognose nach entwickeln?
Knaus: Die erste Frage – und Sie haben es ja auch angedeutet -, es ging tatsächlich darum, Hilfe für das Erstaufnahmeland Türkei zu mobilisieren. Denn von den zehn Millionen zusätzlichen Flüchtlingen in den letzten zehn Jahren weltweit, die aufgenommen wurden, wurde ein Drittel in der Türkei aufgenommen. Dieses eine Land hat ein Drittel allen Flüchtlingsschutzes geboten, weltweit in den letzten zehn Jahren.
Dass die Türkei dafür natürlich berechtigterweise sagt, die Kosten sinken ja nicht, die Zahl der Flüchtlinge wächst weiter, allein durch Geburten, wir brauchen Hilfe, dass da die Europäische Union 2016 reagiert hat, indem sie drei Dinge zugesagt hat – erstens, dass sie an ihren Grenzen mit der Türkei Menschen nicht zurückstoßen wird ohne Verfahren; das steht in der Erklärung, daran hält sich die EU aber leider heute nicht mehr; die Türkei nimmt Leute zurück, aber nur nach einer Prüfung in der EU, zweitens, dass die Europäische Union der Türkei für vier Jahre sechs Milliarden Euro zugesagt hat; dieses Geld ist verplant, jetzt ist die Frage, …
Küpper: Ist es denn auch geflossen?
Knaus: Das Geld ist zum Großteil geflossen und fließt derzeit noch. Aber es werden kaum noch neue Projekte geplant. In der Türkei droht die Stimmung zu kippen - das Land mit den meisten Flüchtlingen der Welt. Es ist extrem wichtig, dass die Aufnahmegemeinden dort sehen, dass sie nicht allein gelassen werden. Hier müsste die Europäische Union auf jeden Fall ein weiteres Angebot machen – nicht um Geld dem türkischen Staat zu geben, sondern so wie in den letzten Jahren für Gesundheit, Bildung und Sozialhilfe für Flüchtlinge für Flüchtlinge investieren.
Das dritte ist aber auch das Versprechen gewesen, aus der Türkei Flüchtlinge durch Resettlement aufzunehmen, besonders Schutzbedürftige. Deutschland hat das gemacht, viele Staaten nicht, aber man müsste sich gerade vor der Perspektive, dass in der Türkei der Druck auch der Opposition auf die Regierung wächst – man hört seit Tagen immer wieder, wie der Oppositionschef darüber redet, man müsse die Syrer alle zurückschicken, was nicht passieren wird nach Syrien – hier weiterzuhelfen. Was die Afghanen betrifft, ist vollkommen klar: Noch gibt es diese große Flüchtlingswelle oder diese schreckliche hydraulische Metapher Flüchtlingsströme nicht.
Historiker: Flüchtlinge haben dauerhaft keine nachhaltige Lobby
Der Konflikt zwischen den ermeintlich Sesshaften und den zur Flucht gezungenen beschäftigt uns seit der Bibel, sagte der Historiker Andreas Kossert im Dlf. Flüchtlinge müssten endlich als "Subjekte der Geschichte" ernstgenommen werden.
Küpper: Aber die Lage ist kritisch und es könnte sich sehr bald ändern.
Knaus: Aber es könnte sehr bald dazu kommen, dass sehr viele Menschen Afghanistan verlassen müssen, und darauf sollte man sich vorbereiten – ohne falsche Panik, ohne von Massen zu reden, die in Bewegung sind, die es noch nicht gibt, aber in der Erwartung, dass es dazu kommen könnte. Da haben wir ein Vorbild. Das Vorbild war: Nach dem Ende des Vietnam-Krieges hat man zunächst vernachlässigt, dass es viele Menschen in Vietnam gab, die fliehen mussten. Dann kam es zu den hunderttausenden Bootsflüchtlingen in die Nachbarländer Vietnams. Die haben dann gesagt, wir lassen niemanden mehr herein, wir verwenden das Militär, um die Boote zurückzustoßen. Das war 1979. Dann gab es eine UN-Konferenz und eine Koalition von Staaten, angeführt von den USA, aber Deutschland hat sich beteiligt, die den Nachbarländern gesagt haben, nehmt die Leute auf und wir machen dann Resettlement – eine Strategie, die wir jetzt vielleicht bei Afghanistan leider auch bald brauchen werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.